Die Leistungen, die der Staat heute nach Gesetz an die Armen im Lande zahlt, stehen immer wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Für die einen ist es zu wenig, für andere zu viel. Wie auch immer: Dass es dafür eine gesetzliche Grundlage gibt, dass jeder, der nicht von eigenen Einkünften leben kann, gesetzliche Ansprüche geltend machen kann und in der Regel nicht als Bettler vor Kirchen sitzen muss, ist ein Fortschritt. Für Sozialhilfe wurden in NRW 2012 rund 326 Euro (statistisch pro Kopf) aufgewendet, das waren 14 Euro mehr als im Vorjahr. Von diesem Betrag floss mehr als die Hälfte in die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Früher waren die Behinderten von Almosen und der „Krüppelfürsorge“ abhängig.
Vorbeugende Fürsorge erst eine späte Erkenntnis
Die älteste Art der Armenfürsorge wurde von religiösen Gemeinschaften ausgeübt. Erst nach der Reformation, in der Epoche der so genannten Landeshoheit, als die Lehre von der Allzuständigkeit des Staates ausgebildet wurde, traten auch die öffentlichen Körperschaften auf den Plan. Sie taten es aus Gründen der „guten Ordnung des Gemeinwesens“, also aus polizeilichen Gründen. Wie die Träger und Motive der Fürsorge haben sich im Laufe der Zeit auch ihre Methoden geändert. Etwa um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kannte man fast nur die Armenpflege, das heißt, die wirtschaftliche Fürsorge. Dann setzte in der Folge der Sozialversicherung und statistisch-wissenschaftlicher Untersuchungen über Krankheiten, soziale Lage und Verwahrlosung die Erkenntnis ein, dass man dem Übel im Entstehen an der Quelle begegnen und vorbeugende Fürsorge betreiben müsse, um das übermäßige Anschwellen des Armenetats, wie er in den 1920er-Jahren noch genannt wurde, zu verhüten. Gesundheitsfürsorge und Jugendfürsorge traten als bedeutsame Zweige zu der wirtschaftlichen Fürsorge hinzu und fanden ihren Niederschlag in wichtigen Gesetzgebungen wie Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, Krüppelfürsorgegesetz, Tuberkulosengesetz u. a.
Die Gilden sorgten für ihre armen Mitglieder
Zurück zu den Anfängen. Meist war die Gründung von Armenkassen zuerst unbedeutend und fußte auf kleinen Vermächtnissen, die von einzelnen Wohltätern gestiftet wurden. Aus dem Zuwachs an Zinsen bildete sich später ein Kapital. Das Einsammeln von Geld mit einem Klingelbeutel, das in den Kirchen heute noch für die Not anderer stattfindet, ist ein alter Brauch. Einen wesentlichen Anteil an der Armenfürsorge hatten neben der Stadt die Genossenschaften, die gewerblichen Gilden und die religiösen Bruderschaften. Diese sorgten zunächst weitgehend für ihre eigenen Mitglieder, aber auch für andere. Von Gilden, die den Armen ihre Hilfe gaben, nennen die Akten die Kaufgilde, die Wollweber, die Schneider, die Bäcker und die Leinweber.
Nach der Armenverordnung des Dorstener Landesherrn, dem Kölner Kurfürsten, von 1788 hatten die Gilden alle jährlichen Spenden an Arme der Armenkommission zu benennen. Damit war die direkte Spendentätigkeit der Gilden beendet. Sie mussten ihre Geld- und Sachspenden, Renten und andere für Arme gespendeten Erträgnisse der Armenkommission zur geordneten Verteilung übergeben.
Religiöse Bruderschaften spendeten für Arme
Neben den Gilden bestanden in Dorsten fünf religiöse Bruderschaften: die Bruderschaft Beatae Mariae Virginis (Muttergottesbruderschaft), die St. Antonius-, St. Agatha-, St. Barbara- und die Dreifaltigkeits-Bruderschaft. Die Unterstützung ihrer Mitglieder lag im Bruderschaftsgedanken begründet. Die älteste Bruderschaft war die B. M. V., die 1350 „zu Zeit einer großen, zu Dursten grassierten pestilentz“ gestiftet wurde. Wie die Gilden, erwarben die Bruderschaften zahlreiche Renten. Daneben wandten sie auch ihre Hilfe den übrigen Armen zu. Die Bruderschaft B. M. V. verzeichnete in ihrem Register von 1569 Ausgaben „vor dy Armen“. Über das karitative Wirken der anderen Bruderschaften sind keine Nachrichten erhalten, doch darf angenommen werden, dass sie Arme ähnlich unterstützten.
Lembecker Schlossherr lieh sich Geld und verweigerte Zinszahlungen
Mit der Stiftung des Dorstener Kanonikers Bley 1441 wurde ein Dorstener Armenfonds eingerichtet, den eine Armenkommission verwaltete und in dem alle Stiftungen, Schenkungen, Vermächtnisse, Renten karitativer Bürger für die Armen zusammengefasst waren. Die Gelder wurden verliehen, angelegt und die Zinserträge unter den Armen verteilt und die Wohlfahrtsausgaben damit bestritten. 1796 betrug das Kapital rund 7.500 Reichstaler. Dazu kamen noch Einnahmen aus dem Opferstock der Kirche, aus der Kollekte und den wöchentlichen Sammlungen von Almosen in der Stadt.
Während des Dreißigjährigen Kriegs verarmt
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts erfuhr die Wohlfahrtspflege einen tiefen Einschnitt. Der Dreißigjährige Krieg ruinierte die Stadt durch finanziell aufwändige Einquartierungen. Freiherr von Westerholt auf Schloss Lembeck hatte sich von der Armenverwaltung Geld geliehen und blieb die Zinsen schuldig. Der Rechtsstreit dauerte Jahre, die Zahl der Säumigen wuchs derart an, dass die Armenverwaltung 1736 wieder einmal gegen den Freiherrn von Westerholt gerichtlich vorgehen musste. 1743 verurteilte das Gericht das Haus Westerholt zu Lembeck zur Zahlung, so dass die Armen zu ihrem Recht kamen. Die Armenverwaltung hatte mehrere Prozesse zu führen, denn etliche private Stiftungen verwalteten ihre Einnahmen selbst und es gab immer wieder auch bösartige Vorenthaltungen von Geldern. 1764 betrug der Rückstand über 649 Reichstaler. Daher verfügte 1788 der Kurfürst und Landesherr, dass sämtliche Stiftungen, die je für Arme errichtet worden waren, dem allgemeinen Armenfonds zugeteilt und die Verwaltung einer vom Kurfürsten ernannten Armenkommission übertragen werden sollten. Dennoch musste immer wieder gegen säumige Zahler und diejenigen vorgegangen werden, die sich nicht an die kurfürstliche Anordnungen hielten. Darunter befand sich auch der Bürgermeister von Dorsten, da er das Kapital der von ihm verwalteten Armenstiftungen nicht an den Armenfonds übertragen wollte.
Abgaben bei Tanzveranstaltungen kamen den Armen zugute
Als Dorsten 1803 mit dem Herzog von Arenberg eine andere Landesherrschaft bekam, wurde das Dorstener Armenwesen der herzoglich-arenbergischen Regierung unterstellt. An der Verwaltung des Fonds änderte sich aber nichts. Zu dieser Zeit hatte der Armenfond jährlich Einkünfte von etwa 1.214 Reichstalern, 131 Malter Roggen, 34 Malter Buchweizen, 14 Malter Korn und 63 Malter Hafer. Wenige Jahre später kam Dorsten per Dekret zum Großherzogtum Berg und somit zum Rhein-Departement und Arrondissement Essen; die Mairie Dorsten wurde zugleich Hauptstadt des Kantons Dorsten. Das Dekret von 1809 regelte das gesamte Wohlfahrtswesen mit dem Endzweck, alle Armenstiftungen zusammenzufassen und ohne Rücksicht auf ihren Ursprung zu verstaatlichen. In Dorsten leitete ein aus fünf Personen bestehendes Zentralwohltätigkeitsbureau die Armenangelegenheiten, 1812 wurde das Zentralbureau auch für das Rhein-Departement errichtet, dem die in jeder Mairie vorgesehenen Hilfsbureaus unterstanden, die allerdings nie eingerichtet wurden. Denn in französischer Zeit vernachlässigten die Behörden die Armenfürsorge. Die Preußen revidierten 1815 die französische Wohltätigkeitsordnung und unterstellten das Armenwesen wieder dem Vorsitz der Ortsgeistlichen. Ab 1817 regelte eine entsprechende Instruktion der Königlichen Regierungskommission in Münster das Armenrecht für Stadt und Land.
Armenpflege wurde bürgerlich
1827 erklärte die Regierung die Armenpflege zu einer rein bürgerlichen Sache und räumte den Bürgermeistern den Vorsitz in den Armenkommissionen ein. Im Jahre 1840 wurde in Dorsten und in den Gemeinden der Herrlichkeit für die Erlaubnis zu Tanzbelustigungen eine Steuer (Armenabgabe) in Höhe von siebeneinhalb Silbergroschen erhoben, die später auf 15 erhöht wurde. Auch die viel später eingeführten Abgaben für Verlängerung der Polizeistunde kamen anfangs ganz und danach teilweise der Armenfürsorge zugute. – Aus der Armenkommission entstand zunächst das Wohlfahrtsamt und für die Menschen ohne eigenes Einkommen richtete in bundesrepublikanischer Zeit die Bundesregierung nach Erlass des Bundessozialhilfegesetzes die Sozialhilfe ein.
Armenpflege in der Herrlichkeit Lembeck
In der Herrlichkeit Lembeck war die Armenpflege ursprünglich so organisiert wie eingangs beschrieben, dass die Pfarrer von den begüterten Eingesessenen Almosen in Empfang nahmen und an die Notleidenden verteilten. Oft fand dieses Almosengeben anlässlich besonderer religiöser Zusammenkünfte statt, um die Abwendung von Hagelschlag, Überschwemmung und Trockenheit zu erflehen. So trafen sich traditionell die Bauern von Wessendorf am Tage St. Johanni am Hagelkreuz im Feld. Jeder Bauer schenkte den Armen ein Brot und einen klevischen Stüber. In Erle war es ähnlich. Dort trafen sich die Bauern am Kaltenbaum zwischen Böckenhoff und Erle. Schon 1668 gab es dort ein fundiertes Armenvermögen, das Pastor Spanier bei den Bemittelten sammelte und bei den Erlern verzinslich unterbrachte.
Durch Stiftungen und Vermächtnisse waren um 1700 einige Gemeinden wie Lembeck, Wulfen und Erle in die Lage versetzt, ein fundiertes Armenvermögen anzusammeln. Die Verwaltung wurde durch gewählte „Armenväter“ und einem Armenprovisor besorgt, die unter Oberaufsicht des Lembecker Herrlichkeitsrichters standen. Wegen der vielen Notjahre Anfang des 19. Jahrhunderts wurden in Altschermbeck Hilfsvereine gegründet. In Hervest stiftete Pfarrer Schulte Tenderich den Armen 138 Taler. Im Jahre 1839 gab es in Lembeck 120 Arme, die unterstützt werden mussten, in Wulfen sieben, in Hervest zwölf, in Rhade 17, in Holsterhausen 22 und in Erle zehn; in Altschermbeck gab es zu diesem Zeitpunkt keine Armen, 19 Jahre zuvor, 1820, waren es noch sechs.
Veränderungen durch den Bergbau und den Erste Weltkrieg
Tiefgreifende Veränderungen in den Fürsorgeverhältnissen und neue Aufgaben auf diesem Gebiet brachten überall im Reich und so auch in der Herrlichkeit wirtschaftliche und politische Ereignisse wie die Industrialisierung der südlichen Randgemeinden Holsterhausen und Hervest sowie der Erste Weltkrieg. Die nach Abteufung der ersten Schächte einsetzende Zuwanderung einer fluktuierenden Bevölkerung, die zu ihrem Unterhalt ausschließlich auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesen und den Schwankungen und Krisen des Wirtschaftslebens weitgehend ausgesetzt war, bedingte eine Erweiterung der Wohlfahrtspflege nach Umfang und Inhalt. An den Zahlen des Etats lässt sich erkennen, wie in den Industriegemeinden Hervest und Holsterhausen zwischen 1910 bis 1914 die Fürsorgeausgaben angewachsen waren und welche bedeutende Höhe sie in den Nachkriegsjahren 1924/25 erreicht haben, während in den anderen landwirtschaftlich strukturierten Gemeinden der Herrlichkeit die Ausgaben zwar auch gestiegen, aber im Verhältnis doch weit zurückgeblieben sind.
Belgische Besetzung brachte große Behinderungen
Eine ungeheuere Belastung für Stadt und Land brachte die Zeit der belgischen Besatzung mit den Verkehrssperren und sonstigen Behinderungen. Die Arbeiter konnten nicht mehr zu ihren Arbeitsstellen kommen. Der Verdienst fiel aus, und es mussten die Gemeinden eintreten. In Hervest und Holsterhausen wurden Volksküchen eingerichtet, die beispielsweise im Januar 1924 7.500 Portionen ausgegeben haben und steigend im Mai des gleichen Jahres 87.500 Portionen. 1926 gab es in diesen beiden Industriegemeinden 134 Hauptunterstützungsempfänger, 37 Ehefrauen und 34 Kinder. Die so genannte besondere Fürsorge (gehobene Fürsorge) erfasste in der Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge 35 Kriegerwitwen, 84 Kriegerhalbweisen, 29 Kriegervollweisen, 24 Kriegereltern, 34 Kriegsbeschädigte. Im Jahr 1927 gab es in der Herrlichkeit 68 Personen der Kleinrentnerfürsorge, 164 Sozialrentner aus der Invaliden- und Angestelltenversicherung. In 768 Fällen wurde die ärztliche Hilfe von der Fürsorge übernommen, in gleicher Höhe die Arzneihilfe. Auf Kosten der öffentlichen Fürsorge mussten 15.274 Pflegetage in Krankenhäusern bewilligt werden. In 75 Fällen wurden insgesamt 900 Monatszahlungen Miete übernommen und für 2.834 Zentner Kohle die Rechnungen bezahlt.
Die Gemeinde Holsterhausen gründete erst spät einen Armenfonds
In Holsterhausen wurde erst 1831 ein Armenfonds mit 60 Talern eröffnet. Das Problem war drängend, denn in diesem Jahr gab es in Holsterhausen 22 Arme. Pfarrer Peter Joseph Drecker (1817-1861) hatte die Einnahmen für Tanzmusikerlaubnisscheine und die Einnahmen des Armenstocks dafür angesammelt. Er übernahm die Verwaltung des Armenvermögens bis 1838, dann verwaltete ihn der Schankwirt Tees genannt Buerbaum. Zu den Wohltätern der Armen in Holsterhausen gehörte der in Wulfen geborene und in Osnabrück verstorbene Weinhändler Bernhard Schröder, der den Holsterhausener Armen 1784 testamentarisch „100 Taler Geld“ mit der Bestimmung vermachte, dass der Pastor aus den Zinsen vier Seelenmessen lesen und den Rest unter den Armen verteilen sollte.
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Quellen: Wilhelm Engberting „Armenanstalten und Wohlfahrtspflege der Stadt Dorsten bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts“, Inaugural-Dissertation, Münster 1936. – Sonderausgabe der „Dorstener Volkszeitung“ von 1927.