Von Wolf Stegemann
25. Januar 2021. – Die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 durch Abteilungen der Sowjetarmee setzte dem KZ Auschwitz als größtem nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager ein Ende und brachte etwa 7000 im Lager zurückgelassenen kranken Häftlingen die Freiheit. Für die große Schar der schon früher von Auschwitz nach Deutschland evakuierten Häftlingen bedeutete die Befreiung die Ankündigung der nahenden Freiheit. Der 27. Januar 1945 schloss jedoch die Geschichte des KZ Auschwitz nicht ab. Geblieben sind die Erinnerungen ehemaliger Häftlinge der deutschen Verbrechen in Auschwitz in den Akten der nachfolgenden Auschwitzprozesse, Erinnerungen in den Medien und der Literatur. Zur Mahnung erinnert dieser Gedenktag. Für die Welt wurde Auschwitz zum Symbol der nationalsozialistischen Verbrechen der Deutschen. Wer das Lager besucht, mag sich stören an den polnisch-touristischen Effekten vor dem Lagereingang, wer es dann verlässt, ist erschüttert von dem, was er dort gesehen und erfahren hat. So erging es auch 1994 Stadtdirektor Dr. Zahn und dessen Frau zusammen mit dem damaligen Geschäftsführer des Jüdischen Museums, Wolf Stegemann (Foto), die nach Auschwitz fuhren und dort Blumen niederlegten zum Gedenken an die in Konzentrationslagern ermordeten Dorstener Juden. In Auschwitz wurden Angehörige der Familien Metzger, Joseph, Perlstein, Schöndorf, Moises und Lebenstein ermordet. Die Rückfahrt mit dem Taxi von Auschwitz nach Rybnik, Dorstens polnischer Partnerstadt, verlief dann schweigend, so sehr hatte Auschwitz sie emotional mitgenommen. – Das Foto zeigt Dr. Zahn (l.) und W. Stegemann beim Rundgang in Auschwitz.
Heute wenig Kenntnisse über Nationalsozialismus und Auschwitz in Schulen
Das Wochenmagazin „stern“ brachte eine Studie heraus, in der zu lesen war, dass in Deutschland jeder Fünfte zwischen 18 und 29 Jahren noch nie etwas von Auschwitz gehört hat. Das sorgte für Aufsehen. Prof. Dr. Benjamin Ortmeyer, Erziehungswissenschaftler und Hochschullehrer an der Goethe-Universität Frankfurt, der Lehramtsstudenten ausbildet, hatte rund 1000 Studierenden ihr Wissen über den Nationalsozialismus abgefragt. Thomas Dierkes von der Wochenzeitung „Die Zeit“ befragte ihn darüber. In dem Interview begründet er seine Erhebungen damit, dass er die Umfrage nicht gemacht habe, um Studierende wegen ihres Nichtwissens zu blamieren, sondern im Sinne der Sokrates-Methode, Nichtwissen in Wissen zu verwandeln. Ortmeyer: „Die Zahl von sechs Millionen ermordeter Juden und auch der Begriff Auschwitz sind zwar bekannt, aber fundierte Kenntnisse darüber fehlen.“ Das von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützte Lehr- und Forschungsprojekt an der Frankfurter Uni hatte den Titel „Reflexionen über die NS-Zeit und die NS-Pädagogik als Vorbereitung auf den Lehrberuf“. Darin wurden die Verbrechen der Nazis sowie ihre Ideologie und Pädagogik thematisiert. Die Forschungen wurden „anhand umfangreicher Fragebogenaktionen durchgeführt“. Aus den Fragestellungen hätten 90 Prozent der Befragten, so Ortmeyer, selbst gemerkt, wie wenig sie wussten. Daraus sei bei ihnen ein Interesse erwachsen, „sich genauer mit den Verbrechen des NS-Regimes zu befassen“. – Foto: Dorsten Bürgermesiter Lampen begrüßt das jüdische Eherpaar Metzger. Ernst Metzger überlebte die Konzentrationslager und lernte danach seine Frau kennen, die ebenfalls das KZ überlebt hatte. Über Schweden verzogen sie in die USA und besuchten 1983 Dorsten.
Vielen der Studierenden sei überhaupt nicht klar gewesen, wie groß die jüdischen Gemeinden in den Jahren 1932 und1933 in Deutschland waren. Daher glaubten mehr als 70 Prozent der Befragten, dass es „mehrere Millionen Juden“ in Deutschland gegeben habe (es waren rund 500.000). Die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden bezieht sich auf das von Deutschen besetzte Europa. Das war vielen Lehramtsstudenten nicht bewusst. Dazu Originalton Prof. Ortmeyer: „Das wurde ihnen in der Schule offenbar nicht vermittelt.“
„Schwarzes Loch“ im Wissen der Studenten
In den Schulen werde auch wenig vermittelt, welche Verbrechen von den Deutschen in den besetzten Gebieten außer der Vernichtung der jüdischen Menschen sonst noch begangen wurden. Das sei im Wissen der Studenten ein „nahezu schwarzes Loch“. Benjamin Ortmeyer betont, dass gerade Lehramtsstudenten grundlegende Kenntnisse über die NS-Zeit haben sollten, um sie an ihre Schüler einmal weitergeben zu können. Auf das lustlose Geraune von Schülern im Unterricht, wenn das Thema Nationalsozialismus angeschnitten wird: „Nicht schon wieder…“, bemerkt Prof. Ortmeyer (Foto) allerdings, dass dies auf die von ihm Befragten nicht zutraf. „Sie lobten es ausdrücklich, wenn der Nationalsozialismus intensiv behandelt“ und von „von engagierten Lehrkräften vorgetragen wird.“ Positiv fanden die Befragten, wenn beispielsweise Überlebende des Holocaust in die Schule kamen und ihre Erlebnisse schilderten. 50 Prozent der Befragten fanden es inakzeptabel, wenn „das Thema nur dozierend und oberflächlich behandelt worden war“. So sahen es auch viele Lehrer im Kreis Recklinghausen, die immer wieder den Marler Auschwitz-Überlebenden Rolf Abrahamson in ihre Klassen eingeladen hatten.
Nationalsozialismus stand noch in den 1960er-Jahren nicht im Lehrplan
In den offiziellen Lehrplänen für den Unterricht im Fach Geschichte steht der Nationalsozialismus schon seit 1949. Allerdings hatte man ihn in den Schulen ignoriert. Durch den streng chronologisch aufgebauten Geschichtsunterricht hat man es „mit Absicht nicht geschafft“, aus zeitlichen Gründen das Dritte Reich durchzunehmen. Aus eigener Erfahrung kann der Autor berichten, dass in seiner Schule Anfang der 1960er-Jahre nur bis zur Weimarer Republik unterrichtet wurde, danach ging es mit der Gründung der Bundesrepublik unter dem Begriff „Zeitgeschichte“ weiter. Ihm ist heute klar, warum. Viele Lehrer waren Nationalsozialisten gewesen, mehr oder weniger aktiv. Wie sollten sie dann den fragenden Schülern ihr Mitwirken im nationalsozialistischen Staat erklären? Stattdessen erzählten sie ihre Kriegserlebnisse mit den „bösen Russen“. In den 1980er- und 90er-Jahren gab es eine breite Bewegung des „forschenden Lernens“ an historischen Stätten und Beteiligung an Wettbewerben. Derartige Projekte gibt es heute nur noch vereinzelt.
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