Von Wolf Stegemann
8. Mai 2020. – Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg beendet und mit der Niederlage Deutschlands auch der Nationalsozialismus. Es war ein Krieg, in dem die Deutschen sechs Jahre lang Europa mit Krieg und kriegerischen Verbrechen überzogen hatten. Für Dorsten und andere Regionen war der Krieg bereits Wochen vorher beendet. Er brachte den Familien großes Leid. Viel davon ist in den Feldpostbriefen zu lesen, die zwischen den Familienmitgliedern an der Front und denen in der Heimat geschrieben wurden. Immer wieder finden Kinder oder Enkelkinder in Schubladen solche verstaubte und etwa 80 Jahre alten Feldpostbriefe, private Zeugnisse des Krieges. – Schon einen Tag nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, am 2. September 1939, nahm eine Institution die Arbeit auf, die laut Heeresdienstvorschrift 84 (H. Div.) im besten Amtsdeutsch so beschrieben wurde:
„Das Feldpostwesen ist ein Versorgungsgebiet der Kriegswehrmacht und dient der Postversorgung der Kriegswehrmacht im Verkehr mit der Heimat und innerhalb der Kriegswehrmacht.“
Man schätzt, dass während des Krieges von 1939 bis 1945 insgesamt etwa 40 Milliarden Feldpostbriefe zwischen der Front und Heimat und umgekehrt befördert wurden. Etwa 12.000 Mann standen im Dienst der Feldpost, die ein Gebiet vom Nordkap bis Nordafrika und vom Atlantik bis zum Kaukasus versorgte. 400 Feldpostämter wurden bei den Kommandobehörden und Stäben bis auf die Ebene der Divisionen eingerichtet. Jedes war durchschnittlich mit 18 Mitarbeitern besetzt. In wichtigen Kriegsjahren – wie etwa 1942 – schätzte man den täglichen Eingang der Sendungen auf 25 Millionen. Davon kam knapp ein Viertel von der Front, drei Viertel aus der Heimat. Durchschnittlich waren die Briefe zwischen 12 und 30 Tagen unterwegs. Das Foto zeigt Feldpost lesende Soldaten. Von Anfang an gab es die Feldpost-Prüfstellen (F.P.P.), die praktisch für die Zensur verantwortlich waren. Bei der stichprobenartigen Prüfung wurden auch Chemikalien und Lösungen benutzt, um Geheimtinte sichtbar zu machen. Die Prüfer – gewöhnlich vier Offiziere und 14 Unteroffiziere mit Übersetzern – hätten pro Tag 1.000 Briefe lesen müssen. Sie schafften bestenfalls ein Drittel. Ihre wichtigste Aufgabe war es, zu verhindern, dass geheime Nachrichten verbreitet wurden.Die „Amtsgruppe für Wehrmachtpropaganda“ hatte längst erkannt, welche Bedeutung der Briefverkehr zwischen Front und Heimat hatte. Deshalb versuchten die verschiedensten Dienststellen Einfluss auf die Korrespondenz der Soldaten zu gewinnen. „Feldpostbriefe sind Waffen, halten wir auch diese Waffen scharf“, hieß es immer wieder. Deshalb sollten Briefe nach der Militärpropaganda „männlich, klar und fest“ und „positiv“ sein. Reichspropagandaminister Goebbels kümmerte sich oft und intensiv um Feldpostangelegenheiten. Zu seinem besonderen Ärger gehörten die Briefe gefangener Soldaten aus Russland, die über neutrale Länder nach Deutschland kamen und die Propaganda widerlegten, dass sowjetische Soldaten keine Kriegsgefangenen machen, sondern alle gleich erschießen. Solche Briefe wurden natürlich konfisziert.
„Mit vielen Grüßen auch von der gnädigen Frau, der Frau Generalin!“
Mit Glück und Geduld des Suchens sind Trödelmärkte Fundgruben für das Aufspüren bemerkenswerter Dokumente. Ein Packen mit 83 Feldpostbriefen aus den Jahren 1939 bis 1944 des bei Kriegsbeginn Obergefreiten und Stabsgefreiten bei Kriegsende, Erich L., dessen Eltern zeitweise in Holsterhausen wohnten, dann nach Herten-Disteln bzw. Mohrungen in Ostpreußen umzogen, gehören zu solchen seltenen Zeugnissen der Zeit- und Kriegsgeschichte. Sie sind Dokumente des unmittelbaren Erlebens an der Front und in der Heimat. Alle Briefe stecken in den blauen, grünen und bräunlichen Originalumschlägen mit Feldpostnummern und sind mit verschiedenen Stempeln versehen. Neben dem Wert als Zeitzeugnisse haben die Briefe auch einen für Philatelisten. Die Dokumente, manche mit Bleistift geschrieben und heute fast unleserlich, den Umschlägen zu entnehmen, sie mühsam zu entziffern, und sich in Familienangelegenheiten, Ängste und Sorgen hineinzulesen, ist, als nähme man einen verbotenen Blick durch das Schlüsselloch in die Intimsphäre dieser Menschen. In den Briefen werden Wünsche und Sehnsüchte offenbart, aber auch nationalsozialistische Ideologie verkündet, über „bolschewistische Bestien“ geschrieben und gesagt, dass es noch „viel zu viele Juden“ gebe. Das nutzte die NS-Regierung auch zu Propagandazwecken, wie die Titelseite einer Propagandaschrift zeigt (Bild). An den Führer und den Sieg wird geglaubt – zumindest in den ersten beiden Kriegsjahren. Aber auch Banales findet in den Briefen statt, wie schön warm das Wetter doch sei und wie groß die geernteten Zwiebeln seien.
Der Leser von heute spürt ein Unbehagen, nicht nur, weil er Briefe liest, die für ihn nicht bestimmt sind, sondern auch, weil er erkennt, wie manche der beteiligten Schreiber der nationalsozialistischen Propaganda erlegen sind und ihr noch anhängen, als schon das Ende sich abzeichnete. Aber er begegnet auch dem Zweifel, der Angst und Sorge, Schuldgefühlen und der steten Hoffnung an der Front wie in der Heimat, dass es doch noch irgendwie zum Sieg kommen muss, weil man sich etwas anderes überhaupt nicht vorstellen kann. Obwohl der Russe bereits im „geliebten Ostpreußen“ steht, werde man ihn wieder „rausschmeißen“, hofft eine Briefschreiberin im Herbst 1944.
Kraft, Zuversicht und Durchhalteparolen
Als das nahe Ende des Krieges in wenigen Wochen von den kommandierenden Militärs bereits als absolute Niederlage 1945 zu erkennen war, enthielten ihre Durchhalteparolen zu diesem Zeitpunkt immer noch die wohlvertrauten Thesen der vorhergehenden Jahre. Am 11. Februar 1945 schrieb das Oberkommando der Heeresgruppe B, die an der Rheinfront kämpfte und später im Ruhrkessel vernichtet wurde, an die NS-Führung unter dem Aktenzeichen 3/45:
„Es ist notwendig, dass jeder Frontsoldat in seinen Briefen an die Heimat Kraft, Vertrauen und Zuversicht ausstrahlt. Die Soldaten sind in geeigneter Form darauf hinzuweisen. Verbissene Kampfentschlossenheit und starke Herzen werden die kritische Lage meistern.“
Feldpostbriefe der Holsterhausener Familie Schröter
Hier ist nur eine kleine Auswahl dieser Briefe auszugsweise abgedruckt. Satzbau- und Satzzeichenfehler sind nur dann verbessert, wenn dadurch eine bessere Lesbarkeit zu erzielen war.Das Foto zeigt den Briefschreiber und seine Mutter. Es lag in einem der Briefe.
Frau Luise L. aus Holsterhausen an den Obergefreiten Erich L., , Stab/Inf.-Ers.-Batt. 3 durch Deutsche Dienstpost Böhmen u. Mähren Brünn. Postleitstelle Prag, Donnerstag, 11. April 1940: „Das Einholen und Anstehen ist ekelhaft. Da bist Du sicher besser dran. Nur ein Beispiel: Hier stehen die Leute Schlange in wirren Reihen und eine viertel Schokolade. Da wäre mir die Zeit zu schade. Wegen Schokolade würde ich mich nie anstellen …“
Johann L. aus Holsterhausen, 26. Juni 1940: „Unser lieber Sohn! Es ist wunderbar und groß. Wir alle sitzen den ganzen Tag vor dem Radio und hören die stolzen Meldungen von unseren Siegen. So können wir alles miterleben; und hier am Radio noch viel größer, als wie ihr an der Front, wo ihr nur euren Teilabschnitte kennen lernt und den Rest im Heeresbericht hört. … Die Wochenschau haben wir auch jede Woche angeschaut, und wir werden es dem Führer und dem tapferen Heer nie genug danken können, dass sie uns die Schrecken des Krieges in der Heimat erspart haben. Und was wir nach dem endgültigen Siege im Aufbau von Europa erleben werden, daß wird ganz ungeheuer groß sein, und euch jungen Leuten steht dank unserem großen Führer eine wunderbare Zukunft bevor. Dem Führer sei Dank! … Dein Vater“
Obergefreiter Erich L., Stab/Inf. Ers. Batl. 3, 11. Juni 1941: „Na, was sagt Ihr denn zu unserem neuen Gegner? Vielleicht kann sich Papa noch erinnern, wie ich in meinem letzten Urlaub von der russischen Armee gesprochen habe und schon damals äußerte, daß mit den Bolschewisten auf Dauer keine freundschaftlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten sind. Dazu sind dort noch viel zu viele Juden. Neues gibt es hier noch nicht. Wir sitzen ständig an den Lautsprechern und hören die Frontberichte.”
Frau L., Mohrungen, 14. Oktober 1941: „Lieber Erich! Schreibe mir doch mal, wann es in Rußland fertig ist. Große Angst und Sorgen muß ich immer ausstehen, denke dann an Dich und Willi. Wie froh wäre ich, wenn ich hörte, in Rußland ist die Sache zu Ende, und ihr beide würdet wieder gesund in die Heimat zurückkehren. Ach, du lieber Erich, ich weiß noch, wie Du am Anfang des Krieges immer gesagt hast, der Krieg dauert nicht lange, Du müßtest schnell weg, wenn Du noch etwas abhaben wolltest. Du hast doch jetzt bestimmt die Nase voll und weißt auch, was Krieg bedeutet. Typisch Mutter, nicht wahr? Deine Mutter!“
Stabsgefreiter Erich L., 29. Oktober 1941, Mittwoch: „… Nun sind wir auch im letzten großen Kampf vor Moskau mit dabei. Hoffentlich gelingt es, die bolschewistische Hauptstadt noch vor Einbruch der großen Kälte zu bezwingen. Der Krieg hier in Rußland ist ein ganz anderer als sonst mit einem Staat. Das sind keine Menschen mehr, sondern wilde Horden und Bestien, die durch den Bolschewismus in den letzten 20 Jahren so gezüchtet wurden. Ein Mitleid mit diesen Menschen darf man nicht aufkommen lassen, denn sie sind alle sehr feige und hinterlistig …“
Frau Luise L., Herten Disteln/Westfalen, an Stabsgefr. Erich L., F. P. No. 27 159 K, Disteln, den 28. 9. 1943: „Lieber Erich, ich wollte Dir schon gestern schreiben, aber es war Alarm. Ich habe noch keinen Brief von Dir. Von Willi weiß ich nichts. Er hat sich noch gar nicht gemeldet. Ich wollte an seine Kompanie schreiben, das ist meine größte Sorge, was ist bloß mit ihm geschehen. Gestern waren sie an Kartoffel rausmachen mit sieben Mann Nachmittag und heute mit fünf aber bloß bis [unleserlich], weil es geregnet hat. … Sonst ist alles beim Alten. Du lieber Erich, hier wäre es denn mir alles leichter, aber es ist eben anders geworden. Der Papa der fehlt überall, aber Gott wollte es anders mit uns. Nun wollte ich, lieber Erich, schließen bis Dein Brief ankommt. Vom Willi warte ich jeden Tag, aber vergebens, nun lebe wohl bis aufs Wiedersehen, Deine Mutter.“
J. L., Mohrungen (Ostpreußen), an Stabsgefr. Erich L.; 19. November 1943, Freitag: „Unser lieber Sohn! … Ich bin jetzt auch in Mohrungen mit Mutter und Erni zusammen. Mutter will aber wieder weg, weil sie sich hier nicht wohl fühlt, möchte nach Herten zu ihrer Schwester. In Holsterhausen haben wir alles ganz abgebrochen. … Von Willi haben wir Post aus Südrußland bekommen. Es geht ihm gut. … Der Führer hat in seiner letzten Rede in München gesagt, daß die Vergeltung bestimmt kommt, und darauf warten wir. Jedenfalls werden wir dann die Genugtuung haben, daß das englische Volk dann noch mehr leiden muß. Überhaupt soll die Stimmung in England sehr schlecht sein, wie die Austauschgefangenen alle sagen. Wenn man das hört, dann hat man gleich wieder mehr Mut und erträgt die Unbill des Krieges viel leichter …“
Irene B. an Stabsgefreiter Erich L., D. V. K. 15, Feldpost Nr. 13 333; Snagov, 23. April 1944: „Lieber Erich! Zu Deinem Geburtstage meinen herzlichsten Glückwunsch, alles Gute wünsche ich Dir u. die beste Gesundheit u. noch einen Wunsch, daß du recht bald mit deinem Auto, in Snagov auftauchst! Vielen herzlichen Dank für deinen lieben Brief aus Roman [?], habe mich sehr darüber gefreut u. es scheint dir da recht gut zu gefallen beim Zuckerfabrikanten. Zucker u. Speck, das hat nun mal wieder richtig geklappt u. passt auch gut zusammen! Mein lieber Schatzi! Es gefällt mir hier recht gut, viel Sonne habe ich. Jetzt brauche ich nicht mehr sagen, bist du aber braun gebrannt. Beim Küchenpersonal hat es auch schon Stunk gegeben. … hat mich so ausgeschimpft, dass ich falsch wäre. Ich habe ihr aber gegeben. Meinetwegen kann sie gehen. Für mich ist sie fertig u. das Schönste jetzt muss ich mit ihr noch in einem Bett schlafen. Es wird ja wohl bald ein Ende haben. Bukarest wird jetzt viel bombardiert, aber unsere Ecke noch nicht, wie komme ich aus B. heraus. Margareta u. ich haben heute Sonntagsdienst. Arbeit ist auch wieder genug. Nun, mein Schatz, ich wünsche dir nochmals alles Gute und schicke dir 3 Vier Klee [gemeint vierblättrige Kleeblätter] mit, denn das soll Glück bringen. Die habe ich selbst gefunden. Herrn General habe ich auch eins geschenkt. Es grüßt dich herzlichst … Irene. Wirf sie also nicht weg.“
Stabsgefreiter Erich L.; 16. Juni 1944, Freitag: „Lieber Vater! … Heute wurde auch gemeldet, daß London und Südengland mit neuartigen Sprengkörpern schwersten Kalibers belegt werden. Der schwerste Kampf aller Zeiten ist im Gange. Jeder bietet natürlich das Äußerste auf, um den anderen zu vernichten. Aber einmal wird auch dieses Ringen ein Ende finden, und ausgehen darf und kann es nur mit dem Siege Deutschlands. Das hofft ein jeder von uns an der Front. …“
A. L. in 5 b Mohrungen (Ostpreußen), an Stabsgefr. E. L; 9. August 1944, Sonntag: „Unser Sohn! … Es wird nun, da sie mit dem Rußen die Vereinbahrung der Landung getroffen haben, für den Osten Deutschlands eine schwere Zeit kommen, denn die Feinde geben eher doch keine Ruhe, als bis alles ein Trümmerhaufen ist. Und wir müssen hier zusammenstehen mit dem Führer und Dr. Goebbels, der uns Mut macht gegen die Übermacht an Menschen und Material standzuhalten. Aber der Führer weiß schon, was er macht und er hat in der Hinterhand die Vergeltungswaffe, die eingreift an der Front. Dr. Goebbels sagte, daß es für jede Waffe eine Abwehrwaffe gibt. Nun denke ich, unser lieber Sohn, wenn die Abwehr für V 1 fertig ist, beginnen wir mit V 2, und die, die dieses V erwischt, müssen zusammenbrechen. Revolution in England, und der erste Krieg, den dieses Lumpengesindel verloren hat, hat ein Ende. Churchill und Genossen werden ausgerissen sein, aber England wird am Konferenztisch sitzen und leger und human vom Führer behandelt werden, denn es sind dann keine Juden und Judenknechte mehr, sondern nationale Engländer…“
Anneliese aus Mohrungen an Stabsgefreiten Erich L. Feldpostnummer 13 333; Mohrungen den 15. 10. 1944: „Lieber L. Ich will auch endlich wieder an Dich schreiben. Wir sind alle gesund. Wie geht es Dir? Ihr könnt froh sein, dass Du und Willi aus Rumänien raus seid. Bei uns ist es noch sehr schön warm. Wie ist bei euch in Ungarn das Wetter? Montag hat Mutti Geburtstag. Geschenke haben wir schon für Mutti. 3 x waren wir von der Schule aus Kartoffel lesen. Es war sehr schön. Jetzt brauchen wir nicht Kartoffel lesen. Wann kommst Du mal wieder zu uns? Grete musste auch Kartoffel lesen gehen. Was müßt ihr dort in Ungarn machen? Die Russen sind schon in unserem lieben Ostpreußen. Aber ich hoffe, daß wir sie rausschmeißen werden. Viele Grüße von Anneliese.“
Den Krieg überlebt
Erich L. hat den Krieg überlebt, sein Bruder Willi, der sich mit seiner Einheit aus Russland hat retten können, lag zwischenzeitlich in Weiden/Oberpfalz im Lazarett, von wo er seinem Bruder und seiner Mutter Briefe schrieb. Das abgedruckte Foto lag einem der Briefe bei. Auf der Rückseite ist vermerkt: Mama und Erich, Tingenhof in Januar 1941.