Von Wolf Stegemann
19. Januar 2021. – Sieht man auf die von Politikern stets propagierte Chancengleichheit von Männern und Frauen und blickt man in die Vergangenheit und die noch recht stolpernde Entwicklung in der Gegenwart, dann ist Schulterzucken angesagt. Da braucht man nur in den Dorstener Stadtrat zu schauen, in dem die Frauen in absoluter Minderzahl sind. Und blickt man in die Rechtsgeschichte, dann durften Frauen ab 1899 in Preußen wohl das Abitur machen, aber erst ab 1908 studieren. Allerdings durften Frauen mit ihrem erworbenen Wissen ohne Erlaubnis ihres Ehemannes nicht arbeiten. Erst ab 1977.
Das 19. Jahrhundert gilt in der deutschen Bildungsgeschichte als „Jahrhundert der Bildung und der Gebildeten“. Doch von den wachsenden Bildungschancen der Jungen waren die Mädchen grundsätzlich ausgeschlossen. Der Schulbesuch hatte sich traditionell am zukünftigen Beruf der Söhne zu orientieren und wurde den Arbeitserfordernissen der Familienökonomie untergeordnet. Eine Grundbildung in der Volksschule bei Bauern- und Handwerker-Familien und eine höhere Bildung bei anderen Familien sah man für das Berufsziel Hausfrau als ausreichend an. 1896 konnten erstmals sechs Frauen in Preußen am Luisen-Gymnasium Berlin ihre Reifeprüfung ablegen; studieren durften sie aber damit nicht, dazu bedurfte es einer ministeriellen Sondergenehmigung. Nur zögerlich gelang den Frauen der Schritt hinein in die Universitäten. Ab 1895 konnten angehende Oberlehrerinnen in Preußen – zuerst bis 1900 nur als Gasthörerinnen – Vorlesungen besuchen.
Zwei Mädchen machten als erste Dorstenerinnen das Abitur
Wenn heute jedes Jahr rund hundert Dorstener Mädchen Abitur machen, studieren und akademische Berufe ergreifen können, so ist das nichts Außergewöhnliches mehr. Die Frau Doktor und Frau Professor stehen ihren „Mann“. Das war nicht immer so.
Josefa Möller, genannt „Sepperl“, und Mathilde Frank hießen die beiden Mädchen, die als erste Dorstenerinnen im Jahre 1921 Abitur machten und somit einen Meilenstein setzten. Vor ihnen und mit ihnen hatte kein anderes Dorstener Mädchen die Reifeprüfung abgelegt. Das war ein ungewöhnliches Ereignis, so dass die „Dorstener Volkszeitung“ groß darüber berichtete. Josefa und Mathilde besuchten die Ursulinenschule und mussten, weil in Dorsten keine Abiturmöglichkeit bestand, in Schwarzburg-Sonderhausen (Thüringen, Bild oben) das Gymnasium weiterbesuchen, wo sie auch ihr Abitur (mit den besten Noten) ablegen konnten. Im gesamten damaligen Deutschen Reich gab es neben diesem Ort nur noch Berlin und Leipzig, wo Mädchen zum Abitur zugelassen wurden. Josefa Möller, die 1972 in Dorsten starb, studierte Pharmazie und gründete in der Alleestraße die Marienapotheke.
Mathilde Frank, geboren 1900 in Gelsenkirchen, wurde Zahnärztin. Ihr Vater war Bauunternehmer in Gelsenkirchen und zog mit seiner Familie nach Dorsten, weil es hier eine Ursulinenschule gab, und die Tochter keine Fahrschülerin werden sollte. Nach dem Studium der Zahnmedizin in Münster heiratete Mathilde 1927 den Chemiker Dr. Hünecke, mit dem sie 1932 nach Koblenz zog und dort bis zu ihrer Pensionierung praktizierte. Sie starb 1997 in Koblenz.
Die Verbindungen nach Dorsten und zur alten Schule hielt Mathilde Frank-Hünecke aufrecht. Sie nahm regelmäßig an Klassentreffen teil. So erinnerte sie sich daran, dass ihre Eltern nicht nur Anerkennung bekamen, weil sie ihre Tochter das Abitur machen ließen, sondern auch Kritik von Stammtisch-Freunden und Nachbarn, die meinten, das Studium der Tochter sei doch nur „hinausgeschmissenes Geld“. Doch das war zur Zeit ihres Studiums nicht knapp. Als der Vater ihr vom Dorstener Postamt Geld nach Münster schickte, legte er 1924 eine Billion Mark auf den Schalter. Über Nacht kam die Währungsreform. Der Postbote in Münster händigte ihr gerade noch 50 Mark aus.
Heute machen viel mehr Frauen als Männer das Abitur
Die Zahl der Abiturienten in Deutschland ist zurückgegangen. Im Jahr 2020 erwarben rund 421.000 Schülerinnen und Schüler die Hochschul- oder Fachhochschulreife, wie das Statistische Bundesamt Wiesbaden mitteilte. Das waren 2,7 Prozent weniger Studienberechtigte als im Vorjahr. Dieser Rückgang entspricht den Angaben zufolge in etwa der demografischen Entwicklung. 53,7 Prozent der Studienberechtigten waren im vergangenen Jahr Frauen, 46,3 Prozent Männer. Mittlerweile sind junge Frauen fleißiger und wesentlich erfolgreicher in der Schule als ihre männlichen Altersgenossen. Und bei den höheren Bildungsabschlüssen haben Frauen die Männer laut Statistik mittlerweile klar überholt. Im Jahr 2016 – jüngere Daten liegen noch nicht vor – hatten nach Angaben des Landesamtes für Statistik 42 Prozent der jungen Frauen zwischen 18 und 24 Abitur oder Fachhochschulreife, aber nur 35 Prozent der Männer. Damit hat sich das einstige Bildungsgefälle zwischen Männern und Frauen in sein Gegenteil verkehrt.
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