Analyse von Helmut Frenzel
2. Oktober 2020. – Das Ergebnis der Kommunalwahl am 13. September 2020 hat die politische Landschaft in Dorsten verändert. Die CDU hat mit 53 Prozent die absolute Mehrheit der Stimmen errungen, sechs Prozentpunkte mehr als 2014. Im Rat der Stadt hält sie künftig 23 der 44 Sitze und kann ihre Vorhaben und die des Bürgermeisters anders als bisher ohne die Unterstützung anderer Parteien umsetzen. Dieser Wahlerfolg ist durchaus bemerkenswert. Zuletzt erreichte die CDU 2004 die absolute Mehrheit mit 51 Prozent und 1999 mit 53 Prozent und davor in den 1970er Jahren. Nun also kann die CDU, die zugleich den Bürgermeister stellt, allein regieren. Von den anderen Parteien, die schon im letzten Rat vertreten waren, konnten sich nur die Grünen verbessern. Ihr Stimmenanteil verdoppelte sich auf 14 Prozent. Damit sind die Grünen auf dem besten Weg, die SPD als zweitstärkste Ratsfraktion demnächst abzulösen. Demgegenüber wurden die FDP und Die Linke pulverisiert. Ihr Stimmenanteil halbierte sich nahezu auf unter drei Prozent. Sie stellen noch je ein Ratsmitglied und haben damit ihren bisherigen Fraktionsstatus verloren. Das bedeutet, dass sie künftig kaum noch Einfluss haben. Am härtesten traf es die SPD. Sie verlor ganze 16 Prozentpunkte gegenüber 2014; ihr Stimmenanteil schrumpfte von 34 Prozent auf nur noch 18 Prozent. Von ihren bisherigen 15 Sitzen behält sie noch acht. In der Vergangenheit bildete sie dank ihrer Stärke ein Gegengewicht zur CDU-Fraktion. Davon kann jetzt kaum noch die Rede sein.
Selbstverschuldeter Absturz von SPD und FDP
Wie groß das Debakel der SPD ist, wird deutlich, wenn man einen Blick in die Vergangenheit wirft. Ihr bestes Ergebnis erzielte sie bei der Kommunalwahl 1994 mit 45 Prozent, zwei Prozentpunkte mehr als die CDU. Seither haben sich 60 Prozent ihrer Stammwählerschaft anders orientiert. Dass es dafür auch hausgemachte Gründe gibt, zeigt ein Vergleich mit den Kreisergebnissen. Bei der Wahl zum Kreistag Recklinghausen verlor die SPD 10 Prozentpunkte gegenüber 16 in Dorsten, behauptete sich im Kreis aber immerhin mit einem Ergebnis von 30 Prozent gegenüber 18 Prozent in Dorsten. Hier wird ein Wählerpotential sichtbar, das die SPD in Dorsten nicht für sich zu mobilisieren vermochte. Die Zahlen machen deutlich, dass in der Dorstener SPD etwas falsch läuft, grundlegend falsch. Der Spitzenkandidat der SPD Friedhelm Fragemann machte es sich leicht: Der negative Bundestrend und der plötzliche Abgang der Spitzenkandidatin Jennifer Schug seien schuld, urteilte er. Was soviel heißt wie: Mit dem Absturz seiner Partei hat er nichts zu tun. Das sagte der Politiker, der seit Menschengedenken Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion ist und maßgeblich das Bild der Partei in der Dorstener Öffentlichkeit prägte. Der Spitzenkandidat der FDP Lutz Ludwig sagte zum niederschmetternden Ergebnis seiner Partei nichts, was eine Erwähnung verdiente.
Ratsparteien ohne Profil werden nicht gebraucht
Sucht man nach Gründen für das katastrophale Abschneiden von SPD und FDP stößt man schnell auf den Kernpunkt: Warum sollten die Dorstener Bürger diese beiden Parteien wählen? Wofür stehen sie? Stellt man die Frage im Bekanntenkreis, erhält man zur Antwort ein Achselzucken: Weiß nicht. Kennen sie irgendein Thema, mit dem sich die beiden Parteien profiliert haben? Auch nicht. Warum sollten sie SPD oder FDP wählen? Damit ist man beim eigentlichen Problem. Die kommunale Demokratie in Dorsten befindet sich in einem desolaten Zustand. Formal verläuft alles demokratisch. Alle Beschlüsse gehen durch den Rat und dort wird über sie abgestimmt. Aber ist es Demokratie, wenn alle Beschlüsse mit den Stimmen aller Ratsmitglieder gefasst werden oder sich ausnahmsweise mal der eine oder andere enthält? Hinter der demokratischen Fassade ist nur inhaltliche Leere. In den beiden letzten Amtsperioden hatte die CDU keine eigene Mehrheit im Rat. Während dieser Zeit erwies sich die FDP als zuverlässiger Mehrheitsbeschaffer. Der frühere Fraktionsvorsitzende der FDP Tristan Zielinski hielt salbungsvolle Reden. Aber damit kaschierte er nur den Mangel an politischem Anspruch. Am Ende stimmte seine Partei bei Beschlussvorlagen immer mit der CDU. So hielt es auch sein Nachfolger. Die FDP war ein Anhängsel der CDU ohne eigenes Profil. Unter diesen Umständen hatte die SPD den Freiraum, sich in der Ratsarbeit zu profilieren und zu Beschlussvorlagen auch einmal nein zu sagen. Aber sie nutzte ihn nicht. Dazu hätte sie sich auf bestimmte für die Bürger wichtige Themen konzentrieren und tiefer gehende Sachkenntnis aneignen müssen. Das hat sie versäumt. Also stimmte auch sie den Beschlussvorlagen zu. Für die Grünen gilt ungefähr dasselbe. Dieses Verständnis von politischer Verantwortung war für alle bequem, niemand konnte für irgendetwas zur Rechenschaft gezogen werden.
Gegen den Schulterschluss – Demokratie lebt von Meinungsstreit
So kam es dazu, dass die Beschlussvorlagen der Verwaltung fast durchweg mit den Stimmen aller Ratsmitglieder gefasst wurden. Es entstand ein Einheitsbrei, in dem die Ratsparteien konturenlos untergingen. Der Bundespräsident nannte kürzlich den Meinungsstreit einen unverzichtbaren Bestandteil einer funktionierenden Demokratie. Dagegen galt im Dorstener Rat bislang ein anderes Demokratieverständnis. Der frühere Bürgermeister Lambert Lütkenhorst hatte den Schulterschluss der Ratsparteien zum höchsten Ziel erhoben – und hatte damit Erfolg. Unter diesem Motto wurden Jahr für Jahr die hochdefizitären Haushalte der Stadt, für die in einem Unternehmen der Vorstand umstandslos gefeuert worden wäre, mit den Stimmen aller oder fast aller Ratsmitglieder verabschiedet. Jene Haushalte, die Dorsten in die Überschuldung führten und die Stadt heute und auf Jahre hinaus in ihrer Handlungsfähigkeit beschränken. Um dazu als Ratsmitglied nein zu sagen, brauchte man nicht einmal ein Argument. Aber niemand tat das. Das galt auch für die Ansiedlung des Mercaden. Dass ein solches Projekt, das von Teilen der Dorstener Bevölkerung abgelehnt wurde, im Rat ohne Gegenstimmen angenommen wurde, ist kaum zu glauben. Und doch ist es so. Man könnte fortfahren mit den Schweizer Franken-Krediten und den Spekulationsgeschäften. Niemand aus dem Rat hat je eine zusammenhängende Aufstellung über die erlittenen Verluste gefordert – bis heute, mehr als zehn Jahre nach dem Beginn der Verlustserie. Wo bleibt da die Kontrolle der Verwaltung? Aktuell geht es um einen Neubau des Rathauses. Die Entscheidung dazu wurde in den nichtöffentlichen Teil der Ratssitzung verlegt und damit die Kontrolle durch die Öffentlichkeit verhindert. Die kommunalen Bauprojekte, bei denen die Kosten davonliefen, sind landesweit ungezählt und zeigen, wie die behauptete Wirtschaftlichkeit einer Maßnahme sich rasch ins Gegenteil verkehren kann. Dafür zahlt dann wieder der Bürger. Aber von dem Entscheidungsprozess wird er konsequent ausgeschlossen. Und keine der Ratsparteien nimmt daran Anstoß und fordert die Zulassung der Öffentlichkeit. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Ansätze zur Vitalisierung der Ratsarbeit
Der Schulterschluss der Ratsparteien zielte nicht auf Beschlüsse, die im Zusammenhang mit dem Verwaltungshandeln stehen. Dort sind die Spielräume für politische Profilierung gering. Vielmehr ging es um die im engeren Sinne kommunalpolitischen Sachverhalte. Das Haushaltsrecht ist ein zentrales Privileg des Parlaments und es gilt so auch für einen Stadtrat. Wieso forderte niemand, dass die Jahresabschlüsse mündlich im Rat vorgestellt und die wichtigsten Aspekte des Jahresergebnisses öffentlich behandelt werden? Dies betrifft das Thema Transparenz und Öffentlichkeit. Es gibt keine Demokratie ohne beides. Wieso fordert niemand von der Verwaltung, einen Plan vorzulegen, unter welchen Voraussetzungen die Stadt die hohen Grundsteuerhebesätze wieder auf ein Normalmaß zurückführen kann? Wie kann ein Haushalt aussehen, in dem das auf mittlere Sicht möglich ist? Niemand muss sich mit dem Spruch abweisen lassen, dass dafür kein Geld da ist. Viele Unternehmen müssen sich umstrukturieren, wenn die Mittel knapp sind. Warum nicht auch die Stadt Dorsten? Dahinter stehen die politischen Fragen, an denen die Parteien ihr politisches Profil schärfen können.
Rollenverständnis hat den Parteien und der Demokratie geschadet
Es ist unbestritten, das das Austragen von Meinungsverschiedenheiten, dazu Transparenz und Öffentlichkeit, zu besseren Ergebnissen in der Politik führt. So ist es nicht denkbar, dass die verlustreichen Schweizer-Franken-Kredite und die Spekulationsgeschäfte der Stadt möglich gewesen wären, wenn die Verluste von Beginn an transparent im Rat behandelt und über die Zeitungen in die Öffentlichkeit kommuniziert worden wären. Wo es keine Meinungsunterschiede gibt und keinen Streit darüber, wo alles alternativlos ist, braucht man kein Parlament und auch keinen Rat. Die Parteien im Dorstener Rat haben die Rolle, die ihnen in einem demokratischen System zugewiesen ist, nicht angenommen. Niemand braucht Parteien, die kein Profil haben. Mit ihrer Ratswahl haben die Bürger darauf reagiert und vor allem FDP und SPD abgestraft. Sie haben es nicht besser verdient. Im Hinblick auf die kommunale Demokratie in Dorsten ist es ein Weckruf. Es ist an der Zeit, dass sich etwas ändert, und es gibt jetzt die Chance dazu. Die Grünen werden mit ihrem nahezu verdoppelten Stimmenanteil selbstbewusster auftreten. Und die AfD, die erstmals mit drei Mitgliedern in den Rat einzieht, wird hoffentlich einen konstruktiven Beitrag leisten, die Langeweile aus den Ratssitzungen zu vertreiben. Und die SPD? Sie hat offenbar verstanden. Der kommissarische Vorsitzende des SPD-Stadtverbands Stephan Erbe äußerte sich selbstkritisch: Die SPD werte das Wahlergebnis als klaren Auftrag für einen Umbruch und eine Erneuerung der Partei.
Im neu gewählten Rat den Aufbruch wagen und neue Wege gehen
Auch der wiedergewählte Bürgermeister Tobias Stockhoff schlägt neue Töne an. Mit Blick auf die absolute Mehrheit der CDU im Rat sagte er, es werde jetzt noch wichtiger, andere Meinungen und Ideen einzubinden und Kompromisse zu suchen, ohne „ … dass es am Ende Konsens-Soße wird.“ Na denn. Hoffentlich geschieht das nicht wieder nur hinter verschlossenen Türen. Ohne Zweifel kann der Bürgermeister, der ja auch Vorsitzender des Rates ist, einen Aufbruch im Rat unterstützen. Dazu genügen vollmundige Bekenntnisse zur Demokratie nicht. Und auch die Stadtteilkonferenzen, an denen sich ein Prozent der Bevölkerung beteiligt, sind nicht mit kommunaler Demokratie zu verwechseln. Dazu gehört mehr. Eine repräsentative Demokratie, die Vertretung der Bürger, muss öffentlich wahrnehmbar sein und dafür müssen die Ratsparteien einiges tun. Warum reden in den Ratssitzungen immer nur dieselben wenigen Leute, der Bürgermeister und die Fraktionsvorsitzenden, während die anderen 40 Ratsmitglieder stumm dabei sitzen und gelegentlich den Arm heben, wenn sie dazu aufgefordert werden? Wenn Themen in den Ausschüssen vorbehandelt wurden, was in der Regel der Fall ist, wieso berichten nicht deren Mitglieder im Plenum des Rates über die Ergebnisse? In anderen Gremien, in denen Ausschüsse gebildet wurden, ist das selbstverständlich. Und überhaupt: Warum reden anstelle der Vorsitzenden nicht auch einfache Mitglieder der Fraktionen für ihre Partei zur Sache? Das würde dem Eindruck entgegenwirken, dass die Politik in Dorsten nur von einer Handvoll Leuten gemacht wird. Und es würde den Bürgern ermöglichen, Namen und Gesichter mit bestimmten Parteien in Verbindung zu bringen. Und warum nicht die Ratssitzungen per live stream im Internet übertragen? Es gibt viele Möglichkeiten, neue Wege zu gehen – wenn man nur will. Aber all das ändert nichts daran, dass es vorrangig die Aufgabe der SPD, der Grünen und der neu in den Rat eingezogenen AfD sein wird, für eine Wiederbelebung der Demokratie in Dorsten zu sorgen. Das dient ihrem eigenen Interesse und dem der Stadt.
Liebe Redaktion,
angesichts der stets unerfreulichen Meldungen im Kreis Recklinghausen fragen wir zwangseingemeindeten Nordlichter uns ständig, warum um alles in der Welt wir uns nicht endlich als selbstständige (Groß)Gemeinde zusammenschließen und dem Kreis Borken oder Coesfeld anschließen können. Die Unzufriedenheit wächst spürbar. Ein Erler Bürger, der sich noch gut an die Zeit der Zugehörigkeit im Kreis RE erinnert, sagte: “Das Beste, das Erle passieren konnte, war die kommunale Neuordnung. Wir sind mit Raesfeld eine eigenständige Gemeinde und gehören zum Kreis Borken. Hier sind wir richtig, die Mentalität passt, wir verstehen uns, ohne uns erklären zu müssen.” Das wünschen wir uns auch. Wer weiß, welche Anträge zu stellen, erste Schritte zu machen sind? Es wird Zeit, dass man uns ernst nimmt! Lembeck und Rhade sind es leid, das hochnäsige Gehabe. Und die anderen Nordlichter sicherlich auch. Gern lesen wir Anregungen, Ideen, Ratschläge zum Procedere. Herzlichen Dank!
Da bin ich auch mal gespannt, ob ausgerechnet die AFD für eine Wiederbelebung der Demokratie in Dorsten sorgt. Ganz ehrlich, ich glaube nicht daran. Im Grunde genommen sind die Wähler bzw. Nichtwähler selbst schuld, dass es soweit gekommen ist. Wenn knapp die Hälfte der wahlberechtigten Mitbürger ihr Grundrecht nicht wahrnimmt und der andere Teil Leute in den Rat wählt, die sich nicht gerade mit besonderem Engagement für ihren Wahlbezirk oder Stadtteil hervorgetan haben, wohl aber das richtige Parteiabzeichen haben, dann darf man sich nicht wundern. Zudem haben wir nach meiner Wahrnehmung in Dorsten eine Lokalpresse, die sich eher als Zentralorgan der stärksten Fraktion bzw. des Bürgermeisters versteht.