„Klarer sieht, wer von fern sieht“ – Franz Schürholz’ wieder aufgefundene Lebenserinnerung aus acht Jahrzehnten. Ein prominentes Leben in Dorsten, Berlin und am Bodensee

Von Wolf Stegemann

Als Dr. Franz Schürholz auf Grund seines Alters sein Lebenswerk beendet sah, blickte er zurück auf sein Leben, das in Dorsten begann, in Berlin sicherlich einen politischen Höhepunkt hatte und dann am Bodensee bis zu seinem Tod weiterging. Im Alter fühlte er sich isoliert. Vielleicht war dies der Anlass, über sein Leben nachzudenken und es aufzuschreiben. So entstanden 160 mit Schreibmaschine vollgeschriebene Seiten, die – und ein paar Kopien – in gedruckter Form zu Büchern zusammengebunden wurden. Warum machte er das? Er gibt im Vorwort des Buches „Klarer sieht, wer von fern sieht“ Antwort:

„Ich bin im neunten Jahrzehnt meines Lebens, also ein aus der Aktivität des Alltags Ausgeschiedener, am Straßenrand stehender Beobachter. Wer den Anforderungen der Gegenwart entrückt ist, hält sich eher in der Vergangenheit auf, möchte sich Rechenschaft über das gelebte Leben geben, auch seine Kinder und Freunde wissen lassen, warum der Daseinsabschnitt so und nicht anders abgelaufen ist. Gewiss, niemand ist sicher, dass die Darstellung dem hohen Anspruch der Wahrheit immer gerecht wird, ob etwa die Gewichte im Rekonstruieren richtig verteilt wurden. Selbst dem heiligen Augustin soll das in seinen Confessionen nicht ganz gelungen sein. Doch zum Versuch dazu fühle ich mich gedrängt. Schließlich hat das Schicksal einer Generation, deren aktivste Lebenszeit von dem Gefordertsein in zwei Weltkriegen voll in Anspruch genommen wurde, einen Aussagewert. Was soll denn das armselige Wort schon heiß: ,Was vergangen ist, bleibt vergangen, wenn die in einer Zeitperiode vorherrschend gewesenen Anschauungen, Aufgaben und Bewältigungsmühen für Gegenwart und Zukunft stets einen gewissen Modellcharakter besitzen, das Wissen darüber jedem herausgreifendem Leben dienlich sein kann?“ Weiterlesen

Veröffentlicht unter Das Porträt, DeKoWe, Familien, Geschichte, Hervest | Verschlagwortet mit , , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Partnerstadt Hainichen: Blick ins Brigadebuch der dortigen Kreis- und Stadtbibliothek kurz vor der Wende. Kinder sollten mit sowjetischer Literatur sozialistisch beeinflusst werden

Stadtbibliothek Hainichen heute

Von Wolf Stegemann

25. Februar 2021. – Als im Jahr 1991 der Wulfener Gesamtschullehrer Jens Rohde mit seiner Schulklasse in Dorstens neue Partnerstadt Hainichen in Sachsen besuchte, bekam er von der dortigen Stadtbibliothek ein Buch überreicht, auf dessen Einband „Brigadebuch“ steht. Beim ersten Durchblättern hat man den Eindruck, dass dieses Buch ein von Kindern gefertigtes Album ist. Doch bei näherer Beschäftigung mit den Inhalten erfährt der Leser, dass er ein Buch in Händen hält, das die Geschichte der letzten drei DDR-Jahre auf höchst eigenwillige Art darstellt. Erkennbar wird, wie die DDR-Behörden in diesen letzten Monaten versucht haben, über die volkseigene Kreis- und Stadtbibliothek Hainichen Kinder über sowjetischen Lesestoff propagandistisch für die Sowjetunion zu gewinnen. Daher ist dieses Buch ein wichtiges Dokument. Der Wulfener Gesamtschullehrer hatte dieses Buch fast 30 Jahre lang im Regal. Erst zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung übergab er es im September 2020 dem Wulfener Stadtbibliothekar Christian Gruber, der das Buch nun an Dorstens Partnerstadt Hainichen für deren Archiv zurückgibt. Nimmt der Leser das „Brigadebuch“ des Kollektivs zur Hand, wird er erkennen, wie für den Leser oft unverständlich die Texte der offiziellen politisch-propagandistischen Forderungen formuliert sind und wie das Hainichener Kollektiv darauf reagierte: Weiterlesen

Veröffentlicht unter Städtepartnerschaft, Zurückgeblättert | Verschlagwortet mit , , | Hinterlasse einen Kommentar

Bei Festen wurde immer gezecht und gefuttert – und die Stadt zahlte. Die Besuche der Landesfürsten kamen die Stadt immer teuer zu stehen

Von Wolf Stegemann

18. Februar 2021. – Städte wie Dorsten haben eine lange und lebendige Tradition ihrer Festgebräuche. Ein Blick in die vergangenen Jahrhunderte der Stadt genügt, um festzustellen, dass die Dorstener es schon immer verstanden haben, Feste zu feiern. Das nun seit 1977 veranstaltete Altstadtfest knüpft an die Tradition früherer Zeiten an. Dokumente geben ein interessantes und lebendiges Bild ab, wie es in Dorsten und seiner Umgebung  damals  mit dem festlichen Treiben aussah. Ein ehemals gefeiertes patriotisches Fest der Dorstener war die Streitfeier, die anlässlich der Besiegung der Merfelder kurz vor Weihnachten von 1382 bis 1771 gefeiert wurde; ab 1588 zusammen mit dem Fest zur Erinnerung an den Sieg über den protestantischen Feldherrn Graf Oberndorf im Februar 1588 kirchlich und weltlich (Hochamt, Prozession, Bankett, Spende an die Armen). Wenn der Landesfürst kundtat, in Dorsten verweilen zu wollen, schreckte das den Rat der Stadt, denn mit diesen Besu­chen wurde die Stadt kräftig zur Kasse gebeten. So im Jahre 1509: 1 Fuder Wein, 12 Hammel, Honorare für Beamte, Musikanten und Boten 50 bis 60 Goldgulden. Mit einem Feuerwerk aus sechs Teertonnen und Pechkränzen ehrte die Stadt im Jahre 1715 ihren Landesherrn. Die Dorstener Junggesellen wurden mit 1 Tonne Bier be­schenkt. Bälle und Aufmärsche, Essen und Trinken waren immer mit dem Besuch der Landesherr­lichkeit verbunden (1746, 1750, 1784). Das kostete viel Geld, und die Stadt konnte nur selten ihren „Tribut“ verweigern. Weiterlesen

Veröffentlicht unter Alkohol, Feste und Feiern, Kirchliches, Volksbräuche | Verschlagwortet mit , , , | 1 Kommentar

Das Porträt: Elisabeth Gräfin von der Schulenburg. Als Ursulinennonne Sr. Paula, als Künstlerin, Ehrenbürgerin und Autorin Tisa – Ihr 20. Todestag am 8. Februar 2021

Gerd Ruge und seine Tante Tisa von der Schulenbburg, 1994 in Dorsten; Foto: Wolf Stegemann

Gerd Ruge und seine Tante Tisa von der Schulenburg, 1994 in Dorsten; Foto: Wolf Stegemann

Von Wolf Stegemann

6. Februar 2021. – Am 8. Februar 2021 jährt(e) sich zum 20. Mal der Todestag der Nonne, Künstlerin und Ehrenbürgerin Elisabeth (Tisa) Gräfin von der Schulenburg bzw. Sr. Paula. Eigentlich sollte an diesem Tag auf dem Gelände der früheren Zeche Fürst Leopold in Hervest ein Tisa-Archiv eröffnet werden, doch der Umbau des Hauses wurde nicht rechtzeitig fertig. Daher wurde die Eröffnung auf den Sommer verschoben. Tisa von der Schulenburg wurde 1903 in Tressow, unweit von Wismar, geboren und lebte von 1952 bis zu ihrem Tod als Sr. Paula im Ursulinenkloster in Dorsten. Als Künstlerin nahm sie den Namen „Tisa“ an. Von Geburt Gräfin, aus Berufung Künstlerin und aus Überzeugung Nonne war Sr. Paula, vormals geschiedene von Barner, davor geschiedene Hess und davor geborene Gräfin Elisabeth Karoline Mary Margarete Veronika von der Schulenburg, eine höchst ungewöhnliche Frau, die annähernd ein volles Jahrhundert gelebt und fast das gesamte 20. Jahrhundert mit seinen Brüchen und Verwerfungen erlebt hatte. Daher zeichneten persönliche und existenzielle Brüche auch ihr Leben. Nach Dorsten kam sie schon Ende der 1940er-Jahre. Sie wählte die Stadt, weil hier – im Kreis Recklinghausen – ihr Bruder Fritz-Dietlof Anfang der 1930er-Jahre gelebt hatte. Sie wohnte „als Ostflüchtling“ im Pfarrhaus von St. Agatha, wo sie katholisch wurde, und schnitzte für die Pfarrei aus den jahrhundertealten Balken des kriegszerstörten Rensingschen Hauses einen Kreuzweg. In der (unveröffentlichten) Agatha-Chronik ist unter dem 6. November 1949 nachzulesen:

„Im katholischen Arbeiterverein sprach die Konvertitin Gräfin von der Schulenburg über die Lage der englischen Arbeiterschaft. Ihre lebendigen Schilderungen – sie hat lange in England zugebracht – wurden mit großem Interesse entgegengenommen. Sie ist Bildhauerin.“ Weiterlesen

Veröffentlicht unter Das Porträt, Ehrenbürger/in, Schulenburg | Verschlagwortet mit , , | Hinterlasse einen Kommentar

27. Januar 1945 – Befreiung des KZ Auschwitz. Angehörige vieler Dorstener jüdischer Familien wurden in Auschwitz ermordet. In Schulen wenig Kenntnis über den Nationalsozialismus

Eingangstor des Konzentrationslagers Auschwitz

Von Wolf Stegemann

25. Januar 2021. – Die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 durch Abteilungen der Sowjetarmee setzte dem KZ Auschwitz als größtem nationalsozialistischen  Konzentrations- und Vernichtungslager ein Ende und brachte etwa 7000 im Lager zurückgelassenen kranken Häftlingen die Freiheit. Für die große Schar der schon früher von Auschwitz nach Deutschland evakuierten Häftlingen bedeutete die Befreiung die Ankündigung der nahenden Freiheit. Der 27. Januar 1945 schloss jedoch die Geschichte des KZ Auschwitz nicht ab. Geblieben sind die Erinnerungen ehemaliger Häftlinge der deutschen Verbrechen in Auschwitz in den Akten der nachfolgenden Auschwitzprozesse, Erinnerungen in den Medien und der Literatur. Zur Mahnung erinnert dieser Gedenktag. Für die Welt wurde Auschwitz zum Symbol der nationalsozialistischen Verbrechen der Deutschen. Wer das Lager besucht, mag sich stören an den polnisch-touristischen Effekten vor dem Lagereingang, wer es dann verlässt, ist erschüttert von dem, was er dort gesehen und erfahren hat. So erging es auch 1994 Stadtdirektor Dr. Zahn und dessen Frau zusammen mit dem damaligen Geschäftsführer des Jüdischen Museums, Wolf Stegemann (Foto), die nach Auschwitz fuhren und dort Blumen niederlegten zum Gedenken an die in Konzentrationslagern ermordeten Dorstener Juden. In Auschwitz wurden Angehörige der Familien Metzger, Joseph, Perlstein, Schöndorf, Moises und Lebenstein ermordet. Die Rückfahrt mit dem Taxi von Auschwitz nach Rybnik, Dorstens polnischer Partnerstadt, verlief dann schweigend, so sehr hatte Auschwitz sie emotional mitgenommen. – Das Foto zeigt Dr. Zahn (l.) und W. Stegemann beim Rundgang in Auschwitz. Weiterlesen

Veröffentlicht unter Geschichte, Jüdisches, Nationalsozialismus, Zurückgeblättert | Verschlagwortet mit , , | Hinterlasse einen Kommentar

1921 – Erstmals machten zwei Dorstenerinnen vor hundert Jahren das Abitur: Josefa Möller und Mathilde Frank setzten damit einen Meilenstein

Gymnasium und Oberrealschule in Schwarzburg-Oberhausen

Von Wolf Stegemann

19. Januar 2021. – Sieht man auf die von Politikern stets propagierte Chancengleichheit von Männern und Frauen und blickt man in die Vergangenheit und die noch recht stolpernde Entwicklung in der Gegenwart, dann ist Schulterzucken angesagt. Da braucht man nur in den Dorstener Stadtrat zu schauen, in dem die Frauen in absoluter Minderzahl sind. Und blickt man in die Rechtsgeschichte, dann durften Frauen ab 1899 in Preußen wohl das Abitur machen, aber erst ab 1908 studieren. Allerdings durften Frauen mit ihrem erworbenen Wissen ohne Erlaubnis ihres Ehemannes nicht arbeiten. Erst ab 1977.
Das 19. Jahrhundert gilt in der deutschen Bildungsgeschichte als „Jahrhundert der Bildung und der Gebildeten“. Doch von den wachsenden Bildungschancen der Jungen waren die Mädchen grundsätzlich ausgeschlossen. Der Schulbesuch hatte sich traditionell am zukünftigen Beruf der Söhne zu orientieren und wurde den Arbeitserfordernissen der Familienökonomie untergeordnet. Eine Grundbildung in der Volksschule bei Bauern- und Handwerker-Familien und eine höhere Bildung bei anderen Familien sah man für das Berufsziel Hausfrau als ausreichend an. 1896 konnten erstmals sechs Frauen in Preußen am Luisen-Gymnasium Berlin ihre Reifeprüfung ablegen; studieren durften sie aber damit nicht, dazu bedurfte es einer ministeriellen Sondergenehmigung. Nur zögerlich gelang den Frauen der Schritt hinein in die Universitäten. Ab 1895 konnten angehende Oberlehrerinnen in Preußen – zuerst bis 1900 nur als Gasthörerinnen – Vorlesungen besuchen. Weiterlesen

Veröffentlicht unter Abitur 1921, Schulentwicklung, Schüler, Schulpolitik | Verschlagwortet mit , , | Hinterlasse einen Kommentar

Das Porträt: Wolfgang-Eberhard Kipp – studierter Musiker, Musikalienhändler, Zeitungsredakteur und erster hauptamtlicher und professioneller Pressesprecher im Dorstener Rathaus

Pressesprecher Wolfgang-Eberhard Kipp (l.) und WAZ-Redaktionsleiter Ewald Setzer, um 1988, Recklinghäuser Straße; Foto: Frank Vinken

Von Wolf Stegemann

7. Januar 2021. – Er wurde 1929 in Berlin geboren und starb 1989 in Dorsten. Kipp war Musiker, Musikalienhändler, Redakteur und zuletzt erster hauptamtlicher und professioneller Pressesprecher der Stadt Dorsten von 1978 bis 1989. – Als Sprecher der Stadtverwaltung pflegte er gegenüber der Presse mitunter einen Stil, der nicht amtlich-bürokratisch war und daher dem Lokaljournalismus sehr entgegenkam. Bei Kipp hatte das aber auch eine zweite Seite – wie sie jede Medaille hat, so ein geflügeltes Wort. Wenn über die Lokalpolitik oder die Verwaltung im Rathaus etwas geschrieben wurde, was ihm persönlich nicht behagte, dann reagierte  er entsprechend auch persönlich. 1984 erschien beispielsweise in den Ruhr-Nachrichten (heute Dorstener Zeitung) eine Glosse, die sich gegen die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an drei Ratsherren von drei Parteien richtete, die im Rat 20 Jahre abgesessen hatten. Ungeachtet ihrer persönlichen Verdienste erhielten sie pro forma den damals in solchen Fällen auch despektierlich genannten „Sitzfleischorden“. Dieser Begriff kam natürlich auch in der RN-Glosse vor. Gegen den Autor wetterte dann vor allem die CDU, aber auch der parteilose Wolfgang-Eberhard Kipp, der als Pressesprecher der Stadt auch seiner privaten Meinung gegen den Redakteur freien Lauf ließ. „Sie, Herr St. werden den Orden nie erhalten“, schrieb er am Schluss seiner Stellungnahme. Da hatte er Recht, denn der Journalist saß ja nicht im Rat. An solche Auseinandersetzungen  gewöhnte man sich gegenseitig, letztlich immer mit einem Schmunzeln. Das Foto zeigt Kipp im Jahr 1976.

Weiterlesen

Veröffentlicht unter Das Porträt, Medien, Presse / Journalismus, Rat und Verwaltung, Wulfen | Verschlagwortet mit , | Hinterlasse einen Kommentar