Von Helmut Frenzel
3. Juli 2020. – In der letzten Sitzung des Rates vor den Sommerferien Mitte Juni hatte Stadtkämmerer Hubert Große-Ruiken seinen großen Auftritt. Er konnte für das Haushaltsjahr 2019 das seit Menschengedenken beste Jahresergebnis der Stadt Dorsten verkünden. Anlass war der Sanierungsbericht an die Bezirksregierung, dem in Kürze der förmliche Jahresabschluss folgt. Der Stadtkämmerer sprach mehrmals von einem „sehr guten Ergebnis“, den gefeierten Überschuss selbst bezifferte er nicht. Das entspricht den Üblichkeiten im Dorstener Stadtrat. Die Haushaltspläne werden öffentlich zelebriert, zumeist mit der Drohung, dass der Haushaltsausgleich mal wieder gefährdet sei und man unbedingt noch Sparpotentiale mobilisieren müsse. Das Ergebnis, das nach Ablauf eines Jahres festgestellt wird, ist dagegen nicht der Rede wert, insbesondere nicht der öffentlichen Rede. Das scheint ja auch nicht nötig, denn in der Berichtsvorlage wird das Ergebnis ausführlich behandelt und sie kann jeder im Rats- und Informationssystem der Stadt aufrufen und sich informieren. Für diejenigen, die das nicht tun, nennen wir den Überschuss hier: er beträgt 10,6 Millionen Euro. Aber dass im Rat ein glänzendes Ergebnis wie das von 2019 mit einem solchen kaum zu überbietenden Desinteresse behandelt wird, gibt schon zu denken. Auch in der lokalen Presse kein Wort darüber.
Jahresergebnis 2019 liegt 10,2 Mio. Euro über Plan
Wohl um bei Ratsmitgliedern und Bürgern den Eindruck zu vermeiden, in Dorsten sei der Reichtum ausgebrochen, und auch weil das Jahresergebnis um unglaubliche 10,2 Millionen über dem geplanten Ergebnis von gerade mal 390.000 Euro liegt, sah sich der Stadtkämmerer veranlasst, das „sehr gute Ergebnis“ zu relativieren. Mehrere Einmaleffekte hätten das Jahresergebnis geprägt, darunter eine geringere Kreisumlage und die Erstattung von Sozialkosten mit jeweils einer Million Euro, dann ein Kursgewinn bei der Ablösung eines CHF-Kredits und die Auflösung einer Rückstellung mit zusammen ebenfalls einer Million Euro, schließlich – ergebnismindernd – der Verzicht auf eine Gewinnausschüttung des städtischen Entsorgungsbetriebes. In Summe eine Ergebnisverbesserung von 2,1 Millionen Euro. Diese Einmaleffekte werden sich, so Große-Ruiken, in den nächsten Jahren nicht wiederholen. Ohne sie hätte das Ergebnis lediglich 8,5 Millionen Euro betragen. Auch diese Zahl blieb ungenannt.
So weit so gut. Und doch fehlt da etwas. Der aufmerksame Beobachter hatte schon in früheren Vorlagen eine außerordentlich hohe Zunahme der sonstigen Zinsaufwendungen bemerkt. Bei dem allgemeinen Trend sinkender Zinsen fällt eine solche Zunahme sofort ins Auge. Es geht um 2,8 Millionen Euro. Unter den Einmaleffekten, die der Stadtkämmerer aufzählte, wäre das der mit Abstand höchste Einzelbetrag. Wenn man ihn wie die anderen herausrechnet, dann beträgt das „bereinigte“ Jahresergebnis nicht 8,5 Millionen Euro, sondern 11,3 Millionen Euro. Wieso nennt der Stadtkämmerer diesen Einmaleffekt nicht? Dass er ihn einfach nur vergessen hat, ist auszuschließen. Denn in den Erläuterungen zum Ergebnis schreibt er selbst:
„Die Steigerung der sonstigen Finanzaufwendungen ist auf den höheren Rückstellungsbedarf beim Zahlerswap zurückzuführen. Der ermittelte Marktwert zum 31. 12. 2019 war um ca. 2,8 Mio. € höher als der bisher berücksichtigte Wert.“
Hier wird nicht behauptet, dass der Stadtkämmerer eine wichtige Tatsache verschweige und so gegen das Gebot der Wahrhaftigkeit verstoße. Denn die Tatsache selbst ist ja, – wenn auch einem Außenstehenden kaum verständlich –, in der Berichtsvorlage dargestellt. Und doch muss es Gründe geben, die ihn veranlassen, diesen Posten nicht zu nennen.
Immer wieder Millionenverlust bei bedenklichem Spekulationsgeschäft
Wahrscheinlich hat es etwas mit dem zu Grunde liegenden Geschäft zu tun. Der „Zahlerswap“ ist ein hochrisikobehaftetes Spekulationsgeschäft, dass noch in der Ära des früheren Bürgermeisters Lambert Lütkenhorst und seines Kämmerers Wolfgang Quallo abgeschlossen wurde, nämlich im Februar 2009. Es geht um ein Zinssicherungsgeschäft mit einem Volumen von 25 Millionen Euro und einer Laufzeit von 20 Jahren. Der Vertragspartner beziehungsweise dessen Rechtsnachfolger zahlt der Stadt den (variablen) 3-Monats-Euribor, die Stadt ihrerseits 3,15 Prozent fest. Aus der Differenz ergibt sich ein Marktwert, der von Beginn an wegen stark sinkender Zinsen negativ war. Der Clou an dem Geschäft ist: es ist noch gar nicht in Kraft. Der vereinbarte Termin für den Start der Laufzeit ist der 30. Dezember 2033 (das ist kein Schreibfehler), vierundzwanzig Jahre nach Vertragsabschluss, und läuft bis zum 30. Dezember 2053 mit einem einseitigen Kündigungsrecht des Vertragspartners zur Mitte der Laufzeit. Abhängig von dem schwankenden 3-Monats-Euribor zum jeweiligen Bilanzstichtag steigt oder sinkt der Marktwert des Geschäfts. Wäre der „Forward Zahlerswap“, wie der vollständige Name lautet, schon aktiviert, würde die Stadt tatsächlich Zinszahlungen leisten müssen. Da es aber noch nicht gestartet ist, muss die Stadt Rückstellungen für drohende Zinszahlungen bilden. 2019 waren das die besagten 2,8 Millionen Euro. Mit diesem Betrag summieren sich die Rückstellungen für den „Forward Zahlerswap“ seit 2009 auf unglaubliche 8,8 Millionen Euro. Es ist der höchste Verlust, den die Stadt bei einem einzelnen Spekulationsgeschäft je erlitten hat.
Spekulationsverlust vorerst nicht zahlungswirksam
Man kann gut nachvollziehen, dass niemand von den heutigen Verantwortungsträgern, die überwiegend zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses in wichtigen Funktionen beteiligt waren, mit diesem Geschäft und seinen Folgen etwas zu tun haben will. Der Verlust hat nichts mit der Wirtschaftsführung in 2019 zu tun. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er das Ergebnis 2019 herunterzieht. Es würde um 2,8 Millionen höher ausfallen, wenn es diesen Verlust nicht gäbe. Deswegen gehört es auf die Liste der Einmaleffekte, die das Ergebnis 2019 prägen. Allerdings gibt es noch ein anderes Argument. Im Unterschied zu den vom Stadtkämmerer genannten Einmaleffekten ist die Rückstellung von 2,8 Millionen nicht zahlungswirksam. Das Geschäft ist nicht abgewickelt und der tatsächliche Verlust bis zur vorzeitigen oder endgültigen Abwicklung nicht bekannt. Wie also soll man das Geschäft angemessen behandeln?
Generalstaatsanwaltschaft sah keinen Grund zum Einschreiten – und heute?
Dieser Aspekt wirft eine ganz andere Frage auf. Wem ist eigentlich durch die Rückstellungen ein Schaden entstanden? Der frühere Stadtkämmerer Wolfgang Quallo sprach von nicht echten Verlusten, solange die Geschäfte nicht abgewickelt seien und der endgültige Verlust durch Leistung einer Zahlung nicht feststellbar sei. Damit stellte er die Mitglieder des Haupt- und Finanzausschusses ruhig, die das unwidersprochen hinnahmen. Doch die andere Seite der Medaille ist: Nach den geltenden Bilanzierungsregeln ist auch der noch nicht realisierte Verlust im Jahresabschluss der Stadt zu berücksichtigen: in der Ergebnisrechnung durch Einbuchung des (nicht realisierten) Verlustes und in der Bilanz durch Einbuchung einer entsprechenden Rückstellung, was gleichbedeutend ist mit der Begründung einer zukünftig erwarteten Zahlungsverpflichtung. Der Verlust mindert das Eigenkapital und für die Wiederherstellung des Eigenkapitals sind die Bürger zuständig, die an erster Stelle für alle Verluste der Stadt haften. Den Schaden haben die Bürger.
Als es um die Frage möglicher Untreue der für den Abschluss der Spekulationsgeschäfte Verantwortlichen – nicht nur des „Forward Zahlerswaps“ sondern auch anderer Geschäfte – ging, machte sich die Generalstaatsanwaltschaft Hamm die Auffassung zu eigen, dass kein Schaden entstanden sei, weil die Spekulationsgeschäfte eben nicht abgewickelt und die Schäden nicht realisiert (bezahlt) seien. Sie ignorierte, dass die Schäden auf Heller und Pfennig in den Jahresabschlüssen der Stadt Dorsten dokumentiert sind und die Bürger dafür in Haftung genommen wurden. Die Einleitung von Ermittlungsverfahren lehnte sie ab. Heute, zehn Jahre später, ist ein Großteil der Schäden durch die Spekulationsgeschäfte realisiert. Dass die Generalstaatsanwaltschaft ihre Haltung deswegen geändert hätte, davon ist nichts bekannt. Das führt zu dem absurden Ergebnis, dass bis heute für die Millionenverluste aus den Spekulationsgeschäften niemand im Rathaus zur Rechenschaft gezogen wurde. Die für die Geschäfte Verantwortlichen werden nicht belangt, weil angeblich kein Schaden entstanden ist. Und für die Verluste, die die Stadt verbuchen musste, ist der Bürger zuständig. Er zahlt für die Schäden mit hohen Steuern und Abgaben und durch den Verfall der städtischen Infrastruktur. Und er zahlt selbstredend für die Pensionen der Verantwortungsträger, die die desaströsen Geschäfte abgeschlossen hatten. Und die Politiker? Die haben wie man sieht eine Lösung gefunden: nur nicht darüber reden.
Michael Kleinespel: Warum die heimische Presse darüber nicht berichtet, ist schnell erklärt! Sich mit solchen Dingen zu beschäftigen, erfordert viel Recherchevermögen und Zeit und Courage. Da berichtet man doch viel lieber über reaktivierte Schießstände oder andere Themen, die nicht weh tun.
Unglaublich, aber – leider – wer liest (und versteht) das schon? Die lokale Presse berichtet auch nicht. Warum ist das so?