Von Wolf Stegemann
Bereits am 9. März 1945 bombardierten alliierte Flugzeuge die Stadt. Doch einige Tage später sollte die vollendete Zerstörung der heutigen Altstadt erfolgen. Am 22. März 1945, ein herrlicher Frühlingstag mit Sonne und blauem Himmel über Dorsten, starteten in High Wycomb (England) 100 Halifax-Bomber der Royal Airforce, 12 Lancaster und ebenso viele Mosquitos der 8. Pfadfindergruppe mit dem Auftrag, Dorsten um 14.30 Uhr englischer Sommerzeit in Schutt und Asche zu legen. Flakgruppen rund um Dorsten standen zur Abwehr bereits. Letztlich ohne Erfolg. Auch Schüler waren eingesetzt.
Nach der Verordnung zur „Heranziehung von Schülern zum Kriegshilfseinsatz der deutschen Jugend in der Luftwaffe“ vom 26. Januar 1943 wurden in einer ersten Auswahl 11.503 Flakhelfer (offizielle Bezeichnung: Luftwaffenhelfer) schulklassenweise eingezogen und zum Teil kaserniert. Sie erhielten regelmäßig Unterricht, der aber zunehmend eingeschränkt wurde und schließlich ganz ausfiel. Die Flakhelfer ersetzen Flaksoldaten, die für die Front gebraucht wurden. Die Formel 100 Flakhelfer für 70 Soldaten erwies sich bald als falsch. Die etwa 16 Jahre alten Jungen kämpften oft fanatischer als die desillusionierten Landser, da die Schüler von ihren Lehrern meist propagandistisch ideologisiert waren. Die Flakhelfer übernahmen sämtliche Funktionen selbst an schweren Flugabwehrkanonen vom Richtschützen bis zum Geschützführer und erhielten dafür 50 Pfennig Tagessold. Im Juni 1944 betrug ihre Zahl bereits 56.000. Offiziell waren sie Mitglieder der Hitlerjugend; dadurch hatten die Flakhelfer keinen Kombattantenstatus, was bei Gefangennahme dazu führen konnte, dass sie wie Partisanen behandelt wurden. Diese Gefahr wuchs, als die Flakhelfer in der letzten Kriegsphase auch zum Erdkampf herangezogen wurden. Ihre Verluste sind nicht bekannt. Doch lassen Berichte von zahlreichen Volltreffern in Flakstellungen hohe Opferzahlen vermuten (nach Barth/Bedürftig: Taschenlexikon Zweiter Weltkrieg, Pieper München 2000).
Flakstellungen rund um Dorsten
Rund um Dorsten gab es mehrere Flakstellungen, in denen Schüler des Dorstener Gymnasium Petrinum aus Borken, Gladbeck und von anderen Orten ihren Dienst taten. Um bei nächtlichen Angriffen und beim Überfliegen die alliierten Flugzeuge als Ziele sehen zu können, leuchteten riesige Scheinwerfer den Himmel ab. Gleich mehrere Scheinwerferstrahlen nahmen dann die Flugzeuge ins Visier und die Flakbedienungen konnte dann das Ziel gut sehen. Der von den Flak-Scheinwerfern erzeugte Lichtstrahl reichte je nach Wetterlage bis zu zwölf Kilometer hoch. Dorsten und die anderen Stadtteile wurden auf diese Weise von der Reserve-Flakscheinwerfer-Abeilung 450 beschützt, die zum Flakscheinwerfer-Regiment 74, das zum Flakregiment 46 in der 4. Flak-Division unter General Hoffmann gehörte. Der Regimentsstab lag im Dorstener Franziskanerkloster. Die in und um Dorsten stationierten Flakeinheiten nannte man „Flakgruppe Dorsten“. Ihr Auftrag erstreckte sich auf den Schutz des Hydrierwerks Scholven, des Munitionsdepots in Wulfen und anderer Industriewerke und Städte des nördlichen Ruhrgebiets wie Gladbeck, Marl und Dorsten gegen Tiefflieger. Daher war die Flakgruppe auf Abwehr von Flugzeugen eingerichtet, die in tiefen und mittleren Höhen flogen. Am Bückelsberg in Wulfen, in der Marler Heide, in Ekel sowie in Altendorf-Ulfkotte (1. Batterie schwere Flakabteilung 445) und an anderen Orten in und um Dorsten gab es Flakstellungen. In Ulfkotte lagen mindestens 15 Jungen der Unterprima des Gymnasium Petrinum in Stellung (1943).
Unterricht in der Flakstellung in der Gälkenheide
Eine weitere Groß-Batterie lag im Gleisdreieck Deuten nördlich von Dorsten, auch Gälkenheide genannt. Die Stellung war begrenzt von der Reichsbahnlinie Hervest-Dorsten-Deuten-Borken im Westen und im Osten von den Linie Hervest-Dorsten-Wulfen-Coesfeld. Das Dreieck beschloss im Norden das zentrale Munitionslager Dorsten-Wulfen (Muna). Die Groß-Batterie sicherte den Eingangsbereich zum Ruhrgebiet, denn von den Niederlanden oder aus den Lufträumen um Rheine und Münster flogen die alliiertenBomberverbände ein. Ebenso war das Munitionsdepot in Wulfen zu sichern, von dem in Zügen Munition an die Front transportiert wurde. Die Batterie umfasste die 1. und 2. schwere Flakabteilung 445 und die 5. Batterie die schwere Flakabteilung 336.
Die Flakhelfer des Gymnasium Petrinum in Dorsten und des Remigianum in Borken wohnten in der Stellung und hatten Unterricht. Fast alle waren vom Geburtsjahrgang 1928. Auch Lehrlinge aus Dorsten taten in dieser Stellung Dienst. Die Lehrlinge wurden von Rektor Schäfer der Volksschule Dorsten-Holsterhausen betreut. Den Gymnasiasten erteilte der Dorstener Studienrat Lensing Unterricht. Da kurz vor Kriegsende von der Flakstellung im Gleisdreieck auf herannahende amerikanische Panzer mit schwerer Flak geschossen wurde, umstellten amerikanische Panzer zur Überraschung der noch anwesenden Soldaten und Flakhelfer das Dorstener Gleisdreieck fast gänzlich. Die Deutschen sprengten ihre Geschütze und hatten den Befehl, sich nach Norden abzusetzen. Bei Zurückgehen über die große Wiese Richtung Wulfen wurden die Flaksoldaten und Flakhelfer von alliierten Panzern gestellt. Es kam zum Schusswechsel und danach zur Gefangennahme der deutschen Soldaten.
Artur Kramm verweigerte den Dienst an der Flak
Die Scheinwerferabteilung 450 hatte zwei Batterien. Die eine saß bei Sickingsmühle, die andere um Wulfen. Beide Batterien verfügten über jeweils neun Scheinwerfer. Einer der zur dieser Abteilung einrücken hätte sollen, war der Holsterhausener Artur Kramm, der als „Ernster Bibelforscher“ (Zeuge Jehovas) den Kriegsdienst verweigerte. Er wurde deshalb 1943 vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und im Zuchthaus Halle an der Saale enthauptet. Sein Sohn Hans-Georg Kramm erinnert sich, wie er als Junge kurz nach Kriegsende auf den zerstörten Scheinwerfergestellen wie auf einem Karussell gefahren ist.
1997 trafen sich in Dorsten noch einige wenige ehemalige Flakhelfer mit dem Historiker und Autor Dr. Ludger Tewes, der in seinem Buch „Jugend im Krieg“ die Ereignisse und Schicksale der Flakhelfer zwischen Rhein, Lippe und Emscher 1989 dokumentierte. Etliche Angaben in diesem Artikel sind seinem Buch entnommen. Die älteren Herren, die sich nach über 50 Jahren getroffen hatten, haben ihre Zeit als Flakhelfer nicht vergessen. Angst spielte keine Rolle, sagten sie. Wenn sie nicht an der Flak standen, gab es Wettkämpfe. Sie machten das Jugendsportabzeichen. Echtes Elend, so erinnerten sie sich, hätten sie in jenen Monaten nicht erfahren. Und so konnten sie mit viel Freude ihre Erinnerungen austauschen, zu denen auch die erzählten Anekdoten der Münsteraner Bischöfe Deming und Averkamp gehörten, mit denen die Dorstener einst an der Flak standen.