12. März 2020. – Jetzt ist es heraus. Der Leiter der Grundschule St. Agatha, Herbert Rentmeister, hat allen die Augen geöffnet. Manche Grundschüler (oder sind es viele?) können nicht lesen und manche (oder sind das auch viele?), die lesen können, verstehen das Gelesene nicht. Dass das so ist, daran sind die Eltern schuld. Sie spielen zu wenig mit ihren Kindern oder lesen ihnen zu selten oder gar nicht vor. Um Sprache zu erschließen und einen Wortschatz zu bilden, müssten die Kinder schon in der Vorschulzeit mit Spielen und Vorlesen motiviert werden. So steht es in einem Bericht der „Dorstener Zeitung“ vom 7. März 2020.
Damit ist alles klar. Wenn Kinder nicht lesen, sind die Eltern schuld. Die Schule hat damit nichts zu tun. Allerdings werden Eltern und auch andere sich fragen: Was tun die Kinder eigentlich vier Jahre lang in der Grundschule? Der Schulleiter Herbert Rentmeister sagt: Kinder lesen nicht, weil sie nicht lesen können. Warum können die Kinder nicht lesen? Eine zentrale Aufgabe der Grundschule ist es, den Kindern das Lesen beizubringen. Die Älteren werden sich daran erinnern, dass das in früheren Jahrzehnten funktioniert hat. Warum funktioniert es an der Schule des Herbert Rentmeister nicht mehr? Noch nie haben Grundschüler so viel Zeit in der Schule verbracht wie heute. Und trotzdem funktioniert das Lesenlernen nicht mehr? Was machen die Lehrer mit den Kindern?
Die Misere zieht sich durch viele Altersjahrgänge bis zum Studium
Dass da etwas im Argen liegt, ist wahrhaftig nicht neu. Die Defizite von Schülern in den elementaren Kulturtechniken, zu denen an vorderster Stelle das Lesen gehört, betreffen viele Altersjahrgänge. Im oben genannten Artikel der DZ heißt es, dass eine Gesamtschule in Kleve Defizite bei Fünft- bis Siebtklässlern festgestellt hat. Auch das ist keine Überraschung. Es sind die Jahrgänge, die gerade von der Grundschule in die weiterführende Schule gewechselt sind. Wir schließen daraus, dass diese Schüler die Grundschule schon mit Lernrückständen verlassen haben, nicht nur im Lesen. Solche Rückstände sind auch im Schreiben und Rechnen bekannt. Die Misere zieht sich durch viele Altersjahrgänge und reicht bis zum Studium. Kürzlich war in einer überregionalen Zeitung zu lesen: Anwärter auf ein Lehramtsstudium verfügen nicht über ausreichende Fähigkeiten in Rechtschreibung und Textverständnis. Normalerweise würde man sie zurückweisen. In Anbetracht des allgegenwärtigen Lehrermangels, besonders an Grundschulen, lässt man sie zum Studium zu und veranstaltet für sie Nachhilfekurse. Klingelt da was? Jetzt also holt die Universität nach, was an der Grundschule (!) hätte geleistet werden müssen.
Die Schuld alleine den Eltern zuzuschieben ist nicht akzeptabel
Wenn Grundschüler nicht lesen können, dann ist das zuallererst ein Versagen der Grundschule. Wer als Älterer bei seinen Enkeln mitbekommt, wie Grundschule heute geht, dessen Gemütszustand schwankt zwischen Fassungslosigkeit und Wut. Längst ist der Grundschule die Konzentration auf das Wesentliche abhanden gekommen. Was das Wesentliche ist? Der Verfasser dieser Zeilen hat vor vielen Jahren, als seine Kinder die Grundschule besuchten, Sr. Johanna Eichmann, die damalige Leiterin des St. Ursula-Gymnasiums, gefragt, was denn die Grundschüler mitbringen müssen, wenn sie an St. Ursula aufgenommen werden wollen und dort bestehen wollen. Die schlichte Antwort lautete: Sicherheit im Schreiben und Lesen und die Beherrschung der Grundrechenarten.
Wenn die Grundschüler beim Übergang an die weiterführenden Schulen diese Sicherheit mitbringen sollen, dann muss die Grundschule sie liefern. Aber die hat sich längst in allen möglichen anderen Beschäftigungen verzettelt frei nach dem Motto: was die Kinder in der Grundschule nicht gelernt haben, werden sie im Rest ihrer Schullaufbahn nicht mehr lernen (wie zum Beispiel englisch). Was für ein Irrtum! Die Schuld an der Misere alleine den Eltern zuzuschieben und damit die Schule von jeglicher Mitverantwortung freizusprechen ist inakzeptabel. Dass ehrenamtliche „Mentoren“ eingesetzt werden, um Grundschülern das Lesen beizubringen, ist – bei allem Respekt für den ehrenamtlichen Einsatz der „Mentoren“ – ein Armutszeugnis für die Grundschule. Und die Bemerkung des Schulleiters Herbert Rentmeister, ein Lehrer für 25 Kinder könne eine 1:1–Betreuung wie die „Mentoren“ nicht leisten, ein Zeichen der Hilflosigkeit. 1:1-Betreuung hat es in der Grundschule nie gegeben und wird es niemals geben und dennoch muss es möglich sein, dass Kinder in der Grundschule sicher lesen lernen. Es ist höchste Zeit, dass eine öffentliche Debatte um die Versäumnisse der Grundschule beginnt.