Kommentar von Helmut Frenzel
17. Dezember 2020. – Man kann manches über die jüngste Sitzung des Rates sagen – es war die dritte der neuen Amtsperiode –, aber nicht, dass sie langweilig gewesen wäre. Ganz im Gegenteil: Sie verlief unerwartet lebendig und hatte einen hohen Unterhaltungswert. Über anderthalb Stunden beharkten sich die Ratsmitglieder der bürgerlichen Parteien und der AfD. Da wurde ein Antrag auf Befangenheit des Bürgermeisters in seiner Funktion als Ratsvorsitzender gestellt und abgelehnt. Da wurde durch Beschluss der Versammlung der Tagesordnungspunkt, um den es eigentlich ging, vom Platz 36 auf Platz 3 vorgezogen und so zum Hauptthema der Sitzung erhoben. Da gab es den Antrag der AfD, die Behandlung des fraglichen Punktes von der Tagesordnung abzusetzen, was vom Bürgermeister und Ratsvorsitzenden mangels nachgewiesener Dringlichkeit und mit dem Segen der Kommunalaufsicht, die die AfD-Fraktion eingeschaltet hatte, zurückgewiesen wurde. Und es gab den Antrag der drei Ratsfraktionen von CDU, SPD und Grünen, der Auslöser der ganzen Vorstellung war. Unter der Überschrift „Demokratiefeindliches Verhalten der AfD-Ratsmitglieder Bühne und Kirschmann“ beantragten die drei Parteien, der Rat solle die Äußerungen der beiden AfD-Ratsmitglieder in Bezug auf die Corona-Pandemie, die sie in der Öffentlichkeit getätigt hatten, missbilligen und die AfD-Fraktion sich davon distanzieren. Der eine hatte in der Öffentlichkeit eine Schutzmaske mit der Aufschrift „Corona-Diktatur“ getragen, der andere hatte sich auf einer Facebook-Seite Verschwörungstheorien zu eigen gemacht und verbreitet.
Schaden private Äußerungen dem Rat als Ganzes?
Um es vorweg zu nehmen: Der Antrag der drei Parteien wurde erwartungsgemäß mit den Stimmen aller Ratsmitglieder angenommen mit Ausnahme der drei anwesenden AfD-Mitglieder, die dagegen stimmten. Ein zentrales Argument der Antragsteller war, dass private Äußerungen eines Ratsmitglieds regelmäßig in Verbindung gebracht würden mit seinem Status als Mitglied des Stadtrates. Es gebe keine Trennung von privaten Äußerungen und solchen, die sie explizit in ihrer Rolle als Ratsmitglied tätigen. Dies schade dem Rat als Ganzes und deswegen dürfte und müsste sich der Rat damit befassen. Die AfD hielt dagegen, die umstrittenen Äußerungen, ob man sie richtig oder falsch finde, seien von der im Grundgesetz garantierten Meinungsfreiheit gedeckt und rechtfertigten nicht eine Beschäftigung des Rates mit ihnen. Darüber und über weitere Aspekte des Antrags wurde dann heftig gestritten. Die Debatte endete schließlich mit der Zustimmung des Rates zu dem Antrag.
Kann Ratsmitglied nur sein, wer den Anforderungen gewachsen ist?
Bei dem emotionsgeladenen Hin und Her blieb ein Aspekt unbeachtet. In ihre Begründung des Antrags hatten die Antragsteller hineingeschrieben, dass die beiden betroffenen Ratsmitglieder der AfD den Anforderungen an ein Ratsmitglied „wertemäßig und intellektuell nicht gerecht werden können oder wollen“, und legen ihnen nahe, ihr Ratsmandat niederzulegen. Damit verlässt der Antrag den Boden der inhaltlichen Auseinandersetzung und gibt ein Urteil ab über die Personen. Dahinter steht offenbar die Idee, dass Ratsmitglied nur sein kann, wer den Anforderungen gewachsen ist. Das ist eine neue Dimension. Aber dieses Kriterium kann ja nicht nur für AfD-Mitglieder gelten. Sollen künftig alle Ratsmitglieder daraufhin überprüft werden, ob sie die Anforderungen an ein Ratsmitglied „wertemäßig und intellektuell“ erfüllen? Und wenn sie diese – nach wessen Beurteilung auch immer – nicht erfüllen, sollen sie dann ihr Mandat niederlegen?
Abwertende Urteile über Andersdenkende führen auf vermintes Gelände
Wer das so sieht, der findet in der Vergangenheit durchaus Beispiele, bei denen sich diese Fragen stellen. Wie kann es sein, dass der Rat mit allen seinen Mitgliedern die Ansiedlung des neuen Einkaufszentrums am Lippetor und die damit verbundene Ausweitung der innerstädtischen Verkaufsfläche um 40 Prozent gutheißt – eine Entscheidung, die sich inzwischen als ein kapitaler Fehlschlag erweist. Waren die Ratsmitglieder dieser Entscheidung intellektuell gewachsen? Und wieso haben die Ratsmitglieder nicht den Spekulationsgeschäften mit Schweizer Franken Einhalt geboten und damit Verluste der Stadt von über 40 Millionen Euro verhindert? Waren sie dieser Aufgabe „wertemäßig und intellektuell“ gewachsen? Die Frage wäre durchaus von Interesse, weil maßgebliche Ratsmitglieder, die an den einschlägigen Entscheidungen beteiligt waren, noch heute an führender Stelle im Rat sitzen. Das sind immerhin handfeste Beispiele, bei denen erwiesen scheint, dass die Ratsmitglieder ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen nicht gewachsen waren. Aber keines der Ratsmitglieder hat deswegen aus eigenen Stücken sein Mandat niedergelegt oder wurde dazu aufgefordert. Und wie ist es, wenn ein Ratsmitglied an Gott glaubt und betet und dies öffentlich macht? Kann man da noch annehmen, dass er den Anforderungen an ein Ratsmandat „wertemäßig und intellektuell“ gerecht wird?
Öffentliche Verunglimpfung im Ratsantrag nicht hinnehmbar
Diese Fälle zeigen, auf welches Terrain man sich begibt, wenn man im Meinungsstreit den Boden der inhaltlichen Auseinandersetzung verlässt. Was die drei Antragsteller CDU, SPD und Grüne mit der Beurteilung von zwei Mandatsträgern bewirkt haben, ist ein Dammbruch. Das ist übrigens nichts Neues. Immer mehr wird es zur Mode, Menschen auszugrenzen und an den Rand der Gesellschaft zu drängen, die eine Meinung außerhalb des allgemein gebilligten „Meinungskorridors“ vertreten. Das geschieht zunehmend nicht mehr durch inhaltliche Auseinandersetzung mit Argumenten, sondern indem man sie persönlich abwertet oder sie als zu einer bestimmten Gruppe zugehörig ächtet. Besonders beliebt ist die Etikettierung als rechtsradikal. Wer als rechtsradikal eingestuft ist, mit dessen Argumenten braucht sich niemand mehr auseinanderzusetzen. Wenn in einem Ratsantrag, der durch die Presseberichte nach aller Erwartung eine breite Öffentlichkeit erreicht, zwei Ratsmitgliedern die Fähigkeit abgesprochen wird, ihrer Aufgabe im Rat „wertemäßig und intellektuell“ gerecht zu werden, dann ist das eine Verunglimpfung und eine Grenzüberschreitung. Beides ist, gleichgültig welcher politischen oder sonstigen Orientierung man zuneigt, nicht hinnehmbar. Der Rat der Stadt sollte sich von diesem Passus in dem Ratsantrag von CDU, SPD und Grünen distanzieren.
Vielen Dank an Helmut Frenzel für seinen beachtlichen Kommentar. Er kann zeigen, Rechtsextremismus muss an seiner Wurzel bekämpft werden, indem man seine Lügen, seine Menschenverachtung aufzeigt. Wird diese Linie verlässen, erliegt man allzu leicht der Versuchung, sich selbst zu feiern und sich zum Richter anderer Menschen aufzuspielen. In diesem Verständnis hat der Rat mit seinem Beschluß eine Chance vertan.