Von Wolf Stegemann
7. November 2020. – Der 9. November wird in den Medien und auch von Historikern immer wieder als „Schicksalstag der Deutschen“ bezeichnet. Denn viele wichtige Ereignisse der europäischen und deutschen Geschichte sind mit dem 9. November der Jahre untrennbar verbunden: An diesem Tag, nach dem französischen Revolutionskalender der 18. Brumaire, begann 1799 die Alleinherrschaft Napoleons, der bekanntermaßen Europa mit Krieg überzog. Rund 50 Jahre später, am 9. November 1848, wurde in Wien das Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung Robert Blum von Angehörigen konterrevolutionärer Truppen erschossen. „Ich sterbe für die Freiheit“, lauteten seine letzten Worte. Das Ereignis markierte den Anfang vom Ende der so genannten Märzrevolution in den Staaten des Deutschen Bundes. Zehn Jahre nach der Erschießung Blums wurde in über 400 deutschen und vielen nicht-deutschen Städten vom 8. bis zum 10. November 1859 der 100. Geburtstag des „Freiheitsdichters“ Friedrich Schiller gefeiert. Die Schillerfeiern vom November 1859 markieren zugleich das Ende der Reaktionszeit, die der Revolution von 1848/49 folgte. Auch das Ende der „Oktoberrevolution“ 1917 fiel nach dem Gregorianischen Kalender auf den 9. November: An diesem Tag bildeten die bolschewistischen Revolutionäre unter Lenin die Regierung der Volkskommissare. Schicksalstage waren in Deutschland der 9. November der Jahre 1918, 1923, 1938, 1939 und 1989 (sie unten). Doch nicht die Schicksale knüpften die Fäden unserer Geschichte, sondern Menschen. In der jahrhundertelangen Geschichte der Stadt Dorsten fand am 9. November 1938 ein reichsweites Ereignis statt, dass uns allen in Erinnerung bleiben sollte als eine Mahnung, die davon zeugt, wozu Menschen auch in einer Kleinstadt wie Dorsten fähig sind. Daher ist das Erinnern nach wie vor wichtig. Am Montag (9. November 2020) wird der Garten im Museum mit dem Gedenkstein aber von 15 bis 18 Uhr für alle offen sein für einen individuellen Moment des Gedenkens. Um der jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung auch in unserer Stadt angemessen zu gedenken, wird das Jüdische Museum Westfalen, in Zusammenarbeit mit der Stadt Dorsten, eine Plakataktion veranstalten, die der vielen Opfer des Nationalsozialismus in Dorsten erinnern.
Dorstener verwüsteten die jüdische Synagoge in der Wiesenstraße
Schon am frühen Abend des 9. November 1938, als es bereits dunkelte, drangen uniformierte und zivil gekleidete Dorstener mit Brandfackeln in das jüdische Gemeindehaus an der Wiesenstraße ein, in dessen oberen Etage sich der Gebetsraum befand. Friedhelm Potthoff, damals gerade neun Jahre alt, erinnerte sich im Gespräch mit dem Autor 1981 noch genau an die Verwüstung der Dorstener Synagoge in der Wiesenstraße. Nach über 40 Jahren wurde erstmal die Zerstörung der Synagoge aufgearbeitet und von Dirk Hartwich und Wolf Stegemann in Band 1 „Dorsten unterm Hakenkreuz“ veröffentlicht. Friedhelm Potthoff und seine Schwester wohnten nämlich in dem der Synagoge angebauten Nachbarhaus. An den von den Nationalsozialisten aufgerufenen Gewalttaten waren neben der SS, SA, Hitlerjugend auch Teile der Bevölkerung, die Stadtverwaltung, das Finanzamt, die Feuerwehr und Polizei aktiv beteiligt. In der johlenden Menge erkannte Potthoff viele Dorstener, darunter Jugendliche in HJ- und BDM-Uniform, auch Schüler. Angeführt wurde der Haufen von SS-Männern. Etwa 25 von ihnen drangen in das Haus ein. Der inzwischen verstorbene Friedhelm Potthoff erinnerte sich:
Ein Augenzeuge: „Jeder Wurf wurde mit Gejohle quittiert“
„Plötzlich drang Lärm von der Straße in unsere Wohnung. Ich rannte zum Fenster und sah ungewöhnlich viele Menschen in Uniform, die in den Händen Fackeln hielten und vor unserem Haus an der Ecke Wiesenstraße/Nonnenstiege standen. Im Schein der Fackeln konnte ich viele bekannte Dorstener Gesichter erkennen. … Während einige in das Haus eindrangen, standen andere am offenen Hof zur Nonnenstiege und sahen zu den Fenstern der Synagoge hinauf. Sie grölten, sangen und pfiffen.“
Im jüdischen Gemeindehaus, in dem sich die Synagoge befand, wohnte der 74-jährige Viehhändler Josef Minkel mit seiner 22-jährigen Tochter Hertha und seinem 27-jährigen Sohn Emanuel. Der alte Minkel starb Monate später, und die Tochter wanderte danach über Holland nach England aus.
„Die Randalierer stürmten die Treppe zur Synagoge hoch. Durch den Anbau unseres Hauses konnten wir von unseren Fenstern direkt in die Synagoge sehen. Was sich dort abspielte, war schlimm. Da das Haus in die Häuserzeile der Wiesenstraße eingebaut und zudem sehr alt war, konnten die mitgebrachten Fackeln zur Brandstiftung nicht benutzt werden. So beschränkten sich die Zerstörer auf die Verwüstung der Synagoge.
Wir erschraken, als plötzlich Mauerbrocken und Fenster samt Rahmen mit großen Vorschlaghämmern herausgeschlagen wurden. Die Uniformierten schlugen in der Synagoge alles kurz und klein und warfen die zerbrochenen Stühle und die sakralen Gegenstände durch die Fensterlöcher auf den Hof zur Nonnenstiege hinunter. Jeder Wurf wurde mit einem Gejohle quittiert.
Vor dem Alten Rathaus wurde auch die Thorarolle verbrannt
Da zwei der vier Synagogenfenster über unserem mit Glas überdachten Innenhof lagen, beschädigten die hinausgeworfenen Gegenstände dieses Glasdach, unter dem sich früher die Feuerungsanlage unserer Bäckerei befand. Ich weiß noch, dass Mutter eine Menge Lauferei zum ,Braunen Haus’ hatte, um den Schaden ersetzt zu bekommen. Nachdem sämtliches Synagogen-Inventar auf dem Hof lag, schleppten es die Täter auf den nahen Marktplatz. Direkt vor dem alten Rathaus, wo früher eine Pumpe stand, warfen sie es auf einen Haufen und zündeten ihn an. Während Gebetsbücher, Schriften, die Thorarolle und die sakralen Gewänder brannten, schlugen die Hitlerjungen auf ihre Trommeln, und es gab viel Geschrei. Aus der Gordulagasse kam eine andere Gruppe, die ebenfalls Gegenstände zum Verbrennen anschleppte. Welches Haus oder Geschäft dieser Haufen vorher geplündert hatte, kann ich nicht sagen. Inzwischen war es völlig dunkel geworden, und man sah noch lange den Feuerschein auf dem Marktplatz leuchten.“
Gedenktafel verschwand vom Ort des damaligen Geschehens
Soweit der Augenzeuge Friedhelm Potthoff. Ob bei dieser Aktion jüdische Bürger verletzt wurden, konnte Potthoff nicht bezeugen. Doch liegt die Aussage eines anderen Informanten vor, der angibt, dass sich der alte Jude Minkel, der im jüdischen Gemeindehaus wohnte, den Eindringlingen entgegengestellt haben soll, um die Thora zu verteidigen. Dabei haben ihn die Randalierer blutig geschlagen. 1983 brachte die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ am Alten Rathaus am Markt, dem Ort der Verbrennungen des Synagogeninventars, eine von Tisa von der Schulenburg (Schw. Paula) gestaltete Gedenktafel an. Das Bild zeigt Wolf Stegemann (re) und Bürgermeister Hans Lampen sowie Mitglieder der Forschungsgruppe. 1997 wurde die Gedenktafel „klammheimlich“ von der Stadtverwaltung wieder abgenommen und eingelagert. Der Verein für Orts- und Heimatkunde Dorsten brachte dann dort eine allgemeine Geschichtstation zur Geschichte des Alten Rathauses an. Die abagenommene bronzene Gedenktafel verstaubte irgendwo im Keller. Lange Zeit zeigten sich Bürgermeister und Verwaltung gehörlos, wenn sie auf das Fehlen der Gedenktafel angesprochen wurden. Erst durch mehrfachen Protest aus der Bürgerschaft – vor allem Stadträtin Petra Somberg und Dirk Hartwich – ließ die Stadtverwaltung die Gedenktafel 2008 wieder anbringen. Allerdings an irgendeinem Haus in der Wiesenstraße, da die alte Stelle an der Seitenwand des Alten Rathauses für die Geschichtsstation belegt worden war.
Juden zum Verkauf ihrer Geschäfte und zur Ausreise genötigt
Am 9. und 10. November 1938 wurden in der Essener Straße und in der Lippestraße die Fenster der jüdischen Geschäfte Perlstein eingeschlagen und Juden der Landgemeinden verhaftet, was offiziell „Schutzhaft“ hieß. Aus dem Gefängnis kamen sie erst wieder frei, nachdem sie sich bereit erklärten, ihr Geschäft zu „verkaufen“ („Arisierung“) und das Land zu verlassen. Die junge Frau Adele Moises (später verheiratete Wieler) aus Wulfen wurde von SA-Männern nachts halbnackt aus dem Dorf gepeitscht. Sie suchte Schutz bei der Polizei. Agatha-Pfarrer Ludwig Heming, Pfarrer von 1913 bis zu seinem Tod 1940 dokumentierte umfangreich und detailliert die Ereignisse während seiner Amtszeit bis 1940. Bemerkenswert ist, dass er beispielsweise ausführlich schrieb, wenn ein Hitlerjunge einem Jungen der Agatha-Jugendgruppe eine Ohrfeige gab, die Jungs sich schubsten oder die NSDAP irgendetwas von der Kirche wollte. Über die öffentliche Verfolgung der Dorstener Juden und der Zerstörung der Synagoge – praktisch vor seiner Haustür – steht in der Agatha-Chronik (bis heute unveröffentlicht) kein einziges Wort.
Eine gelenkte Propaganda-Aktion der Nationalsozialisten
In dieser Nacht vom 9. auf den 10. November wurden reichsweit 259 Synagogen angezündet und mehrere hundert zerstört. Es gab 91 Tote. Juden wurden zu Tausenden misshandelt und teils schwer verletzt. Die deutschen Juden hatten danach weit über eine Milliarde Reichsmark als „Wiedergutmachung“ des durch die Zerstörungen verursachen „Schadens am Volksvermögen“ an die Reichskasse abzuführen. Auch wurden Glasschaden-Versicherungszahlungen (vor allem Allianz-Versicherung) nicht an die geschädigten Juden, sondern an das Reich gezahlt. An den von den Nationalsozialisten aufgerufenen Gewalttaten waren in Dörfern, Klein- und Großstädten neben der SS, SA und Hitlerjugend auch Teile der Bevölkerung, die Verwaltung, das Finanzamt, die Feuerwehr und Polizei entweder direkt oder als sogenannte „Schreibtischtäter“ beteiligt. Auch in Dorsten.
Was geschah am 9. November der Jahre 1918, 1923, 1939, 1944, 1989?
1918 ging in Deutschland dem Zusammenbruch der Hohenzollernmonarchie die Niederlage im Krieg voraus. Als die revolutionäre Bewegung die Reichshauptstadt Berlin erfasste, verkündete Reichskanzler Prinz Max von Baden am 9. November eigenmächtig die Abdankung des Kaisers; das Amt des Reichskanzlers übertrug er dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert. Dass aber die revolutionäre Bewegung ausgerechnet am 9. November 1918 Berlin erreichte, war reiner Zufall. Es hätte auch ein Tag früher oder später sein können. Anders sieht es mit dem „Hitler-Putsch“ 1923, der Pogromnacht“ 1938 und dem Attentatsversuch von Georg Elsner 1939 aus: Diese Ereignisse stehen in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem 9. November 1918. Der oben bereits erwähnte Dorstener Pfarrer Ludwig Heming schrieb am 9. November 1918 in seine Chronik:
„Der große Weltkrieg ist beendet, aber die Revolution ist ausgebrochen. Große Unruhen in der Stadt. Überall Ansammlungen auf den Straßen. Abends auf dem Marktplatz Volksversammlungen, Redner stellten sich auf ein schnell hergerichtetes Podium und griffen in ihren Reden manche Bürgerliche an, u. a. unseren geistlichen Prorektor Beckmann vom Lehrerseminar. Es wurde bemängelt, dass er 4 Liter Milch bezogen hätte, während andere Leute hätten hungern müssen. (Später stellte sich heraus, dass der Herr Prorektor nur ein wenig Milch für sich behalten und den größten Teil an seine Nachbarn abgegeben hatte). Im Großen und Ganzen verlief die Revolution in diesen Tagen ruhig, man las fast nur in den Zeitungen darüber. Unsere Leute atmeten förmlich auf und freuten sich, dass endlich das Blutvergießen ein Ende hatte und die Lebensmittelnot vorüber war. Sie war auch auf das Höchste gestiegen. Hamstern etc. war Tagesordnung. … In der Zeitung wurde häufiger berichtet, dass jemand an Hungertyphus gestorben sei. Natürlich mit Beendigung des Krieges wurde es noch lange nicht besser. Erst mussten die Grenzen wieder geöffnet werden und das konnte noch monatelang dauern.“
9. November 1923: Hitlers dilettantischer Marsch zur Feldherrnhalle
Inflation, kommunistische Unruhen und die französische Besetzung des Ruhrgebietes begünstigten Anfang der 1920er Jahre die Entstehung reaktionärer und nationalistischer Strömungen. In dieser instabilen politischen Lage plante Adolf Hitler als Parteiführer der NSDAP in München einen gewaltsamen Putsch. Sein Ziel war es, die Regierung in Berlin abzusetzen und selbst die Macht in einer nationalen Diktatur zu erringen. Am Sonntagmorgen des 9. November 1923 marschierte Hitler zusammen mit General Erich Ludendorff und weiteren Anhängern zur Feldherrnhalle in München. Doch die bayerische Polizei stoppte den Marsch und damit auch Hitlers Versuch, gewaltsam an die Macht zu gelangen. Die NSDAP wurde daraufhin verboten, Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, Geißelbrecht zu 18 Monaten. Dilettantisch nennen Historiker diesen Putsch heute. An Hitlers Seite machte zehn Jahre später der nach 1945 in Dorsten wohnende Friedrich Geißelbrecht (Foto) als „Blutzeuge“ des 9. Novembers 1923 Partei-Karriere in der NSDAP. Nach dem Krieg wohnte er bei seinem Schwager Richard Herpers, Handels- und Berufschuldirektor in Dorsten, an der Luisenstraße in Holsterhausen. Denn Friedrich Geißelbrecht war mit dessen Schwester seit 1924 verheiratet. In Dorsten wurde er 1947 als „belastet III“ auch entnazifiziert. 1985 starb er in München.
9. November 1939: Georg Elsers misslungenes Attentat auf Adolf Hitler
Elser, ein aus dem Württembergischen stammender Schreiner, war seit dem Münchener Abkommen vom Herbst 1938 entschlossen, Hitler, Göring und Goebbels zu töten, um den für ihn absehbaren Krieg zu verhindern. Während der traditionellen Ansprache Hitlers am Vorabend des 9. November im Keller des Bürgerbräus sollte der Sprengsatz durch einen Zeitzünder zur Explosion gebracht werden. Die Bombe explodierte auch zum vorgesehenen Zeitpunkt, da aber Hitler aufgrund des schlechten Wetters nicht nach Berlin zurück fliegen konnte, sondern den Zug nehmen musste, verkürzte er seine Ansprache und verließ wenige Minuten vor der Explosion den Bürgerbräukeller. Durch die Wucht der Explosion wurden acht Teilnehmer der Veranstaltung getötet und über 60 verletzt. Da nicht sein konnte, was nicht sein durfte, hatte man auch hier schnell eine griffige Erklärung zur Hand: Die „Vorsehung“ habe Hitler gerettet, hieß es ein ums andere Mal in der NS-Presse. Georg Elser wurde verhaftet und am 7. April 1945 im KZ Dachau ermordet.
9. November 1944: Luftminen beschädigte in Dorsten Kirchen
Noch vor der Totalbombardierung im März 1945 wurde die Dorstener Agathakirche am 9. November 1944 durch eine Luftmine in der Nähe des Bahnhofs und der evangelischen Kirche stark beschädigt. Wegen der Zerstörung der Fenster konnte keine Messe mehr gehalten werden. Die Frühmesse fand fortan in St. Ursula statt. Auch die evangelische Stadtkirche wurde zerstört. Die Kirchengemeinde verlegte daher ihren Gottesdienst und die Konfirmandenstunden in die Kaplanei von St. Agatha, wo es hieß: „Wir geben ihr gerne Obdach.“ Am 9. November fanden in der Agathakirche stets Gedenkstunden für die Gefallenen des Krieges statt, wie diese 1941: „Eindrucksvolle Gedenkfeier für die Gefallenen in der Art, wie sie schon 1940 von Herrn Kaplan Dammann eingerichtet und eingeübt war.“ (aus Agathachronik).
9. November 1989: Fall der Berliner Mauer leitete Wiedervereinigung ein
Das Freiheitsstreben in Osteuropa, namentlich in Polen und Ungarn, erreichte 1989 auch die DDR. Was nach dem Mauerbau vom August 1961 über Jahrzehnte nur wie eine in ferner Zukunft liegende Utopie erschein, wurde am 9. November 1989 ganz unverhofft zur Realität: nach 28 Jahren der Fall der Berliner Mauer. Am Abend des 9. November verkündete SED-Pressesprecher und Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz überraschend die sofortige Öffnung der Mauer.
Siehe auch: Friedrich Geißelbrecht – ein hoher NSDAP-Funktionär und „Blutzeuge“ in Dorsten entnazifiziert auf http://www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de
Siehe auch: Jüd. Gedenktafel in www.dorsten-lexikon.dej
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