Von Wolf Stegemann
6. Januar 2019. – In diesen Tagen vor 100 Jahren – am 19. Januar 1919 – fand mit der Wahl der Deutschen Nationalversammlung die erste reichsweite deutsche Wahl statt, bei der Frauen das aktive und passive Wahlrecht besaßen. Allerdings fanden vor dieser Reichtagswahl mehrere Landtagswahlen schon mit aktivem und passivem Frauenwahlrecht statt: Am 15. Dezember 1918 in Anhalt und Mecklenburg-Strelitz, am 22. Dezember 1918 in Braunschweig und am 12. Januar 1919 in Bayern, Baden und Württemberg. Wahlen in Dorsten bzw. in den Landgemeinden fanden nach dem Januar 1919 statt. Hier traten insgesamt sieben Frauen zur Wahl an, wurden aber nicht gewählt.
1919 hoher Anteil von weiblichen Abgeordneten – erst ab 1987 wieder so hoch
Die rechtliche Grundlage, dass Frauen antreten konnten, wurde im „Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk“ vom 12. November 1918 geschaffen. Die durch die Revolution in Deutschland ins Amt gekommene und aus SPD- und USPD-Mitgliedern bestehende sechsköpfige Regierung bestimmte darin u. a.: Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen , geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“ Dies wurde dann auch im Reichswahlgesetz vom 30. November 1918 in Paragraph 2 umgesetzt: „Wahlberechtigt sind alle deutschen Männer und Frauen, die am Wahltag das 20. Lebensjahr vollendet haben.“ Bei der Wahl am 19. Januar 1919 zogen von den insgesamt 423 Abgeordneten immerhin 37 (beziehungsweise 41, die Angaben in den Quellen differieren) Frauen in die Nationalversammlung ein – mit einem Anteil, der erst bei der Wahl des Deutschen Bundestages im Jahre 1987 deutlich überschritten wurde.
Neu gegründete „Frauen-Zeitung“ trat auch für das Frauenwahlrecht ein
Dem vorausgegangen waren jahrzehntelange Kämpfe, ein Krieg und die sozialistische Novemberrevolution. Erst als Ergebnis aller drei historischen Entwicklungen wurden Frauen als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt. Wie immer beim tieferen Blick in die Geschichte ist es schwer, die einzelnen Ereignisstränge in ihrer Wirkungsmacht zu entflechten; letztendlich aber führte alles zusammen zu diesem staatspolitischen Meilenstein, dem Frauenwahlrecht in Deutschland. Bereits 70 Jahre zuvor, ebenfalls im Zuge einer revolutionären Bewegung, waren erstmals weibliche Forderungen nach staatsbürgerlicher Gleichberechtigung laut geworden. Die 1848er-Revolution, ein wichtiger Schritt auf Deutschlands Weg zur Demokratie, markiert auch den Beginn einer sozialen und politischen Frauenbewegung. In vielen Städten gründeten Frauen demokratische Vereine, politisierten sich und traten zunehmend für ihre eigenen Interessen ein – zunehmend auch für das Wahlrecht der Frauen. Eines der einflussreichsten dazu gegründeten Blätter war die „Frauen-Zeitung“ von Louise Otto, die wöchentlich unter dem Motto „Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen“ erschien.
Frauen gehörten nicht zum „Volk“ und Männer erst ab 25 Jahren
Schon in der ersten Nummer im April 1849 urteilte Louise Otto über die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, die über eine Verfassung des deutschen Volkes beriet und also über die demokratischen Grundrechte wie das Wahlrecht: „Wo sie das Volk meinen, zählen die Frauen nicht mit.“ Denn mit „deutschem Volk“ waren nur deutsche Männer über 25 gemeint. Zwar hatten die Frauen beim Kampf der Männer für Freiheit und Revolution mitgekämpft, ihre Rechte jedoch wurden „vergessen“, bespottet, unterdrückt und bekämpft. Trotz des so offenkundigen Ausschlusses der weiblichen Hälfte des „Volkes“ wurde nirgends die explizite Forderung nach dem Frauenwahlrecht laut, zumindest nicht öffentlich. Dahinter stand die berechtigte Angst vor Repressalien oder gar Vereinsverbot, denn das preußische Vereinsgesetz von 1850, das die meisten deutschen Staaten weitgehend übernommen hatten und das bis 1908 galt, verbot Frauen, politischen Vereinen beizutreten oder auch nur an politischen Versammlungen teilzunehmen. Viele Frauenvereine tarnten sich deswegen als „Wohltätigkeitsvereine“. Das Verbot war eine der Maßnahmen des Staates zur endgültigen Niederschlagung der bereits gescheiterten 1848er-Revolution. Hinzu kam ein Gesetz, das Frauen öffentlich mundtot machen sollte: Die so in den Medien bezeichnete „Lex Otto“ verbot Frauen (wie Louise Otto) die verantwortliche Redaktion oder Herausgabe von Zeitschriften. Bereits 1873 forderte die scharfzüngige und wortgewaltige Schriftstellerin Hedwig Dohm als erste Frau in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht für Frauen, das dann 45 Jahre später gesetzlich eingeführt wurde. In ihrem 1876 veröffentlichtem Werk: ‘Der Frauen Natur und Recht’ widmete sie einen großen Teil des Buches dem Stimmrecht der Frau. Dieser Text war ein Fanal für das Wahlrecht, ein auch heute noch gut zu lesender Essay, der mit den Vorurteilen seiner Zeit hart ins Gericht ging. Im Gegensatz zu Forderungen aus den vorausgegangenen Jahrzehnten, bei denen nie die Erklärung fehlte, warum die Frauen das Wahlrecht haben sollten, drehte Dohm den argumentativen Spieß um und fragte danach, warum Frauen es nicht hatten. Mit Dohms eigenen Worten:
„Die Frauen fordern das Stimmrecht als ihr Recht. Warum soll ich erst beweisen, daß ich ein Recht dazu habe? […] Der Mann bedarf, um das Stimmrecht zu üben, eines bestimmten Wohnsitzes, eines bestimmten Alters, eines Besitzes, warum braucht die Frau noch mehr? […] Die Gesellschaft hat keine Befugniß, mich meines natürlichen politischen Rechts zu berauben, es sei denn, daß dieses Recht sich als unvereinbar erwiese mit der Wohlfahrt des Staatslebens. Den Beweis dieses Antagonismus zwischen Staatsleben und Frauenrechten haben wir zu fordern. Man wird uns darauf warten lassen bis zum jüngsten Tag und sich inzwischen auf das Gottesgericht berufen, welches die Frau durch den Mangel eines Bartes als unpolitisches Wesen gekennzeichnet hat.“
In Dorsten: Alwine Tenberg, Bernardine Herwers und fünf weitere Frauen
Bei den Stadtverordnetenwahlen von 1919 war Alwine Tenberg (1869 – 1952) in den Grenzen des heutigen Dorsten die erste weibliche Kandidatin und ließ sich von der „Deutschnationalen Volkspartei“ aufstellen. Die Dorstenerin, die am Markt wohnte, blieb bei den Stadtverordnetenwahlen in Dorsten allerdings ebenso erfolglos wie ihre Partei. – Eine weitere Frau, die sich zur Gemeinderatswahl in Wulfen am 2. März 1919 als Kandidatin für das Zentrum aufstellen ließ, war die Wulfener Lehrerin Bernardine Herwers (1865 – 1943). Auf der Liste an vierter Stelle, als einzige Frau unter 28 Männern, hatte sie eine schlechte Ausgangsbasis. Sie bekam nicht genügend Stimmen, um in den Gemeinderat Einzug zu halten. Daraufhin unternahm sie keine weiteren politischen Aktivitäten mehr. Bernardine Herwers absolvierte ihre Lehrerinnenausbildung in Münster, wo bereits 1832 das erste katholische Lehrerinnenseminar Preußens entstanden war. Nach dem Examen trat die 19-Jährige ihre erste Stelle in Hainhausen (heute Brakel) an. Nach Wulfen kam sie im Frühsommer 1889, gemeinsam mit ihrer jüngsten Schwester Maria, einer kränklichen jungen Frau, für die sie die folgenden 45 Jahre sorgen würde. Sie bezogen eine Wohnung in Wulfen, Dorf 66. Das war in der Dülmener Straße, gegenüber der heutigen Montessorischule. 1922 war sie Mitbegründerin des Heimatbundes und des Wulfener Heimatvereins. Insgesamt hatten sich bei der Magistratswahl in Dorsten sowie der Gemeindewahl in Hervest sieben Frauen zur Wahl gestellt, sechs davon für das Zentrum. Hervest wie auch Wulfen und andere Gemeinden waren 1919 noch selbstständige Gemeinde, die erst 1943 bzw. 1975 Dorsten eingemeindet wurden. Im damaligen Dorsten waren es die drei verheirateten Frauen Alwine Tenberg, Markt 8, Gertrud Blome, Sandstraße 5, Hedwig Geißler, Essener Straße 19, sowie das Fräulein Maria Siebel, Lippestraße 21. In Hervest ließen sich die Emilie du Moulin (SPD), Burgsdorffstraße 70, auch sie verheiratet, und Marta Herpers, Witwe, Bismarckstraße 55, aufstellen. In Lembeck, Altschermbeck, Erle, Rhade und Holsterhausen fanden sich offenbar keine Frauen. Nur in Wulfen eben Bernardine Herwers.
Provinziallandtag Münster 1919 erstmals mit Sozialdemokraten und Frauen
In der Weimarer Republik wurde für die Provinziallandtage entsprechend den neuen demokratischen Grundsätzen das allgemeine und direkte Wahlrecht eingeführt. Dadurch gelangten 1919 erstmals sozialdemokratische Abgeordnete in den Provinziallandtag und wenig später erstmals drei Frauen in das 134 Abgeordnete umfassende Parlament. Mit der Demokratisierung hatte der Provinziallandtag auch bedeutende politische Mitspracherechte erhalten. So konnten der Oberpräsident und die Regierungspräsidenten nur noch im Einverständnis mit dem Provinzialverband ernannt werden. Zudem wählten die Provinziallandtage die Mitglieder des preußischen Staatsrates und entsandten Vertreter in den Reichsrat, so dass die Provinzen an der Gesetzgebung Preußens und des Reichs beteiligt waren. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wurde den Frauen das passive Wahlrecht wieder entzogen – sie durften zwar noch wählen, aber nicht mehr gewählt werden. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in beiden deutschen Staaten das aktive und passive Wahlrecht für Frauen wieder eingeführt, in der Bundesrepublik wurde es 1949 im Grundgesetz festgeschrieben.
Heute im Bundestag wieder weniger Frauen
Als am 19. Januar 1919 ein neuer Reichstag gewählt wurde, gaben 82 Prozent der wahlberechtigten Frauen ihre Stimme ab, und 37 weibliche Abgeordnete zogen ins Parlament ein. Diese Frauenquote von knapp neun Prozent wurde erst wieder im Deutschen Bundestag von 1983 erreicht. In den gegenwärtigen Bundestagsfraktionen ist der Frauenanteil besonders gering: Bei der FDP sind nur 18 von 80 Abgeordneten weiblich, bei der AfD sind es sogar nur 11 von 94. – Die Finnen waren in Europa das erste Land, in dem 1906 das uneingeschränkte allgemeine Frauenwahlrecht eingeführt wurde. In einzelnen Ländern gab es zuvor schon ein eingeschränktes Wahlrecht für Frauen (z. B. nur ab einem gewissen Alter, nur für Kommunalwahlen, etc.). 1913 folgte Norwegen, dann Dänemark und Island 1915, Estland 1917. In Frankreich wurde das Frauenwahlrecht erst 1944 eingeführt, in Italien 1946, in Griechenland, dem Ursprungsland der Demokratie, erst 1952, in Monaco 1962, in der Schweiz 1971 und zuletzt in Liechtenstein 1984.
_______________________________________________________________