26. Oktober 2018. – Die Eltern wussten es, die Lehrer wussten es und die Schulpolitiker wussten es auch: Die flächendeckend angewandte Lernmethode des „Schreiben nach Gehör“ ist wenig geeignet, den Grundschülern eine fehlerfreie Rechtschreibung beizubringen. Das ist auch in Dorsten ein Thema. Viele Kinder verlassen die Grundschule nach der vierten Klasse mit mangelhaften Kenntnissen dieser elementaren Kulturtechnik – und leiden während ihrer restlichen Schullaufbahn darunter. Die Medien berichten seit Jahren darüber. Aber alles half nichts. Auch nachdem in Hamburg die Anwendung der Methode verboten wurde und andere Bundesländer folgten, blieb das Schreiben nach Gehör weiterhin die vorherrschende Methode zum Erlernen der Rechtschreibung, auch in NRW. Es brauchte erst eine wissenschaftliche Studie der Universität Bonn, um ihr Ende einzuläuten. Die Wissenschaftler verglichen über mehrere Jahre die Rechtschreibleistungen der Kinder, die das Schreiben mit drei unterschiedlichen Methoden erlernten. Die Ergebnisse bestätigen, was alle wussten: Das Schreiben nach Gehör führt zu sehr viel schlechteren Lernergebnissen als die herkömmliche Fibelmethode. Zudem benachteiligt sie besonders Kinder mit Migrationshintergrund. Die Defizite sind so groß, dass man an ihrer Abschaffung kaum mehr vorbei kommt.
Schreiben nach Gehör – ohne Überprüfung auf Wirksamkeit eingeführt
Die grundsätzliche Frage, wie es möglich war, eine so ineffiziente Methode mit ihren desolaten Nebenwirkungen als Standard an den Grundschulen einzuführen, stellt bislang niemand. Die Bonner Studie räumt ja auch noch gleich in einem anderen Punkt auf: es gab zuvor keinerlei Studie, die belegt, dass das Schreiben nach Gehör wenigstens zu vergleichbaren Lernerfolgen wie bisherige Lernmethoden führt. Das Schreiben nach Gehör wurde ohne jede Überprüfung ihrer Wirksamkeit eingeführt. Man fragt sich, wie so etwas in der Bildungsrepublik Deutschland möglich ist. Welche Kräfte waren am Werk, die das zustande brachten? Und warum handelte die Politik nicht, als immer klarer wurde, dass die Methode ungeeignet ist und einzelne Bundesländer schon ausstiegen?
Schulpolitiker und Lehrer tun sich schwer mit Konsequenzen
Als die Studie der Universität Bonn veröffentlicht wurde, ging ein hörbares Aufatmen durch die Republik: Endlich war ein Ende des Irrsinns absehbar. Lehrerverbände und andere forderten die Abschaffung der Methode. Doch Schulpolitiker und Lehrer tun sich schwer, sich davon zu verabschieden. Das hat noch einen anderen Grund. Das Schreiben nach Gehör war das Einfallstor für das sogenannte selbstbestimmte (selbstgesteuerte/autonome) Lernen. Der „Erfinder“ der Methode, der Schweizer Grundschullehrer Jürgen Reichen, erhob seinen Glaubenssatz zur Richtschnur, dass Kinder umso mehr lernen, je weniger sie belehrt werden. Es ging ihm um selbständiges Arbeiten, Freude am Lernen und Individualisierung. Auf dieser Grundlage entwickelte er seine Methode des „Lesen durch Schreiben“, im allgemeinen Sprachgebrauch als „Schreiben nach Gehör“ bezeichnet. Der Lehrer soll in den natürlich ablaufenden Lernprozess des Kindes nicht eingreifen, er wird zum bloßen Lernbegleiter. Die Bonner Studie ist deswegen nicht nur ein vernichtendes Urteil über das Schreiben nach Gehör, sondern zugleich auch über das Konzept des selbstbestimmten Lernens.
Seit vielen Jahren nichts dazu gelernt?
Unter dem Einfluss der Ideen eines anderen Schweizer Grundschullehrers, Peter Fratton, hat sich Reichens Ansatz des selbstbestimmten Lernens zum Kernstück der sogenannten „modernen Pädagogik“ weiterentwickelt und wurde über das Schreibenlernen hinaus auf andere Lerngebiete ausgedehnt. Wie im Falle des Schreibens nach Gehör gibt es auch für das Konzept des selbstbestimmten Lernens keine wissenschaftliche Studie, die dessen Wirksamkeit belegt und die Frage beantwortet, ob der Lernerfolg wenigstens dem herkömmlicher Lernmethoden ebenbürtig ist. Das hindert bislang niemanden daran, das selbstbestimmte Lernen, an Schulen einzuführen. Zuletzt geschah dies in Dorsten zu Beginn dieses Schuljahres bei der Gründung der „Neuen Schule Dorsten“, einer Sekundarschule, in der Hauptschule und Realschule zusammengelegt wurden. Der Rat der Stadt beschloss das pädagogische Konzept, das wesentlich auf dem selbstbestimmten Lernen fußt. Die Informationsbroschüre dazu preist die Vorzüge der neuen Schule in den schönsten Farben. Doch Zweifel sind angebracht. Längst ist auch diese Lernmethode umstritten. Die vielfach zitierte Hattie-Studie, die weltgrößte Datensammlung über Unterrichtseffekte, sieht den Lehrer im Zentrum des schulischen Lernens. Er wird als souveräne, aktivierende und feinfühlige Führungskraft gebraucht. Das Konzept des selbstbestimmten Lernens geht in die entgegengesetzte Richtung: Die Rolle des Lehrers wird auf die „unaufdringliche Begleitung“ der Schüler reduziert. Alles andere behindere sie auf ihrem Weg des selbstverantwortlichen Lernens.
Wie steht es mit dem selbstbestimmten Lernen?
Man darf gespannt sein auf die ersten belastbaren Studien zur Wirksamkeit des selbstbestimmten Lernens. Dass es diese in naher Zukunft geben wird ist allerdings nicht zu erwarten. Denn weder die Schulpolitiker noch die Schulen, die das selbstbestimmte Lernen praktizieren, haben ein Interesse daran, ein ähnliches Debakel wie im Falle der Methode des Schreiben nach Gehör zu riskieren. Es bleibt ein bildungspolitischer Blindflug.
Offenbar läuft an vielen deutschen Schulen noch mehr schief. An vielen, sicherlich nicht an allen. Mich hat die Dokumentation “ZDF zoom” erschreckt: “Blauer Brief für die Schule – Was im System schiefläuft”. Unruhige Klassen. Kinder, die um Aufmerksamkeit buhlen, alleingelassene Lehrer. Aber auch Lösungsansätze und Positiv-Beispiele (Melbourne, Rütli-Schule in Berlin-Neukölln).
Noch fundierter erscheint mir die 3sat-Sendung “scobel: Schule mangelhaft!” vom 18. Oktober 2018. Lehrermangel, obwohl Schülerzahlen statistisch hochgerechnet werden können. Schüler, die das Lernen verlernen. Zu viele digitale Medien können dies offenbar verschärfen. Warnungen von Neurobiologen und Pädagogen zu digitalen Medien werden jedoch in den Wind geschlagen. Laut “scobel” beläuft sich der Investitionsbedarf an deutschen Schulen auf 48 Milliarden Euro.
Bildungsforscherin Anne Sliwka empfiehlt bei “scobel”, Schule kontinuierlich weiter zu entwickeln, nicht derart ruckartig, wie dies immer wieder in Deutschland geschieht. Unterrichtsforscher Eckhard Klieme stimmt dem zu. “scobel” ist eine Wissenschafts-Sendung bei 3sat, mit recherchierten Film-Beiträgen und einer kleinen Diskussions-Runde.
“ZDF zoom” und “scobel” sind mit den Sendungs-Titeln recht leicht über Suchmaschinen zu finden. Mediatheken ZDF und 3sat.