Von Wolf Stegemann
Am 20. Juli 2022 brachte Landrat Bodo Klimpel im Sitzungssaal des Kreishauses ein Bronzerelief an, das die Köpfe der beiden Hitler-Attentäter aus dem Adel, Claus Graf Schenk von Stauffenberg und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg zeigt. Geschaffen hatte das Bronzerelief viele Jahre zuvor die Dorstener Nonne und Künstlerin Tisa Gräfin von der Schulenburg, Schwester des abgebildeten Fritz-Dietlof. – Der vor 78 Jahren, am 10. August 1944, als Mitglied der Attentäter vom 20. Juli hingerichtete Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg war der Lieblingsbruder der später in Dorsten 50 Jahre lang im Ursulinenkloster lebenden und 2001 verstorbenen Elisabeth Gräfin von der Schulenburg, als Künstlerin unter Tisa und als Nonne unter Sr. Paula bekannt. Sie kam 1948 von Hamburg in den Kreis Recklinghausen. Anlass war der Aufenthalt ihres hingerichteten Bruders im Kreis Recklinghausen von 1928 bis 1932, er war im Landratsamt Recklinghausen tätig. Ab 1930 gehörte der studierte Staatswissenschaftler innerhalb des Landratsamtes der Staatlichen Verwaltung an, wo er es vornehmlich mit Polizei-Angelegenheiten und als Stellvertreter des Landrates der Reorganisation der Kreisverwaltung zu tun hatte; zeitweise auch für die Straßen und den Verkehr zuständig war. Als solcher kam er auch mehrmals nach Dorsten. – Das folgende Foto zeigt Fritz-Dietlof von der Schulenburg (1. Reihe, 5. v. r.) u. a. mit Landrat Schenking 1931 in Dorsten).
Der Landrat über Schulenburgs NSDAP-Eintritt: „Sie sind verrückt!“
In seiner Recklinghäuser Zeit sympathisierte der bis dahin sozialistisch eingestellte „rote Graf“, wie er genannt wurde, allerdings bereits seit 1928 mit der NSDAP. 1932 wurde er deren Mitglied und gehörte der Gruppe um Gregor Strasser an. Schulenburg griff schon früh die Ideen Hitlers auf. Seine antijüdische Grundeinstellung war bekannt. Antisemitismus war in den 1920er-Jahren in der Oberschicht nicht anrüchig. Sein Chef, Landrat Schenking (Zentrum), war über Schulenburgs NSDAP-Parteieintritt „entsetzt“. Sein Ausspruch „Sie sind verrückt, Schulenburg!“ ist überliefert. Da die NSDAP-Mitgliedschaft für preußische Beamte noch verboten war, leitete der Landrat die Entlassung Schulenburgs aus dem Staatsdienst ein. Doch die Hitler-Partei hatte bereits großen Einfluss. Daher wurde der jetzt „brauner Graf“ genannte Schulenburg 1932 nicht entlassen, sondern in eine gehobene Staatsstellung nach Labiau in Ostpreußen versetzt, machte Karriere im NS-Staat, war von 1935-39 Polizeivizepräsident von Berlin, danach bis 1944 Vizeoberpräsident von Schlesien und beim Militär Oberleutnant d. R.. 1938 starb Schulenburgs Vater, ein früherer kaiserlicher General und im Dritten Reich SS-Standartenführer ehrenhalber. Beim seinem Staatbegräbnis gab Hitler dem Sohn Fritz-Dietlof von der Schulenburg kondolierend die Hand (Foto). Trotz seiner nationalsozialistischen Anbindung und Staatskarriere entfernte sich Graf Schulenburg im Laufe der Jahre immer mehr vom praktizierten Nationalsozialismus, dessen Exzesse und Verbrechen er ablehnte. Daher setzte er sich schon seit 1935 mit vielen NS-Persönlichkeiten auseinander, was 1940 wegen „Unrechenbarkeit“ seiner Person zum Parteiausschluss führte. Prof. Dr. Hans Mommsen: Mitherausgeber und Autor des Buches „Ein konservativer Rebell – Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg und der 20. Juli“ (1990):
„Nachdem Schulenburg endgültig klar geworden war, dass die nationalsozialistische Gewaltpolitik das Reich militärisch und politisch in den Abgrund stürzen werde, stellte er sich seit Ende 1941 mit der ihm eigenen Entschiedenheit in den Dienst des nun unumwunden ins Auge gefassten Umsturzes. Das Eid-Problem bestand für ihn nicht ernstlich. Er war sich des Risikos bewusst, und er zögerte nicht, zu handeln; seine religiöse Grundüberzeugung verhalf ihm dazu, an einen positiven Ausgang zu glauben.“
Fritz-Dietlof von der Schulenburg war der Robusteste der Verschwörer
Er gehörte zu den bedeutendsten Repräsentanten der Widerstandsbewegung des 20. Juli. Längst bevor Claus Graf Schenk von Stauffenberg ins Zentrum der Umsturzbewegung trat, bildete er den inneren Motor der Verschwörung. Schulenburg, auf dem Foto mit drei seiner Kinder, war kein systematischer Denker. Seine Funktion im Widerstand wird nicht auf dem Gebiet der langfristigen Planung, sondern des ständigen pragmatischen Aktivismus liegen, der ihn zu dem bedeutendsten Verbindungsmann der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 machte. Indem Schulenburg sich zum Widerstand entschloss, brach er nicht mit seinen bisherigen Überzeugungen. Vielmehr hielt er an dem Glauben an das „kommende Reich“ fest. Er war überzeugt, dass die korrumpierenden Einflüsse der „Parteibonzen“ Armee und Verwaltungsapparat nicht ernstlich in Mitleidenschaft gezogen hatten, obwohl er in den späteren Kriegsjahren erkennen musste, dass sich auch in der öffentlichen Verwaltung eine schrittweise Abkehr von den preußischen Prinzipien vollzog. Nicht die Großraumpolitik des Dritten Reichs, sondern die Methoden, mit denen sie betrieben wurde, riefen seine rückhaltlose Kritik hervor. Die deutsche Hegemonie auf dem europäischen Kontinent erschien ihm als geschichtliche Notwendigkeit. Sie verknüpfte sich mit dem von ihm seit den späten 20er-Jahren vertretenen, nur wenig modifizierten „bündischen“ Reichsgedanken, in den übernationale Erwägungen einfließen konnten. Es entsprach seiner Mentalität, dass er sich in erster Linie darum bemühte, für die überfällige Neuordnung das notwendige Personal bereitzustellen. Er hat daher in weitem Umfang das personelle Netz geschaffen, auf das sich die Umsturzplanung des 20. Juli abstützte. Dies galt insbesondere für die innere Verwaltung. Da es Schulenburg vermied, die vielfältigen Kontakte, die er knüpfte, schriftlich zu fixieren, ist deren Ausmaß unterschätzt worden. Schulenburg war gerade dadurch eine unentbehrliche Schlüsselfigur des Widerstands. Hingegen sind seine Beiträge zu der konzeptionellen Planung der Widerstandsbewegung des 20. Juli häufig überschätzt worden. Schulenburg war der robusteste Verschwörer des 20. Juli. Bezeichnend ist, dass er niemals persönliche Macht anstrebte. „Ohne seine rastlose Aktivität, ohne seine Kompromisslosigkeit in der Ablehnung der inneren Grundlagen des Regimes erscheint der 20. Juli 1944 nicht denkbar“, so Dr. Ulrich Heinemann, Mitherausgeber und Autor des o. g. Buches.
Der Opfergang: Verhaftung, Prozess und Verurteilung zum Tod
Am Tag des gescheiterten Attentats hielt sich Schulenburg im Bendler-Block in Berlin auf. In das Geschehen selbst konnte er allerdings als Oberleutnant der Reserve nicht eingreifen. Schulenburg, für den stets das Gebot des Handelns galt, konnte die Ereignisse nur abwartend beobachten. Nach dem Zusammenbruch des Putsches wurde er noch in der Nacht in der Bendlerstraße verhaftet und von Angehörigen einer SS-Division in das Hauptquartier der Gestapo gebracht. Während auf dem Hof Stauffenberg, Ulbricht, Mertz von Quirnheim und von Haeften erschossen wurden, gelang es ihm, alle belastenden Papiere aus seiner Aktentasche zu entfernen und zu verbrennen. Niemand sollte durch ihn zu Schaden kommen. Durch einen jungen Offizierskameraden, Hans-Karl Fritzsche, ist seine Reaktion auf das Scheitern überliefert:
„Im Flur traf ich Fritzi Schulenburg. Er bestätigte, dass alles aus sei, weil Hitler tatsächlich noch lebe. Aber er fügte wörtlich hinzu: ,Wir müssen trotzdem weitermachen, wir müssen diesen Kelch bis zur Neige leeren. Wir müssen uns opfern. Später wird man uns verstehen.’ Er zog mich in eines der leerstehenden kleinen Dienstzimmer. Wir setzten uns auf ein Feldbett. Er holte aus seiner Aktentasche Papiere hervor, zerriss sie in kleine Schnipsel und warf sie in den Papierkorb. … Dann ging er zu Stauffenberg.“ (Heinemann, S. 169).
Rund drei Wochen wurde Schulenburg von der Gestapo verhört. Angesichts des unausweichlichen Endes forderte diese Zeit mit Sicherheit ein Höchstmaß an Nervenkraft, Selbstbeherrschung und mutiger Klugheit. Mit rücksichtsloser Offenheit gegenüber sich selbst nannte er die Motive seines Handelns, ohne jedoch noch lebende Freunde zu gefährden. Der Prozess vor dem Volksgerichtshof fand am 10. August statt (Foto). Schulenburg hatte dessen Präsidenten Roland Freisler schon einmal erlebt. Er wusste, was er von diesem Mann, der in bösartigem Fanatismus das Recht zu einer Funktion politischer Zweckmäßigkeit erniedrigte, zu erwarten hatte. Wie schon im Verhör gab Schulenburg seine Tatbeteiligung „unumwunden“ zu. Zeitzeugen rühmten die unerschrockene Haltung, mit der er Freisler gegenübertrat. Schulenburgs Kritik am NS-Regime zielte auf das persönliche wie politische Fehlverhalten und die kriminelle Energie der nationalsozialistischen Führer ab, nicht hingegen auf die politischen Ideale, unter denen sie angetreten waren. „Dass diese Ideale für sich genommen und unabhängig von den Personen, die sie in die politische Wirklichkeit umzusetzen suchten, die Keime des Missbrauchs in sich bargen, blieb Schulenburg verschlossen“, schreibt der Biograph Ulrich Heinemann. Für ihn war Schulenburg zeitlebens ein politischer Romantiker. Die Anklageschriften und das Verhandlungsprotokoll sind leider verschollen. Es gelang jedoch dem Redakteur der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“, Werner Fiedler, mit einem SS-Prozessbeobachter ins Gespräch zu kommen. Dessen Schilderung der Verhandlung übermittelte er zum Gut Trebbow, dem Wohnsitz von Tisa von der Schulenburg. Dort hielt sich auch Fritzis Frau Charlotte mit ihren sechs Kindern auf. Durch Fiedler sind auch Schulenburgs Schlussworte vor dem Volksgerichtshof bekannt. Natürlich konnte er Fritzis wörtliche Aussage nicht mit der Post schicken. Er hatte sie zunächst beim Treffen mit dem SS-Mann auswendig gelernt und später aufgeschrieben. Als Tisa kurze Zeit danach in Berlin weilte, gab er ihr die Notiz. Um den Text unauffällig nach Trebbow zu bringen, kaufte Tisa in einem Zauberladen eine Scherzpostkarte, in der sie die Nachricht verstecken konnte.
Hinrichtung durch Erhängen an den berüchtigten „Fleischerhaken“
Das Todesurteil wurde am Tag der Verhandlung verkündet und nur wenige Stunden später in Zuchthaus Plötzensee vollstreckt. Von den etwa 200 verurteilten Männern der verschiedenen Widerstandskreise wurde ein großer Teil in Plötzensee hingerichtet. Auf ausdrücklichen Befehl Hitlers wurde ihnen jeder seelsorgerische Beistand verwehrt und die Strafe ausschließlich durch Erhängen an den berüchtigten „Fleischerhaken“ vollstreckt. Es blieb Fritz-Dietlof noch etwas Zeit, um seiner Frau Charlotte einen Abschiedsbrief zu schreiben, dessen Inhalt ihr allerdings erst nach zehn Jahren auf Umwegen zur Kenntnis kam. In der Hinrichtungsstätte Plötzensee (Foto 1950) wurden zwischen 8. August 1944 und 9. April 1945 ingsesamt 89 Menschen durch Hängen an den Stahlträgern mit Eisenhaken (Fleischhaken genannt) getötet. 1952 wurde der Hinrichtungsort eine Gedenkstätte, in der jedes am Jahr am 20. Juli eine feierliche Gedenkstunde mit Gottesdienstwn stattfindet.
Unbeirrbar seinen Weg bis zum Ende gegangen
In einem verschlüsselten Brief vom 20. August 1944 beschreibt Werner Fiedler das Verhalten Schulenburgs vor dem Volksgerichtshof. Der Redakteur bezieht sich auf vorgebliche Recherchen für einen van Gogh-Roman. Van Gogh war das vereinbarte Codewort für Schulenburg. Der Brief war an das Schauspielerehepaar Mathias und Erika Wiemann gerichtet. Beide kamen, nachdem sie in Berlin ausgebombt worden waren, auf Einladung Tisa von der Schulenburgs immer wieder für viele Wochen nach Trebbow. Dort entstand auch eine enge Freundschaft mit der Witwe Charlotte von der Schulenburg. – Das nebenstehende Foto zeigt die Charlotte mit den Kindern. – Aufschlussreich über sein Denken über den Nationalsozialismus und das daraus erfolgte Handeln, vor allem über die Gründe seiner Beteiligung am Attentat ist das in neun Punkte übersichtlich gegliederte Vernehmungsprotokoll des Gerichts, hier zusammengefasst und gekürzt wiedergegeben:
1. Innerhalb des nationalsozialistischen Systems sei der Machttrieb zum Maßstab des Handelns geworden.
2. Die Führerschaft habe sich von den Grundsätzen der Einfachheit und Schlichtheit abgekehrt, die sie in der Kampfzeit gepredigt habe.
3. Der Kampf der Partei gegen den Staat habe dem Beamtentum das Rückgrat gebrochen.
4. Der nationalsozialistische Staat habe die Rechtsbasis verlassen und sich zu einem Polizeistaat mit Eingriffen in alle Lebensbereiche entwickelt.
5. Der nationalsozialistische Staat habe einem schädlichen Zentralismus gehuldigt.
6. Er habe das Volk zur Masse atomisiert, die kollektivistisch mit Gewalt und Propaganda beherrscht würde.
7. Der Nationalsozialismus habe mit seinem Kampf gegen das Christentum die religiöse Basis schlechthin verlassen.
8. Es sei eine Außenpolitik betrieben worden, die die ganze Welt gegen Deutschland aufgebracht habe.
9. In den besetzten Gebieten sei eine kurzsichtige Politik der Unterwerfung und Ausbeutung durchgeführt worden, anstatt die beherrschten Völker für die Führung des Reiches zu gewinnen.
Eines der wichtigsten Ziele der Verschwörer war nach den Worten Schulenburgs die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit. Was diese Wiederherstellung betraf, stand dem Widerstandskämpfer aber sicherlich nicht das liberale Weimar, sondern die autoritäre preußische Staatstradition vor Augen. Schulenburg ist der liberale Rechtsstaat stets fremd geblieben. – Das folgende Foto zeigt die Mutter Schulenburg mit der Tochter Tisa und deren vier Brüder.
Die Schulenburg-Brüder: Der eine ein „Held“ und der andere ein „Verräter“
Am 10. August 1944, dem Todestag Fritz-Dietlofs, hatte die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ mit der Schlagzeile „Gerichtet“ aufgemacht. Sie berichtete über die Prozesse gegen die Attentäter Yorck, Witzleben, Hoepner und andere am 7. und 8. August. Auf der Rückseite unter den Fotos von den Verhandlungen befanden sich einige nicht in diesem Zusammenhang stehende Todesanzeigen, darunter auch die von Wolf-Werner Graf von der Schulenburg, dem ältesten Bruder von Fritz-Dietlof mit der Anzeigen-Aussage: „Gefallen für den Führer und Deutschland am 14. Juli 1944“. Ferner erschienen in der NSDAP-Zeitung „Völkischer Beobachter“ die Meldungen von der Ausstoßung des „Verräters“ Fritz-Dietlof und zugleich des „für Volk und Vaterland“ gefallenen Bruders Wolf-Werner. Diese „Heldentod“-Anzeige des älteren Bruders am Tage der Hinrichtung des jüngeren bietet Gelegenheit zu mancherlei Betrachtung. Ulrich Heinemann schreibt dazu:
„Gehorsam und Auflehnung, beides bis zum letzten, das war die historische Spannweite im Schicksal der preußischen Aristokratie und in diesem Fall auch ein Menetekel. Der Tod der Brüder Schulenburg ging dem Ende des ostelbischen Adels als politische und soziale Klasse nur um wenige Monate voraus.“
Seine Schwester Tisa hatte die Gelegenheit, von ihrer Schwägerin in das Neue Testament einzusehen, das ihr Bruder in der Zelle vor seinem Prozess lesen durfte. Sie berichtete:
„Darin hatte er den Psalm angestrichen, der mit den Worten endet: ,Unsere Seele ist ihnen entronnen wie der Vogel dem Strick des Vogler, der Strick ist zerrissen und wir sind frei!“
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