Von Wolf Stegemann
Eine Gruppe Dorstener Bürger stellte 1996 bei der Stadt Dorsten den Antrag, ein Denkmal für Deserteure des Zweiten Weltkriegs zu errichten. Der Antrag wurde 1997 von der Politik zwar abgelehnt, das Thema dennoch lange Zeit kontrovers diskutiert. Dazu Prof. Dr. Wolfram Wette vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt und der Universität Freiburg: „Denkprozesse sind wichtiger als Denkmale!“ In den Lokalzeitun- gen begann ein reger Meinungsaustausch durch Leserbriefe mit den Überschriften: “Feige Soldaten”, “Eine Verfälschung des Geschichtsbildes”, “Glorifizieren der Wehrmacht hat System”, “Nur leben und dem verbrecherischen Krieg entkommen”, “Denkmal: Ziel ist die Rehabilitation” u. a.
Über das Vorhaben der Antragssteller wurde der Autor dieses Artikels vom damaligen Bürgermeister Dr. Karl-Christian Zahn 1997 mit einer Begutachtung beauftragt. In einem Film des WDR sprach sich der Autor gegen die Errichtung eines Denkmals aus, weil das Thema erst aufgearbeitet werden müsse. Ansätze einer Untersuchung waren vorhanden und einige lokale Fälle ungenau bekannt.
Als das Dorstener Gefängnis bei der Bombardierung im März 1945 zerstört wurde und ausbrannte, war es u. a. von etwa 40 Deserteuren der Wehrmacht überbelegt, die teilweise in den Flammen umkamen. Es waren Soldaten, die das Feldgericht 427 in Utrecht in den letzten Kriegsmonaten zu hohen Gefängnisstrafen bzw. Strafbataillon verurteilt hatte. Das Strafbataillon sollte in Münster zusammengestellt werden. Aus Platzmangel im dortigen Gefängnis wurden die Soldaten in Dorsten untergebracht. Als das Gefängnis brannte, versuchten Anwohner die Zellen zu öffnen und konnten so elf Soldaten frei bekommen. Doch die SS, die in Holsterhausen einquartiert war, umstellte das Gefängnis, verlud die befreiten Soldaten auf einen LKW, darunter Offiziere, und soll sie am Freudenberg oder an der damals noch existenten Steinhalde in Holsterhausen erschossen haben. Die Leichen sind angeblich auf dem Waldfriedhof in Holsterhausen bestattet.
Der Dorsten-Schermbecker Fritz Steffens gab im Jahr 2000 als 79-Jähriger ein Buch mit dem Titel „Mitternachtssonne“ unter dem Gesichtspunkt heraus: „Kriege sind abscheulich, menschenverachtend. Wer das Inferno miterlebte und die grausame Wirklichkeit zu spüren bekam, kann die Zeit nicht verdrängen.“ Darin beschreibt er die eindringliche Geschichte eines Deserteurs – stark autobiografisch geprägt.
Nicht in die Grande Armée Napoleons – daher flüchtig
Es gab in Dorsten und in der Umgebung schon früher Deserteure. In den napoleonischen Kriegen sind etliche Deserteure aus Westfalen bekannt geworden, die sich nicht in die französische Armee haben pressen lassen. Etliche von ihnen waren im Gefängnis von Schloss Lembeck arretiert.
Aus dem Jahre 1824 ist der Fall eines Dorstener Deserteurs nur deshalb bekannt, da ein Festnahmebefehl herausgegeben wurde, der folgenden Wortlaut hatte: „Der Kanonier Johann Benteler , 22 1/2 J. alt , gebürtig aus Dorsten im Reg.-Bez. Münster, bei der 2. Komp. 7. Artill.-Brigade gestanden, von Gewerbe ein Schiffbauer, ist den 25. d. M. aus dem Kanonisierungs-Quartier Scheiderhöhe entwichen. Köln, den 31. Juli 1824.“
Zehn Jahre lang in einer Höhle am Freudenberg versteckt
Im Bereich Freudenberg ist die „Brotmannsöhle“ bekannt, in der sich zehn Jahre lang ein Deserteur aufhielt. Sie liegt inmitten der wieder aufgeforsteten Sandgrube „Im Steinbruch“ in der Nähe der B58 / A31. Sie ist benannt nach einem jungen Mann, der von 1865 bis 1875 in der Höhle lebte und für einfache Dienste bei den Bauern in der Umgebung Brot bekam.
Eigentlich hieß er Werner Kempten, stammte aus dem Emmelkamp (damals noch Altschermbeck, heute Holsterhausen) und versteckte sich vor dem Militär, dem er bereits zwei Mal entwichen war. Wegen Desertion drohte ihm die Todesstrafe, schließlich lag Deutschland 1870/71 mit Frankreich im Krieg und zuvor mit Österreich. Angeblich kannte nur sein Vater das Versteck, der ihn mit Nahrungsmitteln versorgte. Nach zehn Jahren Waldeinsamkeit in der später als „Brotmanns-Höhle“ bekannten Erdbehausung konnte Werner Kempten nach Amerika entkommen.
Dorstener 1942 als Deserteur in Dresden hingerichtet
Abschiedsbriefe können in unterschiedlichen Situationen und aus verschiedensten Gründen geschrieben werden. Als in Stalingrad das große Sterben begann, schrieben viele Soldaten Abschiedsbriefe an Frau und Kinder, Geliebte und Eltern in der Hoffnung, dass ihnen diese Briefe nach ihrem Tod irgendwie zugestellt werden würden.
Es gibt auch den Abschiedsbrief eines jungen Mannes aus Holsterhausen, ein Soldat, der ihn in der Zelle des Zuchthauses in Dresden im Bewusstsein seines nahen Todes geschrieben hatte. Er fand dabei Worte, die wegen ihrer Einfachheit ergreifen und erschüttern. Und er machte sich und den Eltern trotz der verzweifelten Situation Mut. Im Nachsatz freute er sich auf den Empfang durch die Engelein, die über seine Jugend staunen werden. Und er möchte, dass Deutschland lebe.
Der junge Obergefreite war wegen eines Handdurchschusses festgenommen und verurteilt worden. Wie seine Schwester glaubt, habe er aber nicht desertieren wollen. Wegen Selbstverstümmelung und somit Desertion wurde er zum Tode verurteilt und im Zuchthaus in Dresden im Morgengrauen des 25. Februar 1942 erschossen. Darüber hinaus ist nichts bekannt, da die Akten mit Anklage und Urteil nicht mehr aufzufinden sind.
Der Brief ist an seine Eltern in Holsterhausen gerichtet. Zuletzt war das Schreiben im Besitz der Schwester des Soldaten. Aus Wunsch der beteiligten Familien wird dieser Fall anonymisiert veröffentlicht. Die Abschrift des Briefes erfolgt in angepasster Rechtschreibung.
Dresden, den 25. 4. 42
Liebe Eltern.
Das letzte Lebewohl will ich euch senden. O Gott, ist die Welt schlecht. Seit nicht traurig, daß ich sterben muss, denn ihr habt ja noch den Friedhelm. Gerne wäre ich noch bei euch, aber es geht vielleicht nicht. Denn es muss ja auch Menschen geben, die unschuldig sterben müssen. Ja, das Leben war für mich nicht leicht. Aber ich habe schon alles überwunden. Liebe Mutter, sei nicht traurig, das Leben für uns Menschen ist ja nur ein Traum. Und meine Sachen, die kann der Friedhelm auftragen. Da wird er sich ja freuen. Grüsst alle Freunde und Bekannten von mir. Und ich wünsche euch allen von Herzen noch lange und frohe Gesundheit. Das ist mein letzter Brief, denn ich weiß nicht, warum ich Abschied nehme nach dem Jenseits. Aber eines [unleserlich] ich mir, dass Deutschland lebt und auch weiter leben wird, auch ohne mich.
Es grüßt euch euer Sohn
Walter
Ich habe gelebt, aber der Tod ist für uns Menschen das schönste. Und ich will ihm treu ins Auge sehen. Und freue mich auf den Empfang bei den Engelein. Sie werden ja staunen, so eine junge Seele zu empfangen.
Mit diesem Brief wurde den Eltern aus dem Nachlass ihres Sohnes noch dessen „Brieftasche mit Inhalt“ zugeschickt.
Die Heeresstandortverwaltung Detmold teilte den Eltern ohne Anrede unter Aktenzeichen W 154 mit, „dass Sie die Kriegsbesoldung ihres verstorbenen Sohnes, Obergefr. Walter […] für Monat Juni erstatten müssen“. „Baldmöglichst“ mahnte der Stabszahlmeister grußlos an.
Der Dresdner Rechtsanwalt Georg Walcker „ersucht“ die Eltern fast ein Jahr später, am 17. Februar 1943, ihm für die Firma „Neue Dresdner Beerdigungs-Anstalt Otto Lamprecht & Co. GmbH“ innerhalb einer Wochenfrist“ mitzuteilen, „wo Ihr Sohn versichert ist und in welcher Höhe“. Der Brief schließt mit dem Satz: „Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, dass von dieser Versicherungssumme […] in erster Linie die Nachlassverbindlichkeiten, ins besondere die Kosten der Beerdigung, zu decken sind. Heil Hitler! Rechtsanwalt“.
Rudolf Schulz: 1945 aus dem brennenden Gefängnis entkommen
Zum 40. Jahrestag der Bombardierung der Stadt Dorsten reiste Rudolf Schulz mit seiner Frau von Delmenhorst nach Dorsten, wo er 1945 als Soldat im Gefängnis saß, die Bombarierung des Gefängnisses und der Stadt erlebte.
Die Geschichte von Rudolf Schulz ist typisch für Erlebnisse in den Chaos-Monaten vor Kriegsende. Viele, die diese Zeit erlebt und erlitten hatten, schreiben ihr Überleben Glücksumständen zu. So auch Rudolf Schulz. Der junge, gerade 18 Jahre alte Soldat wurde in Holland von Partisanen überfallen, gefangen genommen und in ein Haus gebracht. Die Mutter eines der Partisanen war eine Deutsche. Schulz wurde wieder freigelassen, wusste nicht, was er machen sollte, und meldete sich bei der Feldgendarmerie in Appeldorn. Dort wollte man von ihm wissen, wo er gewesen war. Da er die holländische Familie nicht verraten wollte, handelte er sich ein Kriegsgerichtsverfahren ein.
Das Feldgericht Nr. 427 in Utrecht verurteilte den jungen Gefreiten wegen un- erlaubten Entfernens von der Truppe (Fahnenflucht) zum Tode. Auf dem Gnadenweg wurde die Todesstrafe in eine 20-jährige Gefängnisstrafe mit zehn Jahren Ehrverlust umgewandelt. In den letzten Kriegsmonaten hieß dies: Strafbataillon. Welches Ziel der Gefangenentransport hatte, mit dem Schulz und andere von Holland ins Reich gebracht wurden, wusste er nicht. Er glaubte aber, dass das Strafbataillon in Münster zusammengestellt werden sollte. Wegen Überfüllung des Gefängnisses in Münster blieben Robert Schulz und 40 andere Gefangene im Dorstener Gefängnis.
Als am 22. März 1945 Bombenalarm ertönte, wurden er und weitere Gefangene in den Keller geführt. Andere Gefangene mussten in den Zellen bleiben. Als die Bomben fielen und ein Trakt des Gefängnisbaus getroffen wurde, stand Schulz im festen Türrahmen, was ihn rettete. Geröll und die schwere Eisentür klemmten ihn in sitzender Stellung ein. Durch einen Rohrbruch stieg das Wasser im Keller immer höher. Als es bereits Schulz’ Schultern bedeckte, kam jener unbekannte Helfer von außen und befreite Schulz aus der misslichen Lage. Schulz setzte sich sofort von Dorsten ab, versteckte sich einige Tage in Schermbeck-Bricht; danach stellte er sich den Amerikanern.
Besonders schmählich war die Abkommandierung von fünf jungen Luftwaffenhelfern des Leichten Flakzugs in Kirchhellen nach Holsterhausen, um Todesurteile zu vollstrecken. Im März 1945, also wenige Tage vor dem Ende, sollten sie als Erschießungskommando zwei deutsche Soldaten exekutieren, die wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt worden waren. Der eine Soldat hatte sein Fahrzeug gesprengt und war dann geflohen. Der zweite überschritt den Zapfenstreich. Als die Feldgendarmerie ihn aufgreifen wollte, floh er zur Kaserne zurück. Ein Hauptgefreiter der 116. Panzerdivision hatte dagegen mehr Glück. Verwundet griff ihn die Feldgendarmerie abseits der Truppe auf und verhaftete ihn. Die beabsichtigte Erschießung in Holsterhausen fand deshalb nicht statt, weil einem Offizier Bedenken kamen, nachdem gerade in diesen Stunden ein höherer Offizier desertiert war. In einem Waldstück bei Holsterhausen verlas der Militärrichter bei angetretener Truppe das Urteil, dann mussten die fünf Jugendlichen als Erschießungskommando antreten, um das Urteil zu vollstrecken.
In Dorsten wird in Denkmalen in Form von Gedenktafeln oder Skulpturen der Verfolgten und Ermordeten gedacht: an die Juden (Stolpersteine, Tafel Wiesenstraße), an die Kriegsgefangenen (Westwall), an die untergegangenen jüdischen Gemeinden des Kreises (jüd. Museum), an Artur Kramm, hingerichteter “Bibelforscher” (Waldfriedhof), an die Opfer einer Zugbombardierung (Holsterhausen, Bahntrasse), um einige Beispiele zu nennen.
- Die Frage, ob den Deserteuren eine Gedenktafel gewidmet werden soll, ist noch nicht geklärt. Die Beantwortung wurde trotz damaliger Ablehnung im Rat aufgeschoben. Inzwischen gibt es belegte Erkenntnisse über Deserteure in und aus Dorsten. So bleibt die Frage: Sollte Dorstener Deserteuren ein Denkmal gesetzt werden? Dazu kann der Leser seine Meinung durch Beteiligung an der nebenstehenden Umfrage durch Anklicken kundtun. Über einen Kommentar würde sich die Redaktion aber auch freuen.
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Sehr informativer Beitrag, der zum Nachdenken anregt, aber so schnell nicht zu beantworten ist. Jeder einzelne Fall sollte da genau untersucht werden und wenn so eine Gedenkstätte einmal angedacht wird, sollte auch jeder der es verdient hat namentlich genannt werden. Jeder der es nicht verdient hat sollte aber auch nicht erwähnt werden. Denn nicht alle Deserteure haben ein Recht auf Wiedergutmachung!!