Von Wolf Stegemann
Über das Wohlergehen der Einwohner einer Stadt oder eines Dorfes befanden früher neben dem Landesherrn die patrizischen Bürger, die durch Abstammung oder durch Wohlstand und Grundbesitz zu Ämtern in Rat und Kirche und dadurch zu vermehrtem Ansehen gekommen waren. Jahrelang saßen sie als Sie waren oft jahrelang, manche Familien auch generationenlang im Rathaus gesessen, waren Bürgermeister oder Schöffen, Geistliche oder vermehrten ihren Wohlstand durch gute Handelsgeschäfte. Auch Ehen waren oft ein Geschäft, das Ansehen und Macht einbrachte. Daher schlossen sich die Alt-Dorstener patrizischen Familien zu einem Hochzeitkreis zusammen. Dazu gehörten die Familien Rive, Wesener, de Weldige-Cremer, Jungeblodt, Evelt, von Wieck.
Heiraten unter Verwandten in einem geschlossenen Hochzeitkreis
Schon in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts konnten diese Familien untereinander wegen Blutschande nur noch mit päpstlichem Dispens heiraten. Etliche Ehen wurden wegen Inzest annulliert. Das Heiraten innerhalb der Blutsverwandten war in der Familie Rive (wie in anderen Dorstener patrizischen Familien) keine Seltenheit, wie einige Beispiele zeigen: Maria Susanna, die Tochter von Wilhelm Rive, heiratete 1794 mit Dispens Adolf von Wieck, einen Blutsverwandten 2. Grades. – Wilhelm Rive heiratete 1808 seine Blutsverwandte 4. bzw. 3. Grades, Mechthild Wehling, und benötigte dazu einen Dispens. – Maria Catharina Rive heiratete mit Dispens in zweiter Ehe 1779 Bernhard Gahlen, einen Blutsverwandten 3. Grades. – Bernhard Rive benötigte einen Dispens, weil er 1788 die Blutsverwandte 3. und 4. Grades, Carolina Reckmann, heiratete. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts löste sich dieser geschlossene Hochzeitskreis unter den Alt-Dorstener Familien auf. Etliche der betroffenen Familien sind wegen Kinderlosigkeit inzwischen ausgestorben, andere weggezogen.
- In loser Folge stellen wir alte Dorstener Familien vor, welche die Geschickte und die Geschichte diese Stadt über Jahrhunderte hinweg bestimmten – zum Wohlergehen der Stadt, aber manchmal auch zum Nachteil.
Albert de Weldige heiratete in die Kaufmannsfamilie Cremer ein
Es war die einzige Familie, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bis in die späten 1950er-Jahre in ununterbrochener Folge in Dorsten ansässig war. Die weit verzweigte Sippe gehörte zu den führenden ratsfähigen und honoratorischen Patriziern, deren Mitglieder Kaufleute, Gastwirte, Weinhändler und Bürgermeister waren. Ihre Geschäfte betrieben sie europaweit. Albert de Weldige war der erste der Familie, der von Herford kommend, sich Ende des 15. Jahrhunderts in Dorsten niedergelassen und in die angesehene Familie Cremer eingeheiratet hatte. Seither nannten sie sich entweder de Weldige gt. Cremer oder de Weldige-Cremer. Der letzte Dorstener de Weldige, Josef, ging mit seinem Bankhaus, ads 1880 gegründet worden war, 1958 in Konkurs,. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Geschäfte dieser Privatbank so schlecht, da sie gegenüber den Großbanken, die in Dorsten Filialen eröffnet hatten, nicht mehr konkurrenzfähig waren.Noch heute existiert eine de Weldige-Familienstiftung, die von der Rendantur der katholischen Kirchegemeinde St. Agatha verwaltet wird. Angehörige dieser Familien wohnen heute nicht mehr in Dorsten. Es gibt sie u. a. in Oberhausen, Mönchengladbach und Berlin.
Frühe Genealogie des Familiengründers in Dorsten 15./16. Jahrhundert
Johann de Weldige, geboren um 1390 in Herford, dort 1459 gestorben. Er wurde 1432 und 1443 von der Äbtissin zu Herford mit einem Viertel des Lockhofs in Herford belehnt. Der Name seiner Frau ist nicht bekannt. Sein Sohn Albert de Weldige kam von Herford nach Dorsten und gründete hier die Familie de Weldige-Cremer, die bis ins 20. Jahrhundert in Dorsten ansässig war.
Albert de Weldige wurde um 1420 in Herford geboren und starb 1490 in Dorsten. Urkundlich ist er in Dorsten erstmals 1458 erwähnt. Er war 1460 Freischöffe des Freistuhls zu Hackfurt bei Kirchhellen, 1459 Mitglied der Bruderschaft BMV zu Dorsten, 1467, 1484 und 1490 genannt als Kirchmeister, 1468 belehnt mit dem Schürhof in der Bauerschaft Holthausen von Arnd von Gysenberg. Sein Wappen: In Gold mit blauem Schildfuß ein schreitender schwarzer Hirsch. Albert heiratete vor 1450 Ymme Cremer. Fortan nannte sich die Familie de Weldige-Cremer bzw. de Weldige gen. Cremer. In Urkunden wird Cremer auch als Cramer oder später auch Kremer geschrieben. Aus der Ehe stammen fünf Kinder: Heinrich de Weldige gen. Cramer (1452 in Dorsten bis 1513 in Dorsten). Kaufmann, Bürgermeister zu Dorsten 1507 und 1513, Mitglied der Bruderschaft BMV, Besitzer des Hauses „Zum Hirschen“ am Markt, Ecke Essener Straße. Er heiratete 1478 Alberta (Familienname unbekannt). Aus dieser Ehe stammen zwei Kinder: Agnes de Weldige gen. Cramer (um 1480 in Dorsten bis nach 1545 in Xanten). Sie war Nonne im Benediktinerinnenkloster S. Servatii im Hagensbusch bei Xanten, Meisterin seit 1519. Der Sohn hieß Johann de Weldige gen. Cramer (um 1495 in Dorsten bis 1576 in Dorsten), Kaufmann, 1519 Student an der Universität Erfurt, Bürgermeister zu Dorsten 1552, 1557, 1569, 1576. Er heiratete 1535 Margarethe Heyer. Aus der Ehe stammten acht Kinder. Eines davon, Peter des Weldige, ging in die Geschichte der Stadt Dorsten ein.
Peter de Weldige – als „Schild Dorstens“ verteidigte er den Katholizismus
Ihm verdankt die Geschichtsschreibung Informationen über die Genealogie der Familie de Weldige-Cremer, denn Peter de Weldige, Sohn des ebenfalls Bürgermeister gewesenen Johannes de Weldige und Urenkel des Stammvaters Albertus de Weldige, legte 1575 das Geschäfts- und Familienbuch an, in das er seine Vorfahren und seine vielen Kinder eintrug.
Aus den mit Versen und Gebeten bereicherten und in lateinischer Sprache gehaltenen Eintragungen lässt sich schließen, dass Peter de Weldige sowohl ein treu sorgender Gatte und liebender Vater als auch ein frommer und gutherziger Christ mit einem stolzen Selbstbewusstsein war. Die lateinischen Verse, mit denen er so trefflich die Geburt seiner Kinder bejubelte oder ihren Tod betrauerte, zeugen von einer gründlichen humanistischen Bildung, die er den Franziskanern verdankte. Peter de Weldige genoss bei seinen Mitbürgern Ansehen und Vertrauen in einem Maße, wie es vor und nach ihm kaum einem zweiten beschieden war. Nachdem er von 1578 bis 1580 Ratsherr gewesen und im letzteren Jahr auch Kirchmeister geworden war, wählten ihn die Dorstener erstmals 1581 zum zweiten Bürgermeister. Bis zu seinem Tod bekleidete er siebenmal den Posten des zweiten und zwölfmal den des ersten Bürgermeisters; zweimal war er Rentmeister und von 1597 bis 1609 Provisor der Armen.
Auch ein erfolgreicher Gewürzhändler
In seine Bürgermeister-Amtszeit fiel der Truchsessische Krieg mit seinen Protestantisierungsversuchen und kriegerischen Schrecken. Das katholische Dorsten wurde von protestantischen Truppen zweimal vergeblich belagert. Während sich sein Bürgermeister-Amtskollege Wessel ther Wyschen Neuerungen aufgeschlossen zeigte, beharrte Peter de Weldige auf der alten katholischen Lehre; ihm war es schließlich zu verdanken, dass Dorsten damals katholisch geblieben war.
Als Peter de Weldige für eine kurze Zeit kein Amt bekleidete, eroberten die Spanier die Stadt. So etwas sollte nicht wieder geschehen. Deshalb wählten ihn die Dorsten gleich darauf wieder zum Bürgermeister. Er war es auch, der für die ständige Wehrhaftigkeit der Stadt sorgte, um die Verteidigung gegen spanische und staatische (niederländische) Trupps sicherzustellen. Daher nannten ihn die Bürger während des Truchsessischen und Spanisch-Niederländischen Kriegs den „Schild Dorstens“. Nicht nur als Bürgermeister, auch als Kaufmann war er erfolgreich. Er vermehrte seinen Grundbesitz durch Ankauf und Erbschaft reichlich, betrieb einen Gewürzhandel, unterhielt ein Gasthaus sowie eine eigene Brauerei. Verheiratet war Peter de Weldige-Cremer seit 1575 mit Angela Becker, gestorben 1605; die Kinder waren Johann (1576), Wennemar I (1579), Henricus (1581), Wennemar II (1582), Margareta (1584), Angela (1587) und Georg (1655). – Peter de Weldige-Cremer starb 1611 im Alter von 61 Jahren. In den folgenden zwei Jahrhunderten gingen die de Weldiges ihren Amtsgeschäften als Bürgermeister und Schöffen sowie ihren Handelsgeschäften nach.
Alexander de Weldige – in seiner Amtszeit wurde Dorsten hell
Sein Vater Johannes de Weldige-Cremer war wohl in der unruhigen Zeit der napoleonischen Umwälzungen in Europa angetan vom Kaiser der Franzosen, sicher auch vom russischen Zaren und vom preußischen König. Denn seinen 1805 geborenen Sohn nannte er Alexander Wilhelm Napoleon. Der so geschmückte Spross aus dem Hause de Weldige-Cremer war von 1816 bis 1821 Schreiber in Westerholt, ab 1848 kommissarischer Bürgermeister in Dorsten, von 1850 bis 1873 fest bestallter Bürgermeister und betrieb die Elektrifizierung der Stadt.
1865 bemühte sich Alexander de Weldige-Cremer in Gesprächen mit der zwei Jahre zuvor gegründeten „Actien- und Commanditgesellschaft Bagel & Seis“ in Wesel um ein Angebot für eine Gasbeleuchtung. Als Bankier erkannte de Weldige sofort die Vorteile einer Gasbeleuchtung neben den sonstigen Vorteilen dieser lohnenden Geldanlage. Um 28 Straßenlaternen und 250 Privatflammen einzurichten, wurde 1866 die „Dorstener Actiengesellschaft für Gasbeleuchtung“ gegründet, die einen Gewinn von fast 100 Prozent machen sollte. Am ersten Tag der Gesellschafterversammlung kamen Aktien im Wert von 14.000 Talern zusammen. Kurz nach dem deutsch-österreichischen Krieg erstrahlte Dorsten erstmals am 23. August 1866 im hellen Schein der Gaslaternen.
Bevor nach 1871 in Dorsten die Hauptphase der Industriealisierung und damit die Ablösung der Textilindustrie durch andere Industriebetriebe begeinnen sollte, trat Bürgermeister Alexander de Weldige-Cremer 1873 vom Amt des Bürgermeisters zurück. Er war seit 1829 verheiratet mit Maria Rensing. Das Ehepaar hatte drei Kinder: Ignaz (1831), Cornelia (1833) und Vinzenz (1837). De Weldige starb 1874.
Das Porträt kam nach Dorsten zurück
Die Tochter Cornelia des Bürgermeisters hatte bei ihrer Hochzeit mit dem Apotheker Brinkmann in Borken ein Ölbild ihres Vaters mit in die Ehe gebracht. Das restaurierte Porträt wurde zu Lebzeiten de Weldiges von dem Franziskanerpater Elias Brüsken, einem studierten Kunstmaler, angefertigt. 2012 haben die Nachfahren in der Familie Brinkmann aus Borken das Bild wieder nach Dorsten verbracht, wo es die stellvertretende Bürgermeisterin Christel Briefs und Vertreter des Vereins für Orts- und Heimatkunde Dorsten in Empfang nahmen (siehe Foto).
Hermann de Weldige – Ursulinen-Direktor: „Ich will nichts, als Gott!“
Er war die Stütze des Ursulinenkonvents in einer Zeit, in der das Ursulinenschiff beinahe gekentert wäre. „Wie kein zweiter hat dieser Mann im Laufe der Geschichte des Dorstener Klosters für die Erneuerung und die Erhaltung eines klösterlichen, religiösen Geistes gearbeitet und die Ordensfrauen für ein segensreiches Frauenwirken vorbereitet und angeleitet“, beschreibt 1949 die Ursulinenoberin M. Maria Victoria Hopmann in ihrem Buch „Geschichte des Ursulinenklosters in Dorsten“. Er war Klosteroberer mit dem Lebenswahlspruch „Ich will nichts, als Gott!“ und hatte als solcher, da die Nonnen mit obrigkeitlicher Gewalt damals noch unerfahren waren, die Führung von Kloster und Schule inne. So bestimmte es die Satzung des Ordens.
Hermann de Weldige-Cremers Vater war Justizkommissar. Schon früh entschied sich der Sohn für den Priesterstand, empfing als 15-Jähriger die niederen Weihen, wurde 1827 zum Priester geweiht und trat die Stelle als Kaplan in der St. Agathakirche an. 1841 übernahm Hermann de Weldige-Cremer die Führung von Kloster und Schule, erteilte Unterricht und gestaltete den Gottesdienst – auf eigene Kosten. Als Klosteroberer hatte er die Ordensneulinge auszubilden. Er verlangte, dass sich die Ordensfrauen „mit der ganzen, ungeteilten Liebe ihres Herzens für immer als geistliche Bräute dem Heiland schenkten“. Unter seiner Aufsicht fanden erstmals Spaziergänge der Pensionärinnen statt. In seine Amtszeit fiel auch die Gründung der Ursulinen-Filialen in Haselünne und Osnabrück.
Im “Kulturkampf” wurde das Dorstener KLoster am 1. April 1876 aufgelöst, die Nonnen gingen ins Weeter Exil nach Holland. Damit endete auch die Amtsführung Hermann de Weldiges. Er blieb in Dorsten, wohnte im Weldege’schen Haus am Markt und besuchte die Scxhwestern regelmäßig in Weert. Sein 50-jähriges Priesterjubiläum feierte er allein. Er war bereits von Krankheit gezeichnet. Als die Ursulinen 1887 nach Dorsten zurückkehrten, war de Weldige bereits 83 Jahre alt. Aus Altersgründen verzichtete er auf eine erneute Berufung zum Direktor. Hermann de Weldige gt. Cremer starb 1890.
De Weldige’sche Familienstiftung existiert heute noch
1951 wurde die “Dr. Urban, Adolfine und Cornelia de Weldige-Cremersche Familienstiftung” errichtet, die von der Zentralrendantur des Dekanats Dorsten verwaltet wird. Die nicht gemeinnützige Stiftung hat den Zweck, eigene Familienmitglieder mildtätig zu unterstützen.
Nächste Folge: Die Familie Rive
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Die Dorstener Familie de Weldige stammt n i c h t aus Herford, sondern aus Venlo. Das Dorstener Stammhaus “Zum Hirschen” am Markt führt seinen Namen nach dem Wappentier der Venloer Patrizier(und Bürgermeister-)familie de Weldige, die dort bereits im 14. Jahrhundert aktenkundig ist.
Sehr geehrter Herr Stegemann,
Danke für diese ausführliche Veröffentlichung mit der Sie in der Schilderung von Lebensgeschichten die Geschichte Dorstens mit europäischer Politik- und Wirtschaftsgeschichte sehr lebendig verbinden.
Jetzt weiß ich auch wer dieser “Peter de Weldige” war. Meine Eltern haben mir nur immer gesagt, dass es mal einen einflussreichen Peter de Weldige gab und ich nach diesem benannt bin.
Sg. Herr Stegemann, auch für einen Ortsfremden ist dieser schön geschriebene Beitrag höchst interessant zu lesen. Danke. LG. BCK