19. Februar 2016. – Kennen Sie das? Sie haben beim Einschlafen einen wichtigen Gedanken, eine plötzliche Idee, eine wunderbare Formulierung gefunden und meinen, dies sofort aufschreiben zu müssen, denn am Morgen, das ist Ihre Erfahrung, ist Ihnen alles entfallen. Also greifen sie zu dem bereitgelegten Stift und schreiben den Gedanken auf, damit er nicht verloren gehe. Haben Sie schon einmal nachgedacht, was Sie da eigentlich tun?
Ein Autor verriet mir vor einiger Zeit, er könne seine Gedanken nur noch ins Stenogramm (das gibt es noch!) oder allenfalls in den Computer diktieren; so schnell und in solcher Fülle folgten sie aufeinander, dass die Hand nicht nachkomme. Der Autor war im Übrigen betont bescheiden. Ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit einer Notiz in Kierkegaards Tagebüchern, in der es heißt, er könne nur dann eine saubere Arbeit liefern, wenn er sich scharf diszipliniere und mit wohlgespitztem Stift sich einer ordentlichen Handschrift befleißige, – weil ihn die Fülle der Gedanken sonst verwirre. Und welche Fülle! Kierkegaard war seinen Mitmenschen gegenüber oft unbescheiden. Auch die in Dorsten geborene Beststeller-Autorin Cornelia Funke, ohne sie in diesem Zusammenhang mit Kiergegaard vergleichen zu wollen, schreibt ihre Romane erst einmal mit der Hand, bevor sie sie abtippt. Genauso macht es die Nürnberger Reiseschriftstellerin Ulrike Rauh, verriet sie mir. Wie antiquiert, dachte ich im ersten Moment. Doch ist es so?
Auch Goethe bekannte sich zum Diktieren
Damit kein Missverständnis aufkommt: es ist nicht beabsichtigt, erstens den großen Kierkegaard und die beiden Schriftstellerinnen gegen den armen jungen Autoren auszuspielen, zweitens den Federkiel gegen das Stenogramm und schließlich überhaupt die gute alte Zeit gegen die moderne. Auch Goethe hatte bekanntlich nicht selten diktiert und in jüngerer Zeit ebenso Husserl. Was Kierkegaard dem jungen Autor voraus hatte, war nicht der Stift als das Mittel, das zur Bedachtsamkeit zwingt, sondern die Tatsache, dass er keine Angst hatte, ein besonders wertvoller Gedanke könne diesem langsamen Stift entwischen. Kierkegaard war der Fülle seiner Gedanken so sicher, dass er mit spitzem und manchmal spitzigem Stift ihre Unterscheidung meistern konnte.
Der menschliche Geist ist ein merkwürdiges Gebilde, aber das Merkwürdigste an ihm ist das Gedächtnis. Seit Sokrates’ Tagen ist das eigentlich bekannt. Dieses Gedächtnis ist ein unendliches Sammelbecken, in dem alles, was den Mensch trifft und berührt, gleichsam untertaucht und am Grunde beharrt. Es ist zugleich mehr als ein Sammelbecken, weil in ihm alles Gesammelte in einem stetigen Gärungsprozess umgewandelt wird, wobei es sowohl veredelt als auch verdorben werden kann.
Wenn ein Winzer sich einmal mit Psychologie oder Philosophie beschäftigen sollte (besser für ihn zwar, er tut es nicht), dann könnte er vergleichsweise die Lebensgeschichte jedes Einzelnen als einen Gärungsprozess begreifen, von der ersten Stufe der Traubenlese über die Kelterung bis zur edelsten Blume – oder zum Essig. Niemand wüsste wie er die Bedeutung des Gärens zu schätzen, niemand würde sie so vorsichtig pflegen wie er. Dieses Wissen ist das Geheimnis seiner Kunst. Er weiß, was er dazu tun kann und muss, und was er der Natur überlassen muss. Er weiß, dass man nicht aus allem alles machen kann. Er lebt in der sokratischen Weisheit des Nichtwissens.
Von den Winzern lernen
Sollten die Autoren nicht bei den Winzern in die Schule gehen? Dann wäre es am Ende gleich, ob sie mit dem Federkiel schreiben, ins Stenogramm oder ins Band diktieren. Das heißt, jeder würde mit Klugheit sein Mittel wählen, denn es gibt dafür keine Regel. Aber der Autor lernte unterscheiden zwischen gekelterten und ungekelterten Gedanken. Warum einen vorüber fliegenden Gedanken um jeden Preis erhaschen wollen? Warum ihn nicht in die Kelter geben, warum ihn nicht gerne gären lassen, bis er Wein geworden ist?
Freilich, auch die Traube und der Most sind süß und bekömmlich für uns. Aber sie sind kein Wein. Man soll sie also nicht dafür ausgeben. Es gibt ein sicheres Kriterium für die Klugheit eines Autors: ob er nämlich einen großen Gedanken mit in seinen Schlaf nehmen kann oder nicht.
Das Gespräch
Wie wir mit Worten und Argumenten umgehen
Wir machen oftmals die Erfahrung, dass die großen Versammlungsreden und Ansprachen, die Konferenzreden und Referate und selbst die Predigten nur ganz selten mehr unser Inneres so treffen, dass wir nachhaltig davon berührt werden. Viele Ursachen haben dazu beigetragen: der Missbrauch des Wortes, die immer schwereren Geschütze, mit denen der Rundfunk und das Fernsehen uns rund um die Uhr zu erschüttern versuchen, und das Unmaß an Worten, Sprachhülsen und Sprechblasen, die uns Politiker zukommen lassen und uns „abgebrüht“ haben.
Nur bisweilen, wenn jemand sehr menschlich, natürlich und echt spricht, horchen wir noch auf. So kommt es, dass uns das wirkliche Gespräch von Mensch zu Mensch noch am tiefsten berührt, am heftigsten erschüttert und am innigsten beglückt. Freilich, wenn ein Mensch sehr selbstsüchtig wird, verliert er die Fähigkeit zum eigentlichen Gespräch. Denn kaum beginnt der Mitmensch von seinem Geschehnis, von seinen Freuden oder – was häufiger der Fall ist – von seinen Sorgen und Leiden zu sprechen, so fällt ihm der selbstsüchtige Andere schon ins Wort: „Ganz genau, das habe ich auch erfahren“, sagt er im günstigsten Fall. Wird über Allgemeines in der Philosophie, Kunst oder Politik gesprochen und diskutiert, dann ist es oftmals so, dass seine Gegenrede lautet: „Ja, diese Erfahrung machte ich auch…“ Und er zieht das Gespräch auf seine winzige Erfahrungsebene, macht sich selbst zum Mittelpunkt des Arguments, und das Gespräch muss alsbald mit einer leeren Phrase enden.
Der Anfang allen Gesprächs ist das Hören. Vielleicht wäre vieles in der kleinen Welt unserer Familien und Freundeskreise, der manchmal unleidlichen politischen Talkrunden im Fernsehen, in der Welt der Landtage und des Bundestags sowie in der noch größeren der UNO besser, wenn wir einander nicht nur aussprechen ließen und anhören würden, sondern versuchten, dieses Anhören mit der Bereitschaft zum Verständnis zu tun.
Jenes vielbesprochene „soziale Denken“ hat hier seinen Beginn: Die Mit-Menschlichkeit beginnt im Kleinen, im zufälligen Gespräch, bei dem wir nicht nur Zuhörer sind, die heimlich auf die Uhr schielen, sondern die mit-leiden, sich mit-freuen, die mit-tragen und auch mit-schweigen.
Mit-schweigen, wenn Worte nichts mehr bedeuten; mit-schweigen, wenn es mehr sagt als Reden; mit-schweigen aber vor allem über das Gespräch hinaus. Die Hälfte aller Bosheiten unter den Menschen, ob hier oder anderswo, geschehen aus Schwatzsucht, aus Mangel an Kraft, auch mal zu schweigen. – Aus dem Vorhaben, mal was über Gespräche und das Schreiben zu schreiben, ist jetzt fast ein „Wort zum Sonntag“ geworden. Macht aber nichts!
Diese klugen Gedanken zu einer eher beiläufig erscheinenden Handlung zeugen von dem seltener werdenden Vermögen, sich tatsächlich einmal Gedanken zu machen – und das dann auch zu tun. Vieles klärt sich, wird das Problem, der Sachverhalt erst einmal beschrieben, benannt.