Von Wolf Stegemann
Friedhöfe erfüllen wichtige und in vielen Kulturen bestehende individuelle und kollektive Funktionen. Vor allem sind sie dazu bestimmt, ein ungestörtes Totengedenken in einem Raum zu ermöglichen, der deutlich von dem der Lebenden abgetrennt ist und unter besonderem Schutz vor Verwahrlosung, Entweihung und Verletzung der Totenruhe steht. Äußere Zeichen zum Schutz der Totenruhe sind Zutrittsbeschränkungen, Umfassungsmauern, verschließbare Zugänge. Daher befremdet es, wenn die für Friedhöfe Verantwortlichen nicht auf die Würde der dort bestatteten Toten achten, gleich welcher Nation und Religion. Der Russenfriedhof in Holsterhausen gibt in diesen Tagen ein verwahrlostes Bild ab. Der an Dorstens Bürgermeister Tobias Stockhoff gerichtete Brief vom 27. September 2018 informiert darüber:
„Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Vor Tagen war ich auf dem russischen Friedhof in Holsterhausen. Von Zeit zu Zeit meldet sich bei mir Besuch von Angehörigen der dort bestatteten Zwangsarbeitern/Zwangsarbeiterinnen, die ich dann zum Friedhof begleite. Jetzt war ich entsetzt, als ich sah, dass ein großer Baum quer über den Friedhof und über die dort befindlichen Massengräber gefallen ist (Bild anbei). Anhand der vertrockneten Äste liegt er wohl schon wochen- wenn nicht monatelang dort. Auch wenn eine Holsterhausener Schule nominell die Patenschaft über den Friedhof übernommen hat, wie ich auf der Informationstafel gelesen habe, so mische ich mich dennoch ein, denn dieser Friedhof liegt mir am Herzen. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich vor über 30 Jahren die Geschichte dieses Friedhof erforscht und darüber publiziert sowie dafür gesorgt, dass eine Ehrentafel angebracht wird, die von Geistlichen der beiden Konfessionen und der russisch-orthodoxen Kirche damals geweiht wurde. Daher bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Bürgermeister, dafür zu sorgen, dass der Baum von den Massengräbern entfernt wird. Und auch sonst bedarf der Friedhof hin und wieder einer Reinigung. Ich habe bei meinem letzten Besuch Plastiktüten, herumliegende Papiertaschentücher und Glasflaschen entfernt.
Mit besten Grüße
Wolf Stegemann
27. September 2018“
Die Antwort des Bürgermeisters erfolgte prompt:
„Sehr geehrter Herr Stegemann, wir haben Ihr Schreiben erhalten und bedanken uns für Anregungen, Fragen und Kritik. Wir bemühen uns, Ihnen so schnell, ausführlich und sachgerecht wie möglich zu antworten, bitten aber um Verständnis, wenn dies nicht immer innerhalb weniger Werktage möglich ist. Insbesondere wenn für die Antwort verschiedene städtische Fachbereiche oder andere Behörden eingebunden werden müssen, bitten wir Sie um etwas Geduld. Zur weiteren Bearbeitung wurde Ihr Anliegen an eine oder mehrere zuständige Stellen innerhalb der Verwaltung weitergeleitet. Der Inhalt Ihrer Nachricht, Bearbeitungsvorgänge sowie die Beantwortung werden elektronisch gespeichert.
Mit freundlichen Grüßen
Annegret Wöste-Hürland, Sekretärin des Bürgermeisters
27. September 2018“
„Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Ich war gestern auf dem russischen Friedhof und stellte fest, dass der Baum inzwischen weggeschafft wurde. Vielen Dank! In meinem Schreiben an Sie vom 27. 9. muss ich berichtigen: Nicht eine Holsterhausener Schule hatte die Patenschaft für den Friedhof übernommen, sondern die KAB St. Bonifatius.
Mit besten Grüßen
Wolf Stegemann
3. Oktober 2018“
Sie starben an Unterernährung, Vergiftungen, Grippe oder Totschlag
Sie hießen Wladislaus oder Marija, Anna oder Roman, Borris oder Wladislawa. Es waren Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren – gesund und kräftig, als man sie im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland holte. Hier starben sie an Unterernährung, Lungenentzündung, Vergiftung oder Grippe. Einige suchten den Freitod, andere wurden getötet. Ihre Grabsteine und die durch Bäume und Buschwerk verdeckten Gräber – meist Massengräber – auf dem so genannten Russenfriedhof in Holsterhausen legen Zeugnis ab von ihrem Tod. Von der Lage her gehört er zu Holsterhausen, territorial zu Wulfen-Sölten. Verwaltungszuständig war daher Wulfen, heute die Stadt Dorsten. Es gibt auch Kindergräber dort. Kaum geboren, begann für viele Säuglinge bereits das Sterben. „Sie litten an Unterernährung und waren schrecklich aufgebläht“, erinnert sich eine frühere Krankenschwester. „Sie starben wie die Fliegen.“ Nach ihrer Schätzung müssen es weit mehr gewesen sein, als standesamtlich festgehalten. „Sie wurden in Schuhkartons gelegt und kamen teilweise zu viert in ein Grab.“
63 bekannte und 413 anonyme Tote in Massengräbern
Die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“, gegründet von Dirk Hartwich und Wolf Stegemann, brachte 1985 eine Gedenktafel an, die von P. Imekus im Beisein von Vertretern der Kirchen und der Stadt geweiht wurde. Die Namen von 63 russischen Männern, Frauen und Kindern sind bekannt. 413 Tote liegen in den Massengräbern, die zum Teil erst durch Umbettung nach dem Kriege angelegt wurden. Die Forschungsgruppe ließ 1985 am Russenfriedhof und an den russischen Grabfeldern anderer Friedhöfe im Stadtgebiet Bronzetafeln anbringen, die an das Leid dieser Menschen erinnern. Die Dorstener Künstlerin Tisa von der Schulenburg (Sr. Paula) hat die Tafeln entworfen. Mit einem ökumenischen Gedenkgottesdienst, an dem Bürgermeister, Stadtdirektor und andere Honoratioren der Stadt teilnahmen, weihte Pater Imekus von der russisch-orthodoxen Kirche (Herten) die Gedenktafel auf dem Friedhof in Holsterhausen.
Gedenkstein in kyrillischer Schrift im Auftrag der Alliierten errichtet
Nach einem am 10. Oktober 1945 geschlossenen Vertrag zwischen dem sowjetischen Assistenten der Britischen 156. Infanterie-Brigade und dem Bürgermeister von Wulfen, Schwingenheuer, ist die Gemeinde Wulfen in die Pflicht genommen worden, den verwahrlosten Friedhof herzurichten, zu begrünen, einzuzäunen und die im Gemeindegebiet Wulfen verscharrten Russen umzubetten. Auch auf den Friedhöfen der Gemeinden im Zuständigkeitsbereich des Amtes Hervest-Dorsten waren Russen begraben worden. Die Gemeinde Wulfen musste nun vertragsgemäß die Überführung auf den Russenfriedhof sicherstellen. 1949 war die Umbettungsaktion beendet. Ein steinernes Denkmal, das die Alliierten ebenfalls forderten, beschreibt in kyrillischer Schrift den Ort: „Hier ruhen Sowjetbürger, welche in deutscher faschistischer Gefangenschaft in der Zeit von 1941 bis 1945 gestorben sind.“ Bereits am ersten Tag nach Abschluss des Vertrages beschwerte sich Wulfens Bürgermeister beim Amtsbürgermeister von Hervest-Dorsten, Desoi. Schwingenheuer mochte nämlich nicht einsehen, dass die stark verschuldete Gemeinde Wulfen für den Unterhalt des im äußersten Zipfel Wulfener Gemeindegebietes gelegenen Friedhofes zu sorgen habe, der sieben Kilometer vom Ortskern entfernt liege. Schwingenheuer fand es ungerecht, dass alle anderen Gemeinden ihre „toten Ausländer“ in Wulfen bestatten können, so der Schlusssatz seines Beschwerdebriefes, der bei den Alliierten auf taube Ohren stieß. – Heute wird der Russenfriedhof ausschließlich von der Stadt Dorsten gepflegt.
Nach dem Krieg Friedhofsschändung
Für kurze Zeit stand der Friedhof im Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungsarbeit: Am 2. Mai 1946 erstattete der Vorsitzende der KPD-Ortsgruppe Holsterhausen, Franz Alex, Anzeige gegen Unbekannt. Er gab zu Protokoll:
„In der Zeit vom 25. bis 29. April ds. Js. ist der Grabstein für die gefallenen Bürger der Sowjetunion auf dem Russenfriedhof (…) stark beschädigt worden. U. a. wurde mit einem Meißel oder einem anderen Gegenstand der Sowjetstern herausgeschlagen. M. E. handelt es sich hier um die verwerfliche Tätigkeit einer aggressiven Gruppe und bitte ich, sofort entsprechende Ermittlungen anzustellen…“
Ein anderer Kommunist, der Anzeige erstattete, mutmaßte bei der Polizei:
„Über die Täterschaft kann ich keine näheren Angaben machen. Ich nehme jedoch bestimmt an, dass aufgrund der Radio- und Zeitungsmeldungen ehemalige Mitglieder der NSDAP oder der angeschlossenen Verbände das Grabmal beschädigt haben.“
Steht man in der Stille des Friedhofs zwischen den vergessenen Gräbern und denkt über das Leid und den erbärmlichen Tod der Menschen nach, dann fallen einem die Worte von Theodor Heuss ein, der sagte: „Vergessen ist eine Gnade und Gefahr zugleich.“
Polizei schlug den 17-jährigen Nicolaij Efanow tot – Bestattet im Massengrab
Als der 17-jährige sowjetische Zwangsarbeiter Nicolaij Efanow an Hitlers Geburtstag am 20. April 1944 seinen rechten Arm zum Hitlergruß hob, die Hacken seiner klobigen und schäbigen Schuhe zusammenknallte und „Heil Hitler-Scheiße“ rief, holten ihn in den Abendstunden Beamte der Stapo aus seiner Baracke in der Dorstener Eisengießerei und brachten ihn nach Borken. Denn von dort war der „Zivilarbeiter aus Sowjetrussland“, wie die Zwangsarbeiter und Zwangsdeportierten aus der besetzten Sowjetunion hießen, ausgeliehen. Der junge Schüler überlebte Führers Geburtstag nicht. Noch in der gleichen Nacht brachte die Polizei den Russen tot in die Eisengießerei zurück. „Auf der Flucht erschossen“ hieß es lapidar auf der erhaltenen Karteikarte. Doch die Leiche wies Spuren von Schlägen auf. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verquollen. Nicolaij Efanow fand seine letzte Ruhestätte in einem Massengrab auf dem Russenfriedhof in Dorsten-Holsterhausen. Aus einem nicht weitergeleiteten und in Teilstücken erhaltenen Brief an Angehörige in seinem russischen Heimatort Makewka geht hervor, dass sich der Junge nach seiner Mutter und seinen Brüdern sehnte und sich nichts mehr wünschte, als heimzukehren.
Erhalten sind die Karteikarte mit Foto und ein vergilbter Brief
Nicolaij kam am 12. April 1942 als 15-Jähriger unfreiwillig nach Deutschland und arbeitete zunächst in der Landwirtschaft, zuerst im Haus Pröbsting in Hoxfeld (Kreis Borken), dann bei verschiedenen Bauern. Am 18. Februar 1943 wurde er aus nicht mehr feststellbarem Grund festgenommen und der Borkener Stapo überstellt, die ihn am gleichen Tag wieder mit der Auflage entließ, sich bei seinem Arbeitgeber, einem Landwirt, zu melden. Als der Junge die „Arbeit verweigerte“, wurde er zunächst in eine Bewährungsabteilung sowjetischer Zwangsarbeiter zuerst nach Marl-Hüls eingewiesen, wo die Männer und Frauen in erbärmlichen Verhältnissen lebten und arbeiteten, dann kam der auf dem rechten Auge blinde, mittlerweile siebzehnjährige Junge zur Eisengießerei nach Dorsten, wo für Zwangsarbeiter grausame Verhältnisse herrschten. – Nicolaij Efanow hatte es nicht geschafft, in seine Heimat zurückzukehren. Er starb jung und liegt in Dorstener Erde. Übrig geblieben ist nur seine Karteikarte Nr. 129 mit seinem Foto, seinen Fingerabdrücken und mit einem vergilbten Brief.
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