Bericht über eine denkwürdige Ratssitzung von Helmut Frenzel
21. Mai 2020. – Am 13. Mai 2020 fand eine Sitzung des Rates statt. Ort der Veranstaltung ist die Mehrzweckhalle in Altendorf-Ulfkotte, deren Größe die Einhaltung der geltenden Abstandsregeln für die etwa fünfzig anwesenden Personen ermöglicht. Als Punkt 3 der Tagesordnung steht ein Beschlussvorschlag zur Abstimmung, demzufolge der Rat seine Entscheidungsbefugnisse bis zum 14. Juni 2020 auf den Haupt- und Finanzausschuss überträgt. Der nordrhein-westfälische Landtag hatte zur Bewältigung der Corona-Pandemie Mitte April die Voraussetzungen dazu geschaffen, allerdings befristet für die Dauer der epidemischen Lage. Diese endet an eben jenem 14. Juni 2020.
SPD will Übertragungsbeschluss nicht mehr mittragen
Bürgermeister Tobias Stockhoff erläutert noch einmal die Beweggründe. Es gehe darum, die Handlungsfähigkeit zu sichern, zum Beispiel wenn der Rat aus unvorhersehbaren Gründen nicht in der Lage sei, zusammenzutreten. Der Beschluss erlaube es dem Haupt- und Finanzausschuss, auch Zuständigkeiten anderer Ausschüsse an sich zu ziehen und so der Empfehlung der Landesregierung zu folgen, die Zahl der Ausschusstermine zu reduzieren. Der Übertragungsbeschluss sei als vorsorgliche Regelung zu verstehen. Sofern davon Gebrauch gemacht werden müsste, werde er, der Bürgermeister, sich mit den Fraktionsvorsitzenden zuvor abstimmen. Er weist darauf hin, dass der Übertragungsbeschluss eine Zweidrittelmehrheit verlangt und nur zustande kommt, wenn auch die SPD-Ratsfraktion zustimmt. Daraufhin schreitet Friedhelm Fragemann, Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion, zum Mikrofon. Er erklärt, dass seine Fraktion den Übertragungsbeschluss nicht unterstützen wird. Die Infektionswelle sei unter Kontrolle. Die Übertragung der Entscheidungsbefugnisse des Rates an einen Ausschuss sei eine weitreichende Entscheidung und deswegen eine Option nur im Falle einer akuten Gefährdungslage. Davon könne aber aktuell keine Rede mehr sein. Er plädiere dafür, dass Rat und Ausschüsse wieder zu ihrem normalen Sitzungskalender zurückkehren und ihre Aufgaben wahrnehmen. In der CDU-Fraktion macht sich Unruhe breit.
Bürgermeister verweigert Zustimmung zu seinem eigenen Beschlussvorschlag
Der Bürgermeister ergreift das Wort. Er sei von der SPD enttäuscht. Man habe sich im Vorfeld abgestimmt und die SPD sei bereit gewesen, den Beschluss mitzutragen und so die Zweidrittelmehrheit zu sichern. Davon rücke die SPD jetzt ab. Es wäre fair gewesen, wenn Fragemann die anderen Parteien vor der Ratssitzung informiert hätte. Wenn die SPD nun aussteige, sei eine Zweidrittelmehrheit nicht mehr möglich. Unter diesen Umständen werde er, der Bürgermeister, nicht mehr für den Beschlussvorschlag stimmen. Bernd Schwane, Vorsitzender der CDU-Ratsfraktion, nimmt das Mikrofon, sichtlich aufgebracht. Das Verhalten der SPD sei nicht akzeptabel. Man sei sich mit der SPD einig gewesen, für den Übertragungsbeschluss zu stimmen. Fragemann habe wohl auf Wahlkampf umgeschaltet und hoffe mit der Ablehnung des Übertragungsbeschlusses Punkte für seine Partei zu sammeln.
Ein schwarzer Rabe zieht die Aufmerksamkeit auf sich
Während der Rede von Bernd Schwane hat sich unterdessen ein Rabe Gehör verschafft, indem er an dem rundumlaufenden schmalen Fensterband im oberen Bereich der Halle ständig mit seinem Schnabel von außen gegen die Fensterscheiben hämmert. Und zwar so laut, dass man dem Redner nur schwer folgen kann. Auch als Friedhelm Fragemann seinem CDU-Gegenspieler antwortet, lässt der Rabe von seinem Tun nicht ab. In einer Zeit, in der man dabei sei, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben überall wieder hochzufahren, sagt Fragemann ohne Zeichen der Verunsicherung, sei es doch nicht nachvollziehbar, dass der Rat sich selbst entmachte, so wie wenn eine Gefährdungslage noch immer bestünde. Und außerdem: Bis zum 14. Juni, dem Ende der epidemischen Lage, sei noch eine einzige Sitzung des Rates geplant, nämlich am 13. Juni. Es gebe keine Anzeichen dafür, dass bis dahin Umstände einträten, die den Rat an einer regulären Sitzung hinderten. Wenn die Landesregierung die epidemische Lage verlängere, könne man in der Sitzung am 13. Juni neu entscheiden. Fragemann besteht darauf, er habe den Sinneswandel der SPD schon in einer Ausschusssitzung zum Ausdruck gebracht. Die anderen Ratsparteien hätten also davon gewusst oder wissen können. Er gestehe aber zu, dass er das besser in einer klareren Form hätte tun sollen. Den Vorwurf, die SPD führe Wahlkampf weist er zurück. Derweil klopft der Rabe unentwegt weiter gegen die Fenster.
Beschlussvorlage wird von der Tagesordnung genommen
Dann wieder der Bürgermeister. Wenn die SPD die Vorlage nicht unterstütze, dann werde er, der Bürgermeister, nicht für den Beschluss stimmen, wiederholt er. Bernd Schwane, in Rage, schimpft, das Verhalten der SPD sei ein Schlag gegen die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Parteien und beantragt eine Sitzungsunterbrechung. Nach einer kurzen Sitzungspause löst sich der Streit in Wohlgefallen auf. Bernd Schwane stellt den Antrag, den Beschlussvorschlag von der Tagesordnung zu nehmen. Alle stimmen zu. Der Rabe hat inzwischen die Seiten des Hauses gewechselt, von rechts nach links oder von links nach rechts – je nach dem, von welchem Ende der Halle aus man das Schauspiel beobachtet. Und hämmert weiter.
Schwarzer Rabe – Metapher für kommunalpolitisches Theater
Das Fazit? Schwer zu sagen! Ging es um die Angemessenheit einer Entscheidung oder um eine Stilfrage oder darum, dass eine Partei ihre einmal gefasste Meinung nicht ändern darf, auch wenn es dafür gute Gründe gibt, oder ging es um Wahlkampf? Und warum führt man die Abstimmung nicht einfach durch, auch wenn klar ist, dass es zu keinem Beschluss kommt? Wollte der Bürgermeister eine Abstimmungsniederlage vermeiden? Das ist doch Demokratie. Oder? Der einzige Besucher dieser denkwürdigen Sitzung, der Verfasser dieser Zeilen, ist sich unschlüssig. Aber in diesem Punkt ist er sich sicher: Den stärksten Eindruck hat der schwarze Rabe hinterlassen. Das wird in Erinnerung bleiben.