Dorstener verwüsteten unter dem Gejohle der Umstehenden im November 1938 die Synagoge in der Wiesenstraße und verbrannten das sakrale Inventar auf dem Marktplatz

Jüdisches Gemeindehaus in der Wiesenstraße; weißes Giebelhaus auf der rechten Seite im Hintergrund

Von Wolf Stegemann

4. November 2016. – Schon am frühen Abend des 9. November 1938, als es schon dunkelte, drangen uniformierte und zivil gekleidete Dorstener mit Brandfackeln in der Hand in das jüdische Gemeindehaus an der Wiesenstraße ein, in dessen oberen Etage sich der Gebetsraum befand. Friedhelm Potthoff, damals gerade neun Jahre alt, erinnerte sich noch genau an die Verwüstung der Dorstener Synagoge in der Wiesenstraße. Er und seine Schwester wohnten nämlich in dem der Synagoge ange­bauten Nachbarhaus. In der johlenden Menge erkannte er viele Dorstener, darunter Jugendliche in HJ- und BDM-Uniform. Angeführt wurde der Haufen von SS-Männern. Etwa 25 von ihnen drangen in das Haus ein.

Eine gelenkte Propaganda-Aktion der Nationalsozialisten

Brennende Synagoge 1938, Zeichnung von Tisa von der Schulenburg

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden in gesamten deutschen Reich Synagogen, jüdische Geschäfte zerstört und Juden ermordet. Das war die von den Nationalsozialisten gelenkte „Reaktion des Volkes“ auf die Ermordung des deutschen Botschaftsangehörigen vom Rath in Paris durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan. Es kam nie zu einem Prozess gegen ihn, denn die Nazis befürchteten, dass das Homosexuellen-Motiv des Mordes an von Rath öffentlich bekannt werden würde. Als Grynszpan 1940 vom besiegten Frankreich an Deutschland ausgeliefert worden war, verbrachte er als „Sondergefangener“ den Krieg im Konzentrationslager Sachsenhausen. Er soll überlebt haben; seine Spur verliert sich in den Wirren der letzten Kriegsmonate.
Durch den Mord war der Weg für die Juden vorgezeichnet. Im Volksmund hieß diese Nacht „Reichskristallnacht“, weil so viele Glasscherben der zerstörten jüdischen Geschäfte auf den Straßen lagen. An den von den Nationalsozialisten aufgerufenen Gewalttaten waren neben der SS, SA und Hitlerjugend auch Teile der Bevölkerung, die Verwaltung, das Finanzamt, die Feuerwehr und Polizei aktiv beteiligt. Auch in Dorsten. Der inzwischen verstorbene Friedhelm Potthoff erinnerte sich:

Ein Augenzeuge:  „Jeder Wurf wurde mit Gejohle quittiert“

„Plötzlich drang Lärm von der Straße in unsere Wohnung. Ich rannte zum Fenster und sah ungewöhnlich viele Menschen in Uniform, die in den Händen Fackeln hielten und vor unserem Haus an der Ecke Wiesenstraße/Nonnenstiege standen. Im Schein der Fackeln konnte ich viele bekannte Dorstener Gesichter erkennen. … Während einige in das Haus eindrangen, standen andere am offe­nen Hof zur Nonnenstiege und sahen zu den Fenstern der Synagoge hinauf. Sie grölten, sangen und pfiffen.
Im jüdischen Gemeindehaus, in dem sich die Synagoge befand, wohnte der 74-jährige Viehhändler Josef Minkel mit seiner 22-jähri­gen Tochter Hertha und seinem 27-jährigen Sohn Emanuel. Der alte Minkel starb Monate später, und die Tochter wanderte danach über Holland nach England aus.
Die Randalierer stürmten die Treppe zur Synagoge hoch. Durch den Anbau unseres Hauses konnten wir von unseren Fenstern direkt in die Synagoge sehen. Was sich dort abspielte, war schlimm. Da das Haus in die Häuserzeile der Wiesenstraße eingebaut und zudem sehr alt war, konnten die mitge­brachten Fackeln zur Brandstiftung nicht benutzt werden. So beschränkten sich die Zerstörer auf die Verwüstung der Synagoge.
Wir erschraken, als plötzlich Mauerbrocken und Fenster samt Rahmen mit großen Vor­schlaghämmern herausgeschlagen wurden. Die Uniformierten schlugen in der Synagoge alles kurz und klein und warfen die zerbro­chenen Stühle und die sakralen Gegen­stände durch die Fensterlöcher auf den Hof zur Nonnenstiege hinunter. Jeder Wurf wurde mit einem Gejohle quittiert.

Feuerschein auf dem Marktplatz leuchtete

Da zwei der vier Synagogenfenster über unserem mit Glas überdachten Innenhof lagen, beschädigten die hinausgeworfenen Gegenstände dieses Glasdach, unter dem sich früher die Feuerungsanlage unserer Bäckerei befand. Ich weiß noch, dass Mutter eine Menge Lauferei zum ,Braunen Haus’ hatte, um den Schaden ersetzt zu bekom­men. Nachdem sämtliches Synagogen-Inventar auf dem Hof lag, schleppten es die Täter auf den nahen Marktplatz. Direkt vor dem alten Rathaus, wo früher eine Pumpe stand, warfen sie es auf einen Haufen und zündeten ihn an. Während Gebetsbücher, Schriften, die Thorarolle und die sakralen Gewänder brannten, schlugen die Hitlerjungen auf ihre Trommeln, und es gab viel Geschrei. Aus der Gordulagasse kam eine andere Gruppe, die ebenfalls Gegenstände zum Verbrennen anschleppte. Welches Haus oder Geschäft dieser Haufen vorher geplündert hat, kann ich nicht sagen. Inzwi­schen war es völlig dunkel geworden, und man sah noch lange den Feuerschein auf dem Marktplatz leuchten.“

Gedenktafel verschwand vom Ort des damaligen Geschehens

Gedenktafel der Forschungsgruppe

Soweit der Augenzeuge Friedhelm Potthoff. Ob bei dieser Aktion jüdische Bürger ver­letzt wurden, konnte Potthoff nicht bezeugen. Doch liegt die Aussage eines anderen Infor­manten vor, der angibt, dass sich der alte Jude Minkel, der im Hause wohnte, den Ein­dringlingen entgegengestellt haben soll, um die Thora zu verteidigen. Dabei haben ihn die Randalierer blutig geschlagen.
1983 brachte die „Forschungsgruppe Dorsten unterm Hakenkreuz“ am Alten Rathaus eine von Schwester Paula gestaltete Gedenktafel an, die Jahre später von der Stadtverwaltung wieder abgenommen und eingelagert worden war. Erst durch mehrfachen Protest aus der Bürgerschaft ließ die Stadtverwaltung die Gedenktafel wieder anbringen. Allerdings an einem Haus in der Wiesenstraße, da die alte Stelle an der Seitenwand des Alten Rathauses für eine Geschichtstafel belegt worden war.

Juden zum Verkauf ihrer Geschäfte und zur Ausreise genötigt

In der Essener Straße und in der Lippestraße wurden die Fenster der jüdischen Geschäfte Perlstein eingeschlagen und Juden der Landgemeinden verhaftet, was offiziell „Schutzhaft“ hieß. Aus dem Gefängnis kamen sie erst wieder frei, nachdem sie sich bereit erklärten, ihr Geschäft zu „verkaufen“ („Arisierung“) und das Land zu verlassen. Die junge Frau Adele Moises aus Wulfen wurde von SA-Männern nachts halbnackt aus dem Dorf gepeitscht. Sie suchte Schutz bei der Polizei.
In dieser Nacht wurden reichsweit 259 Synagogen angezündet und mehrere hundert zerstört. Es gab 91 Tote. Juden wurden zu Tausenden misshandelt und teils schwer verletzt. Die deutschen Juden hatten danach weit über eine Milliarde Reichsmark als „Wiedergutmachung“ des durch die Zerstörungen verursachen „Schadens am Volksvermögen“ an die Reichskasse abzuführen. Auch wurden Glasschaden-Versicherungszahlungen (vor allem Allianz-Versicherung) nicht an die geschädigten Juden, sondern an das Reich gezahlt.

Kommentar: Testfall für die physische Ausschaltung

Die „Reichskristallnacht“ war für die Nazis der Testfall, wie weit sie bei der Bevölkerung gehen konnte, die Juden nach der gesellschaftlich-sozialen Absonderung auch physisch auszuschalten.
Während die „Reichskristallnacht“ weithin auf öffentliche Ablehnung gestoßen war, und zwar nicht wegen der antisemitischen Stoßrichtung, sondern wegen der Durchbrechung der öffentlichen Ordnung, vollzogen sich die anschließenden Schritte der Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und ihre vollständige soziale Absonderung, ohne dass nennenswerter Widerstand oder Proteste geltend gemacht wurde. Die NS-Satrapen, denen Himmler die grauenvolle Wahrheit enthüllte, waren wenig geneigt, davon mehr als das Nötigste weiterzugeben.
Der Gesamtzusammenhang der Ermordung von mehr als viereinhalb Millionen europäischer Juden blieb daher den Zeitgenossen verborgen. Einzelheiten des Geheimnisses waren hingegen in ihren vielfältigen Facetten vermutlich der Mehrheit der erwachsenen Deutschen in dieser oder jener Form vertraut. Die Größe des Verbrechens und dessen moralische Dimension machten es unbegreiflich. Das gilt auch für die ausländische öffentliche Meinung und die alliierten Regierungen, die zögerten, die ihnen zukommenden Informationen vollständig zu rezipieren. Dabei gehörte nicht viel dazu, das Schicksal der deportierten Juden zu ermessen.
Diejenigen, die sich einmal dazu durchgerungen hatten, den fundamentalen Unrechtscharakter des NS-Herrschaftsregimes innerlich zu akzeptieren, erfuhren genug, um sich in dieser Beziehung zu vergewissern. Aber das war eine kleine Minderheit. Die große Mehrheit fügte sich in die vom Regime feilgebotene kollektive Verantwortung.

Prof. Dr. Hans Mommsen (†)

________________________________________________________________

Entnommen: www.dorsten-unterm-hakenkreuz“ (online-Fassung)
Dieser Beitrag wurde unter Geschichte, Jüdisches, Nationalsozialismus, Rassismus, Zurückgeblättert abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert