In wenigen Minuten machten am 22. März 1945 Bomben die alte Stadt Dorsten zum Trümmermeer – 319 Menschen kamen ums Leben, die Ruinen qualmten tagelang

Die bombardierte und noch qualmende Stadt zwei Tage danach

Von Wolf Stegemann

Bereits am 9. März 1945 bombardierten alliierte Flugzeuge die Stadt. Doch einige Tage später sollte die vollendete Zerstörung der heutigen Altstadt erfolgen. Am 22. März 1945, ein herrlicher Frühlingstag mit Sonne und blauem Himmel über Dorsten, starteten in High Wycomb (England) 100 Halifax-Bomber der Royal Airforce, 12 Lancaster und ebenso viele Mosquitos der 8. Pfadfindergruppe mit dem Auftrag, Dorsten um 14.30 Uhr englischer Sommerzeit in Schutt und Asche zu legen. In ihren Bombenschächten hatten sie Luftminen und Sprengbomben, darunter die berüchtigten „Wohnblockknacker“. Sie kamen von Norden her gestaffelt angeflogen und bildeten einen Kampfblock von 500 Metern Breite.Die Dorstener glaubten noch, die Maschinen flögen nach Westen ab ins Ruhrgebiet, bevor um 14.14 Uhr das Inferno begann, das die Stadt in fünf Minuten in einem pausenlosen Gebrüll von Detonationen und Feuerbällen zerstörte. Die Flugzeuge warfen 377 Tonnen Bomben und 6,3 Tonnen Zielmarkierungsbomben ab. Der Rauch über der Stadt stieg 2.440 m hoch. Als die letzten Brände nach Tagen gelöscht werden konnten, behinderte fast kein Haus mehr die Sicht von einem Ende der Stadt zum anderen. Über 319 Menschen fanden den Tod, 700 Familien wurden obdachlos, die gesamte Straßenbeleuchtung war zerstört, die Straßen zu 92 Prozent nicht mehr vorhanden, die Gasversorgung zu 70 Prozent und die Elektroversorgung zu 50 Prozent ausgeschaltet, die Kanalisation zu 39 Prozent funktionsunfähig. Auf jeden Bewohner der Innenstadt entfiel eine Trümmermenge von 43,5 cbm (Dresden 39,7 cbm, Köln 16,8 cbm, Essen 15 cbm, Leipzig 7,1 cbm). Am 29./30. März rückten Kampf verbände der 9. US-Armee in Dorsten ein. Dabei starben 29 deutsche Soldaten und fünf Zivilisten.

Sie waren am 22. März 1945 über Dorsten dabei: Magness-Crew – 601st Squadron. 945. – Vordere Reihe (v. l.) S/Sgt. Daniel M. O’Connell (Togglier), T/Sgt. James C. Oliver (Funk), S/Sgt. Bertram A. Ongly (Bordschütze), S/Sgt. Larry L. Nulf (Bordschütze); hintere Reihe: T/Sgt. William C. Williams (Bordingenieur), 1st Lt. Byron Magness (Pilot), 2nd Lt. Robert H. Dee Jr. (Co-Pilot), 2nd Lt. Samuel Arbuthnot (Navigator).

Fotografie einer Bomber-Crew im Internet entdeckt

Der Dorstener Journalist Jo Gernoth entdeckte Ende 2011 im Internet das Foto von alliierten Piloten vor einem Bomber des Zweiten Weltkriegs mit der Bildbeschreibung „Magness-Crew over a Daylight-Mission with Dorsten as MPI on March, 22th of 1945“. Dies belegt, so Gernoth, dass nicht nur Kanadier und Briten, wie bislang angenommen, an der Totalbombardierung Dorstens vom 22. März 1945 beteiligt waren, sondern auch Amerikaner der 8. US-Luftflotte. Dem nun identifizierten US-Bomber („Fliegende Festung“) gehörten an: Byron Magness als Kommandant, Co- Pilot Robert H. Dee Jr. Als Co-Pilot und Samuel Arbuthnot als Navigator.  Am 22. März 1945 steht auf der Briefing-Liste: Headquarters and Military Facilities in Dorsten, MPI („Main Point of Impact“), was so viel heißt wie Hauptangriffspunkt. Jo Gernoth konnte mit dem 89-jährigen Samuel Arbuthnot und dem Commander der 601 Squadron der Bombergruppe, Wally Blackwell, Kontakt aufnehmen. „Wir haben nicht gegen die Menschen am Boden gekämpft. Wir haben gegen das Böse gekämpft und ich würde es heute wieder tun“, sagt Commander Wally Blackwell, der immer noch selbst am Steuerknüppel sitzt. Logbucheintragungen von zurückgekehrten Piloten, die über Dorsten im Einsatz waren, geben Auskunft auch darüber, wie planmäßig und militärisch kalt gedacht wurde, nachdem sie Städte in Schutt und Asche gelegt hatten. An die Zivilbevölkerung dachten sie in diesen und anderen hier nicht veröffentlichten Eintragungen nicht (Übersetzung Dr. Helmut Frenzel):

22. März 1945 – Heute flogen wir Nr. 31. Es läuft darauf hinaus, dass man sie an einer Hand abzählen kann. Wir bombardierten das Hauptquartier und die Baracken eines Armeelagers in Dorsten. Die Flak war mäßig und genau. Wir verloren über dem Ziel zwei Motoren durch Maschinenschaden. Wir sind mit zwei Motoren nach Hause geflogen (1 und 4). Ich habe noch nie so inbrünstig gebetet wie da. Ich weiß, dass wir es nur deswegen geschafft haben. Wir waren vier Stunden unter Sauerstoff.

6/500 G.P., 6/500 I.P. 6:30 Std., 22. März 1945 – Einsatz Nr. 14, Ziel Dorsten, 6 1/2 Stunden, Bedeckung 2/10, 23.500 Fuß, Flak heftig und genau, fast 50 Einschüsse im Flugzeug als wir zurück flogen. Unser Co-Pilot flog hin und wieder mit einer anderen Besatzung. Etwa zu dieser Zeit flog er einen Einsatz mit einer anderen Besatzung  und unsere Besatzung flog nicht. Als sie irrtümlich ihre Bomben abwarfen, stießen zwei der RDX-Bomben unmittelbar unter dem Flugzeug zusammen und explodierten, wobei sie 5 Flugzeuge zum Absturz brachten. Der Co-Pilot kam heil heraus, aber war bis zum Ende des Krieges in Kriegsgefangenschaft. [POW = Prisoner of War, Kriegsgefangener]

Dorsten [Deutschland]: 22. März 1945 – Bombenlast 32 – 100 Pf. GPs. 2 – 500 Pf. Brandstoff. Außentemp. – 32 °C. Gesamte Flugzeit 6:25 Std. Zeitdauer unter Sauerstoff 0400 [4 Std.]. Unser heutiges Ziel war  ein Hauptquartier der jerries [jerry = abwertende Bezeichnung für deutsche Soldaten im 1. und 2. Weltkrieg] und eine Truppenansammlung. 5 Minuten, nachdem wir das Ziel verlassen hatten, ging mir durch den Kopf: wie viele jerries haben wir getötet? Nebenbei bemerkt schießt die Flak immer genauer, aber nicht mehr so heftig.

 Lynchmorde an Piloten

Drei Tage nach der Totalbombardierung der Stadt wurden am 25. März 1945 zwei im früheren RAD-Lager in Wulfen festgehaltene und bereits Wochen vorher abgeschossene kanadische und ein britischer Flieger gelyncht. Es handelte sich bei den Piloten um J. M. Jones, R. A. Paul und L. W. Brennan. Der dieser Mordtaten verdächtige SA-Lagerkommandant Assmann entkam zuerst nach Bückeburg und wurde nach Beendigung des Krieges von den Alliierten gesucht. Außer einem Festnahmeersuchen der Alliierten ist Weiteres trotz intensiver Recherchen bislang nicht belegbar. Er soll im Gefängnis der Engländer Suizid verübt haben. Beteiligt war noch ein anderer SA-Führer namens Otto Wunderlich. Auch er soll sich im Gefängnis umgebracht haben. Die Recherchen darüber sind im Gange.

Erste Bombardierung 1941

Nicht nur am 22. März 1945 brachten alliierte Flugzeuge Bomben nach Dorsten. Die Bevölkerung war seit 1941 Bombenangriffen ausgesetzt. Die erste Bombardierung durch englische Flugzeuge war am 14. März 1941 gegen 23 Uhr im Ortsteil Hervest-Dorsten. Vier Sprengbomben wurden an der Straße „Am Sandberg“ abgeworfen. Getroffen und total zerstört wurde die dortige Holzbaracke. Die benachbarten Häuser wurden teilweise schwer beschädigt. Die ersten Todesopfer unter der Dorstener Bevölkerung durch Bomben waren: Bergmann Rudolf Kress, Am Sandberg 2, und dessen Sohn Horst. Eine größere Sprengbombe ging in der Nähe der Wasserstraße nieder. – Das Foto zeigt einen abgeschossenen und noch qualmenden Jagdbomber am Dorstener Bahnhof 1941.

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Totalschäden und Tote

Bei den Bombardierungen gab es Tote, Verwundete und Totalschäden. Die nachfolgende  Auflistung informiert über Bombenangriffe im gesamten Amtsbereich Hervest-Dorsten:

Polizei begutachtet den Bombenschaden der Teppichfabrik Schürholz in der Marienstraße

Im Jahr 1943

9. Januar: Wulfen und Dorsten (Baukholt, Feldmark I); 21. Januar Dorsten, Gahlener Straße (totale Zerstörung: Häuser Krietemeyer und van der Schoot), Luftmine in Lembeck-Wessendorf; 25. März: Dorsten-Hardt, Altschermbeck-Rüste, Wulfen; 26. März: Holsterhausen; 30. April: Dorsten, Feldmark/Siedlung hinter Maas- Timpert); 28. Mai: Dorsten, Feldmark (Siedlung hinter Maas-Timpert), Lembeck-Wessendorf; 23. Juni: Altschermbeck-Rüste; 10. Juli: Hervest (Zechensiedlung), 7. Oktober: Hervest, Orthöve (Hof Große-Voßbeck), Rhade; 10. Oktober: Altschermbeck, Hervest; 19. November: Dorsten.

Im Jahr 1944

13. Mai: Dorsten; 14. Juni: Dorsten (Luftmine im Damm des Lippe-Seitenkanals gegenüber der Firma Gebr. Müller); 15. Juni: Dorsten (Gahlener Straße, Wess und Erwig); 21. Juni: Wulfen (große Flurschäden durch Spreng- und Brandbomben); 25. Juni: Wulfen; 1. Juli: Erle; 22. September: Dorsten (Hotel Altenburg, Angriff durch Tiefflieger); 27. September: Dorsten (Franziskanerkloster); 5. Oktober: Rhade; 7. Oktober: Dorsten (Hotel Altenburg, Tiefflieger); 9. November: Dorsten (Vestische Allee, schwere Zerstörung aller Häuser vor der Bahnunterführung), Hervest (Gemeindedreieck), Holsterhausen (Borkener Straße, Heinrichstraße); 23. und 27. Oktober: Altschermbeck.

Im Jahr 1945

21. Januar: Hervest (Augustaschule, An der Landwehr, Im Harsewinkel), Holsterhausen (Marienstraße, Luisenstraße); 22. Februar: Holsterhausen (Bahnstrecke Hervest-Wesel), Wulfen Hervester Straße (Angriff auf Fahrzeuge durch Bordwaffenbeschuss), Bahnstrecke Wulfen-Deuten-Rhade (Sprengbomben, geringer Schaden), 24. Februar: Hervest-Dorsten (Zeche, Wohnkolonie); Rhade (fünf Häuser an der Eisenbahnstrecke Rhade-Borken), 25. Februar: Holsterhausen (Fa. Paton); Hervest-Dorsten (Eisengießerei), Wulfen (Transportzug auf dem Muna-Gelände, drei Wohnhäuser, Gehöft Vennemann in Sölten), 3. März: Feldmark (Firma Stewing), 9. März: Dorsten (Franziskanerkloster, etwa 60 Tote, Militär- und Zivilpersonen); 11. März: Dorsten (mehrere Straße in der Innenstadt, viele Todesopfer); Dorsten-Hardt (Droste-Hülshoff-Straße, Hermannstraße), Hervest-Dorsten (Zeche Fürst Leopold, Josefsviertel); 12. März: Dorsten (Alter Postweg, Blindestraße, Ostgraben), Holsterhausen (Bombardierung Soldatenzug Gleisstrecke HalternWesel um 11.30 Uhr, Tieffliegerangriff auf Truppentransportzug um 17 Uhr); 15. März: Hervest (Eisengießerei), Holsterhausen (Gartenstraße), 13. März: Dorsten: (Tieffliegerangriff auf Transportzug Nähe Bahnhof Dorsten); 19. März: Dorsten (Güterbahnhof, Munitionszug getroffen, dadurch das Haus Elsenbusch zerstört); 20./21. März: Innenstadt (viele Tote durch ständige Angriffe von Jagdbombern); 22. März: Dorsten (Totalzerstörung der Altstadt), Wulfen; 23. März: Dorsten, Erle; 28. März: Feldmark II (viele Todesopfer, in den Abendstunden besetzen Amerikaner Holsterhausen). – Das Foto zeigt das zerstörte Kriegrdenkmal des Ersten Weltkriegs am Westgraben.

Insgesamt 5.600 Bombeneinschläge

Etwa 5.600 Bombeneinschläge wurden in Dorsten nach den Luftangriffen vom 9. Dezember 1944 und 22. März 1945 festgestellt: Im Bereich der Innenstadt 3.300, Feldmark I und II 600, in Hervest (Bahnhofs- und Zechengebiet) 1.200, in Holsterhausen 800. Auf dem verhältnismäßig kleinen Gelände des Franziskanerklosters wurden etwa 140 Bombeneinschläge gezählt.

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Anmerkung: Angesichts der immer wieder diskutierten Frage nach dem Warum der Bombardierung der Städte scheint hier ein kurzer Rückblick angebracht: In Deutschland und England gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg Befürworter des Luftkriegs gegen städtische Zentren. In England bereits in den zwanziger Jahren, denn die Royal Air Force verfügte schon damals über eine Bomber-Anweisung, deren Vorstellungen über einen solchen Krieg allerdings vom Chef des Empire-Generalstabs 1928 aus völkerrechtlichen Gründen abgelehnt wurden. Von 1940 an setzten sich mit Zustimmung Churchills die strategischen Konzepte der Royal Air Force durch. Um dieselbe Zeit, im Juni 1940, befürwortete der Chef des Wehrmachtführungsstabes, General Alfred Jodl, Terrorangriffe. Der Luftwaffen-Generalstabschef Hans Jeschonnek schlug im September 1940 vor, gezielt Wohngebiete zu bombardieren. Die Wehrmacht besaß allerdings keine strategische Bomberflotte. Sie hat daher den Terrorluftkrieg nicht in ein kriegsentscheidendes strategisches Konzept umsetzen können.

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Quellen: Stadt (Hg.) „700 Jahre Stadt Dorsten“, Dorsten 1951. – Wolf Stegemann in RN vom 22. März 1984, ders. vom 22. März 1985, ders. vom 22. März 1994. – Jo Gernoth „Die Feuer regnen ließen“ in der WAZ vom 21. Oktober 2011. – 398th Bombardment Group Formation Chart Mission 174, 22 March, Target Attacked: Dorsten, Germany (auch Foto). – Veröffentlicht auch in www.dorsten-unterm-hakenkrez.de
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