Das Porträt: Elisabeth Gräfin von der Schulenburg. Als Ursulinennonne Sr. Paula, als Künstlerin, Ehrenbürgerin und Autorin Tisa – Ihr 20. Todestag am 8. Februar 2021

Gerd Ruge und seine Tante Tisa von der Schulenbburg, 1994 in Dorsten; Foto: Wolf Stegemann

Gerd Ruge und seine Tante Tisa von der Schulenburg, 1994 in Dorsten; Foto: Wolf Stegemann

Von Wolf Stegemann

6. Februar 2021. – Am 8. Februar 2021 jährt(e) sich zum 20. Mal der Todestag der Nonne, Künstlerin und Ehrenbürgerin Elisabeth (Tisa) Gräfin von der Schulenburg bzw. Sr. Paula. Eigentlich sollte an diesem Tag auf dem Gelände der früheren Zeche Fürst Leopold in Hervest ein Tisa-Archiv eröffnet werden, doch der Umbau des Hauses wurde nicht rechtzeitig fertig. Daher wurde die Eröffnung auf den Sommer verschoben. Tisa von der Schulenburg wurde 1903 in Tressow, unweit von Wismar, geboren und lebte von 1952 bis zu ihrem Tod als Sr. Paula im Ursulinenkloster in Dorsten. Als Künstlerin nahm sie den Namen „Tisa“ an. Von Geburt Gräfin, aus Berufung Künstlerin und aus Überzeugung Nonne war Sr. Paula, vormals geschiedene von Barner, davor geschiedene Hess und davor geborene Gräfin Elisabeth Karoline Mary Margarete Veronika von der Schulenburg, eine höchst ungewöhnliche Frau, die annähernd ein volles Jahrhundert gelebt und fast das gesamte 20. Jahrhundert mit seinen Brüchen und Verwerfungen erlebt hatte. Daher zeichneten persönliche und existenzielle Brüche auch ihr Leben. Nach Dorsten kam sie schon Ende der 1940er-Jahre. Sie wählte die Stadt, weil hier – im Kreis Recklinghausen – ihr Bruder Fritz-Dietlof Anfang der 1930er-Jahre gelebt hatte. Sie wohnte „als Ostflüchtling“ im Pfarrhaus von St. Agatha, wo sie katholisch wurde, und schnitzte für die Pfarrei aus den jahrhundertealten Balken des kriegszerstörten Rensingschen Hauses einen Kreuzweg. In der (unveröffentlichten) Agatha-Chronik ist unter dem 6. November 1949 nachzulesen:

„Im katholischen Arbeiterverein sprach die Konvertitin Gräfin von der Schulenburg über die Lage der englischen Arbeiterschaft. Ihre lebendigen Schilderungen – sie hat lange in England zugebracht – wurden mit großem Interesse entgegengenommen. Sie ist Bildhauerin.“

Ein reichhaltiges Leben im Auf und Ab der Widersprüche

Tisa von der Schulenburg; Foto: Horst Weihrauch

Tisa (Sr. Paula);  Foto: Horst Weihrauch

In Dorsten und in der Region war sie bekannter als der Bürgermeister. Nur wer von draußen kam, sie nicht kannte, mag überrascht gewesen sein. Die traditionell steife, die Bewegung hemmende, gleichmachende und vieles zudeckende Ordenstracht machte sie schon lange nicht mehr zur anonymen Streiterin Gottes und Braut Jesu, bei der nur das Gesicht in schwarz-weißer Umrahmung noch den sichtbaren Menschen ausmachte. Das Habit legten die Dorstener Ursulinen nach eigenem Ermessen und nicht ganz unumstritten ab. Unmerklich vom Alter der beiden letzten Lebensjahrzehnte gebeugt, stand vor einem eine groß gewachsene, dennoch zierlich wirkende, weißhaarige Dame in kniekurzem Rock, Pullover und Kniestrümpfen. Dazu ein Halstuch und eine Cordjacke, auf dem Kopf die unverwechselbare gestrickte Baskenmütze. Und wenn sie so vor einem stand, erzählte und gestikulierte und sprach, dann war sie ganz Dame von preußischem Einschlag: Aristokratin von Geburt und Erziehung, das ließ sich auch nach einem so reichhaltigen Leben im Auf und Ab der Widersprüche und Lebensformen nicht leugnen.

Lawrence von Arabien war ihr Leitbild ein Leben lang

Tisa beim Torwandschießen (Altstadtfest)

Tisa beim Torwandschießen (Altstadtfest)

Im hohen Alter wandte sie sich immer stärker nach außen, was sie durch leidvolle Erfahrungen in sich verschlossen hatte. Ihr reich geschwungener Lebensweg, den sie 1903 im Schutz ihrer evangelischen Familie als Komtesse auf Schloss Tressow in Mecklenburg betreten hatte, führte sie letzten Endes ins Dorstener katholische Ursulinenkloster. Dazwischen war sie nicht zur Freude ihrer Familie Künstlerin in Berlin, Paris und England, Ehefrau eines reichen Kaufmanns jüdischer Abstammung, noch weniger zur Freude ihres Standes. Nach der Scheidung war sie die den Gutshaushalt ihres Mannes in Klein-Trebbow verwaltende Frau eines preußischen Junkers. Sie war Bildhauerin, Sozialfürsorgerin und Journalistin nach dem Kriege, ließ sich erneut scheiden und konvertierte zum Katholizismus, um 1950 Ruhe zu finden in klösterlicher Geborgenheit der Ursulinen. „Untertauchen, Identität verlieren, aus allem raus, aus der Isolation des Standes, aus der Überlieferung, aus den Bindungen“, war stets ihr gedanklicher Lebensbegleiter und Lawrence von Arabien ihr Held, der Held ihrer Generation. Denn er, der englische Schriftsteller, der unter anderem Namen in den Militärdienst ging und bei einem Motorradunfall ums Leben kam, war ein Leitbild ihrer frühen Jahre, im Verborgenen vielleicht bis an ihr Lebensende.

Konversion zum Katholizismus – Untertauchen in der Kloster-Anonymität

Tisa von der Schulenburg und ihr Mann Fritz Hess in der Schweiz

Tisa und Fritz Hess 1928 in der Schweiz

Tisas Leben war ein Untertauchen, bei dem sie mehr als einmal den Boden unter den Füßen nicht mehr fühlte. Ihre Heirat und Emigration, ihre Zuwendung zu englischen Bergarbeitern, wo sie sich zerschmettern lassen wollte, „damit irgendwelche Splitter fruchtbar weiterwirken“, ihre Konversion zum katholische Glauben: das alles war ihre neue Haut, die sie brauchte, um auch die Schicksalsschläge während der NS-Diktatur zu überwinden, die ihren Lieblingsbruder Fritz, der von 1928 bis 1932 Assessor beim Landratsamt Recklinghausen gewesen war, das Leben kostete. Er wurde wegen des Attentats auf Hitler 1944 als Verschwörer hingerichtet. – In der Anonymität des Klosters fing Sr. Paula ihr Leben im freiheitlichen Nachkriegsdeutschland an. Warum Dorsten? Warum gerade nach Berlin und London jetzt Dorsten? Hamburg war ihr zu kaufmännisch-kalt, Süddeutschland zu schwülstig-barock. Um in der Nähe der Bergleute zu sein („Meine dunklen Brüder“), kam sie durch private Beziehungen nach Dorsten, einer Stadt, die für die Nachkriegsjugend neu aufgebaut werden musste. Denn das alte Dorsten starb im Bombenhagel des Jahres 1945. Sr. Paula damals: „Entweder raffen wir uns auf und geben der Stadt das Gepräge, oder wir denken nur an Essen und Trinken und lassen diese alte Stadt zu einem gesichtslosen Gebilde werden!“ Sr. Paula war eine von denen, die mithalfen, der Lippestadt das Gepräge zu geben. „Ich spreche aus ganzem Herzen mein Ja zu Dorsten.“ Die Stadt erkor die preußische Generalstochter und künstlerische Nonne 1972 zu ihrer Ehrenbürgerin und gründete zwanzig Jahre später ihr zu Ehren die kommunale „Tisa von der Schulenburg-Stiftung“, um Nachwuchskünstler und -künstlerinnen zu fördern. In ihrer Rede bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft sagte sie:

„Man kann aus seiner Haut nicht raus. […] Es geht nur um eins, mit jedem Wurf neu zu versuchen, ob es mir nicht gelingt, als Künstler besser zu verstehen, als Mensch besser zu werden. C’est ça.“

Kritiker begrüßt die Schrecken der neuen Bilder

Im Jahre 1965, zwei Jahre vor seinem Tod, sagte der renommierte Kunstkritiker Albert Schulze Vellinghausen, der mit Tisa von der Schulenburg befreundet war, in einer Ausstellungseröffnung über sie:

„In aller großen, aller wahrhaftigen Kunst, sitzt – auch hinter dem scheinbar Zarten und scheinbar idyllisch Schönen verborgen – das große Entsetzen und der große Warnruf. Kunst ist nicht Komfort und ist nicht Konsum – auch wenn manche Sammler (ich gehöre dazu) Kunst mitunter privat konsumieren. […] Das aufgerufene Leidensschicksal – sei es der Juden, der Neger, der Flüchtenden in Vietnam oder Indien, der Flüchtlinge in aller Welt – dieses Schicksal sperrt sich gegen den Verbrauch. Die Größe aber mancher dieser Blätter liegt in der Unverdaulichkeit. Möge im Duktus, im Temperament, in der Kurve dieser zeichnenden Feder – liebe Schwester Paula – diese Feder eine immer neu suchende Bildhauerin, auch weiterhin vieles unverdaulich bleiben. Denn die Kraft besteht, so heißt es im West-Östlichen Divan, bis zum Mittelpunkt der Erde, dem Boden angebannt. […] Von daher begrüße ich auch den Schrecken dieser schönen Bilder.“

Der Fernsehjournalist und angeheirateter Neffe von Tisa von der Schulenburg, Gerd Ruge,  sagte 1974 über ihre Kunst:

„Da wird nichts Schreckliches durch Schönheit übertüncht, da ist nichts von falscher Versöhnlichkeit, die den Rückblick auf das Grauen erträglicher machen soll, und gerade darum, weil auch das Schreckliche und Tragische in Härte und Reinheit schonungslos einbezogen wird, konnten Tisa von der Schulenburgs Bilder die Kraft großer Kunst gewinnen. Daher vermögen sie auch heute junge Menschen direkt anzusprechen, ihnen – vielleicht mehr als es Fotodokumente tun können – einen unmittelbaren gefühlsmäßigen Zugang zu einer Vergangenheit zu vermitteln, die auf schreckliche Weise reich war an extremen Situationen im Leben der Menschen.“

Auf das Leid und die Not der Menschheit aufmerksam gemacht

Bundesminbisterin Merkel steckt Tisa von der Schulenburg den Orden an

Bundesministerin Merkel steckt den Orden an

Die Klostermauern wurden im Laufe der Jahre transparent. Sr. Paula tauchte wie ein Stabhochspringer wieder auf und nahm die Mauer des Klosters. Und mit ihr kam der reiche Schatz der menschlichen und künstlerischen Erfahrung ihres langen Lebens zum Vorschein, das sie wie besessen niederschrieb, um der Jugend eine stille, schlichte und dennoch eindringliche Mahnerin zu sein, wobei sie den Zeigefinger nie lehrend erhob, sondern mit ihm hindeutete auf all das Leid und die Not der Menschheit – hier und in der Welt. 1961 schuf sie den Brunnen vor dem Heimatmuseum am Markt, der Auskunft gibt über die Jahrhunderte lange Geschichte der Stadt (siehe den von der Stadt vom Marktplatz weggeräumten Paula-Brunnen) und 1990 wurde die kommunale „Tisa von der Schulenburg-Stiftung“ gegründet. 1994 erhielt Tisa von der Schulenburg das Bundesverdienstkreuz, das ihr in Dorsten die damaligen Bundesumweltministerin Angela Merkel überreichte. Im Rahmen der begleitenden Kulturveranstaltungen „Heroes“ der „Ruhr 2010“ stellte eine Schülergruppe (12 bis 14 Jahre) der Gesamtschule Wulfen unter Leitung der Lehrerein Sylke Wedekind und der Medienpädagogin Sabine Bornemann eine Multimedia-Schau über das Leben Tisa von der Schulenburgs zusammen, die im April als DVD in der alten Henrichshütte in Hattingen gezeigt wurde.


Siehe im Dorsten-Lexikon auch: Sr. Paulas Einstein-Köpfe
Ebenso: Schulenburg-Archiv, privat


Literatur: (Auswahl):
Wolf Stegemann „Tisa 1903-1993“, Fotodokumentation, Dorsten 1993. – Anneliese Schröder „Tisa Schulenburg“, Recklinghausen 1983. – Wolf Stegemann/Thomas Ridder „Der 20. Juli. Die Schulenburgs eine Familie im tragischen Konflikt zwischen Gehorsam und Hochverrat“, Dorsten 1994.

Werke:
Tisa von der Schulenburg „Wie die Ränder einer Wunde. Bilder der Klage“, Kevelaer 1983. – Dies. „Zeichnungen. Aufzeichnungen“, o. J.. – Dies. „Ich hab’s gewagt. Bildhauerin und Ordensfrau – ein unkonventionelles Leben“, Freiburg 1981. – Dies. „Des Kaisers weibliche Kadetten. Schulzeit in Heiligengrabe – zwischen Kaiserreich und Revolution“, Freiburg 1983. – Dies. „Was ist aus uns geworden? Skizzen und Notizen vom Kriegsende“, Freiburg 1983. – Dies. „Umkehr in die Freiheit. Erfahrungen zwischen Kloster und Welt“, Freiburg 1984. – Dies. „Meine dunklen Brüder. Als Bildhauerin unter Bergarbeitern“, Freiburg, 1984. 

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