Von Wolf Stegemann
13. Februar 2020. – Vor Tagen fand in Dorsten ein außergewöhnlicher und bislang vielleicht auch erstmaliger Besuch statt. Ein älteres russisches Ehepaar besuchte in Begleitung von Verwandten Dorsten, um das zu sehen, was deren längst verstorbener Vater ihnen über Dorsten erzählt hatte, als sie noch Kinder waren. Er erzählte von seiner Arbeit als russischer Kriegsgefangener auf der Zeche Fürst Leopold und vom Leben in dem speziellen Zechenlager am Kanal. Jetzt, wo die Kinder alt sind, wollten sie den Dorstener Spuren ihres vor 22 Jahren verstorbenen Vaters nachgehen. Dabei flossen Tränen, denn sie sahen genau das, wie es ihr Vater beschrieben hatte.
In Dorsten gab es zeitweise über 58.000 Kriegsgefangene
In Dorsten erinnern noch etliche Orte an Menschen, die als Kriegsgefangene oder Zwangdeportierte hier arbeiten und in Lagern leben mussten. Denn sie wurden gebraucht, damit die Deutschen ihre nationalsozialistischen Endsiegfantasien aufrecht erhalten konnten, die insgesamt rund 65 Millionen Menschen das Leben kostete. Eigene Friedhofsbereiche, Jahrzehnte danach noch Heldenfriedhöfe genannt, geben darüber Auskunft. Besonders der sogenannte Russenfriedhof am Holsterhausener Waldfriedhof, auf dem über 400 Russen und Russinnen bestattet sind, die meisten ohne Namen, darunter auch Kinder – etliche verhungert, erschossen, erschlagen, an Krankheiten verstorben. Sie arbeiteten in den Dorstener Betrieben für die Kriegsproduktion oder in der Landwirtschaft, weil kriegsbedingt die deutschen Männer fehlten. Zeitweise lebten in Dorstener Lagern rund 58.000 Kriegsgefangene. Nach den wenigen Unterlagen der „Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“ in Berlin gab es in Dorsten zwei eigenständige Kriegsgefangenenlager: Oflag VI/E Dorsten (Lager an der Schleuse) und M-Stalag VI/J Fichtenhain Krefeld mit Zweiglager Dorsten, bewacht vom Landesschützenbataillon 319. Daneben noch etliche kleine Lager und Scheunen. Im Jahr 1941 waren in Dorstener Mannschaftslagern insgesamt 18.565 Kriegsgefangene untergebracht, von denen 17.590 im Arbeitseinsatz standen: 14.263 Franzosen, 6 Engländer, 2.719 Polen, 1.140 Kriegsgefangene aus südosteuropäischen Staaten, 437 Russen. 1942 erhöhte sich die Gesamtzahl auf 23.302, 1943 auf 58.288 (darunter über 23.000 Franzosen, 12.000 Russen und 24.000 Italiener); 1944 waren es noch 35.052 Kriegsgefangene.
Viel zu sehen gab es nicht, doch das Bewusstsein brachte sie zum Weinen
Einer von ihnen war der eingangs erwähnte tatarische (russische) Soldat Kamar Gimadeev mit der damaligen Geburtsnationalität (1918) „Wolga-Tatare“. Mit seiner Frau Haditscha hatte er sieben Kinder, von denen die Tochter Danija (68) mit ihrem Ehepartner aus in Jelabuga-Tatarstan im Januar 2020 nach Dorsten kam, um noch Spuren von dem zu sehen, was in der Erinnerung des Vaters bis zu seinem Tod im Jahr 1998 von Dorsten und der Zeche präsent geblieben war. Dafür reiste das Ehepaar von Kasan jenseits des Urals die 3179 Kilometer nach Dorsten und zurück. In Begleitung nach Dorsten befand sich das Ehepaar Ritter. Gerd-Rainer Ritter studierte in Minsk, wo er 1979 seine Frau Verena heiratete, eine Schwägerin der Tochter des Kriegsgefangenen Kamar Gimadeev. Betreut und über die damaligen Dorstener Verhältnisse informiert wurden sie von Wolf Stegemann, Autor dieses Artikels, und Andrea Schüller. Der Kontakt kam über die Stadtinformation Dorsten zustande.
Viel zu sehen gab es nicht. Das Gefangenenlager der Zeche existiert nicht mehr. Die Baracken sind verschwunden. Das ehemalige Lager wurde teilweise überbaut. Und die Zeche gibt es als solche auch nicht mehr. Dennoch besuchten die Russen auch die Plätze des Verschwundenen. Denn das Bewusstsein, dass hier, am Kanal, ihr Vater gefangen war, und hier in der Zeche arbeiten musste, bewegte die Tochter Danija tief, ebenso ihren Mann. Die Erzählungen des Vaters über den Kanal und die Brücke sowie sein Leben hier, wurden wieder so lebendig, dass Tränen kamen.
Ein „Fräulein Lisa“ brachte unseren Vater ins Schwärmen
Der Vater Kamar Gimadeev wurde 1940 Soldat in der Sowjetarmee. Im Juni 1941 begann der deutsche Russlandfeldzug und drei Monate später geriet er in der Schlacht um Kiew in Gefangenschaft. Zwei Monate wurde er in der Nähe von Poltawa in deutscher Gefangenschaft gehalten, bevor er im November 1941 nach Dorsten ins Lager 226 überführt wurde. Um nicht in die Legion Idel Ural (tatarische Legion auf Seiten der deutschen Wehrmacht) eingegliedert zu werden, änderte er die Nationalität und gab „russisch“ an, änderte auch den Vornamen in „Nikolai (Kurzform Kolja)“.
Kamar (alias Nikolai) Gimadeev wurde auf der Zeche Fürst Leopold in Hervest-Dorsten zur Zwangsarbeit unter Tage eingeteilt. Gerd-Rainer Ritter übersetzte, was Kamar Gimadeev seinen Kindern erzählt hatte und was die Tochter Danija bei ihrem Besuch in Dorsten wiedergab: Die Arbeits- und Lebensbedingungen empfand er als hart. Als im Jahr 1944 die Arbeitskräfte knapp wurden, änderte sich aus seiner Sicht das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Kriegsgefangenen merklich in positiver Hinsicht. Er schätzte die Behandlung der Kriegsgefangenen als relativ gut ein. In dieser Zeit brauchte er aufgrund gesundheitlicher Probleme mit der Lunge nicht mehr in die Grube einfahren. Er arbeitete als Zimmermann auf dem Zechengelände über Tage. Als zum Ende des Krieges die Bombardierungen von Dorsten begannen, wurden die Arbeitsunterbrechungen zwangsläufig größer. Die Kriegsgefangenen auf der Zeche suchten Deckung im Gelände. Sie verglichen die Kriegsereignisse vor ihrer Gefangennahme, als die deutsche Wehrmacht im Vormarsch weißrussische und ukrainische Städte bombardierte, mit der aktuellen Situation, in der Amerikaner und Engländer nun deutsche Städte bombardierten. Die Gedanken von Kamar gingen – ohne Hass zu empfinden – in die Richtung: Jetzt erleidet das deutsche Volk das gleiche Schicksal, wie vorher das russische, sagte er. Es gab auch Privates zu erzählen: „Ein ,Fräulein Lisa’, das auf der Zeche arbeitete, brachte unseren Vater ins Schwärmen. Welcher Art die Beziehung zu der jungen Dame war, blieb aber sein Geheimnis.“ Das Foto zeigt Gerd-Rainer Ritter mit seiner Frau und die Tochter des Kriegsgefangenen auf dem Boden des einstigen Lagers Fürst Leopold.
Die Zeche in Dorsten blieb bis zu seinem Tod in seinen Erinnerungen
Wie alle Soldaten hatte Kamar nach dem Krieg kaum über diese Zeit geredet. Das passierte erst zum Ende seines Lebens. Anfang April 1945 wurden die Kriegsgefangenen von amerikanischen Streitkräften befreit, die Russen unter ihnen wurden etwas später der Sowjetarmee übergeben. Nach strengsten Überprüfungen durch den sowjetischen Geheimdienst leistete Kamar Gimadeev bis Mai 1946 Dienst in der Sowjetarmee. Mit Befehl Nr. 0208 konnte er den Wehrdienst beenden und zu seiner Familie nach Almenderevo zurückkehren. Nach dem Krieg arbeitete er als Lagerarbeiter, später bis zum fünfzigsten Lebensjahr als Kraftfahrer. Die letzten vier Jahre wurde der Witwer (seit 1987) von seinen Kindern wechselseitig betreut und gepflegt, und gerade in diesen Jahren kamen immer wieder seine Erinnerungen an Dorsten, an die Zeche und das Lager am Kanal sowie an das „Fräulein Lisa“ ins Gedächtnis, was schließlich seine Tochter Danija und ihren Mann zur Reise nach Dorsten veranlasste. Das Foto zeigt Gimadeev als älteren Herrn.
Zur Sache: Das Lager befand sich an der Eisenbahnbrücke
Auf der Schachtanlage Fürst Leopold arbeiteten etwa 700 sowjetische Ostarbeiter und Kriegsgefangene vieler Nationen. Ein „Lager Fürst Leopold“ befand sich an der Eisenbahnbrücke in der Nähe der Ellerbruchstraße/Wasserstraße. Lagerführer war ein ehemaliger österreichischer SA-Mann. Bei Kriegsende haben ihn die russischen Arbeiter festgenommen, verprügelt und den Alliierten übergeben mit der Bemerkung: „Hat viel russisches Blut getrunken!“ Ein ehemaliger Schichtführer erinnert sich an eine Episode mit dem NSDAP-Ortsgruppenleiter von Hervest, Otto Berke: Wegen des schlechten Essens hatten die russischen Arbeiter gestreikt. Das war verboten. Sie konnten wegen Arbeitsverweigerung erschossen werden. Die Zechenleitung holte den NSDAP-Ortsgruppenleiter Berke, der selbst Reviersteiger war. Er hielt vor den murrenden Russen eine Rede. Sinngemäß sagte er: Wer arbeitet, muss auch essen! Ihr arbeitet, also müsst ihr auch essen! Danach ging Berke in die Küche, in der von Deutschen das Essen für die Russen gekocht wurde. Berke kostete die Suppe und kippte sie als ungenießbar um. Es war allgemein bekannt, dass das deutsche Küchenpersonal die für russische Arbeiter bestimmten Lebensmittel verschoben hat. Auf Anfrage nach dem Einsatz und Verbleib der russischen Kriegsgefangenen teilte die Bergbau AG Lippe (Herne) am 29. Juni 1984 mit: „Wir […] bestätigen Ihnen, dass während der Kriegszeit auf unserer Schachtanlage Kriegsgefangene beschäftigt waren. Trotz intensiver Nachforschungen müssen wir Ihnen jedoch mitteilen, dass wir keinerlei schriftliche Unterlagen über diese Einsätze besitzen.“
Nachtrag: Auch im Ersten Weltkrieg arbeiteten russische Kriegsgefangene auf der Zeche. Etwa ab 1916, wurden immer mehr Bergleute an die Front kommandiert und hinterließen in den Zechen erhebliche Lücken. Rund 75.000 gefangene Soldaten, überwiegend Belgier, Franzosen und Engländer, wurden im Ruhrgebiet eingesetzt. Nur wenige polnische und russische Gefangene waren Untertage im Einsatz. Die Kriegsgefangenen der Zeche lebten in Baracken auf dem Zechengelände am Rande des ehemaligen Holzplatzes. Von dort wurden sie durch Wachposten, die im Regelfall der Landsturm stellte, zur Arbeit geführt und wieder abgeholt und in die Lager verbracht. Sie wurden im Vergleich zu den grausamen Verhältnissen im Zweiten Weltkrieg halbwegs ordentlich behandelt, in Krankheitsfällen gesund gepflegt, wenn es sein musste, auch im Lazarett auf Maria Lindenhof und im Dorstener Krankenhaus.
Siehe auch: Artikel über die Zeche im Krieg in www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de
Guten Tag Herr Stegemann,
den interessanten Artikel habe ich nach längerer Suche heute gefunden und bereits der Tochter des Kriegsgefangenen per E-Mail übermittelt. Der Besuch im Januar war aufschlussreich und hat meinen tatarischen Verwandten viel bedeutet. Für die Bereitschaft, uns im Januar zu treffen und sachkundig zu begleiten, möchten wir uns nochmal herzlich bei Ihnen und Ihrer Begleiterin bedanken. Im Artikel finden sich Informationen zum Lager, die auch uns neu waren.
Nochmals Dank und hochachtungsvoll
Gerd-Rainer Ritter
Guten Tag Herr Stegemann,
ich möchte mich für ihre jahrelange Arbeit über die Dorstener Lokalgeschichte bedanken. Ohne Sie wären mir und der Dorstener Öffentlichkeit viele Sachverhalte, Geschichten und Berichte nicht bekannt.Ich möchte ihnen insbesondere auch für diesen Artikel danken.
Was mir jedoch hier etwas aufstößt: “Besonders der sogenannte Russenfriedhof am Holsterhausener Waldfriedhof, auf dem über 400 Russen und Russinnen bestattet”
Der Zwangsarbeiterfriedhof in Holsterhausen wird von den Dorstener gewöhnlich Russenfriedhof genannt. Für den Volksmund waren alle Bürger der Sowjetunion per se “Russen”. Das unterschlägt natürlich Ukrainer und Weißrussen, die einen übergroßen Anteil der “Ostarbeiter” gestellt haben. Schon alleine auf Grund der durch die Wehrmacht besetzten Teile der Sowjetunion kann zu erwarten sein, dass diese Völker die Mehrheit der “Russen” im Sinne der nationalsozialistischen Volkszählung darstellten.
Meine leidlichen, aber existenten Russischkenntnisse und keine Kenntnis von durch viele Reisen erworbenen Kenntnisse von ostslawischen Nachnamen lassen mich vermuten, dass ethnische Russen auf dem “Russenfriedhof” nicht die Mehrheit darstellen.
-Gibt es hier Aufzeichnungen über die Geburtsorte der Verstorbenen oder der “Nationalität” entsprechend der sowjetischen Papiere?
-Lässen sich weissrussische und ukrainische Opfer sicher ausschließen?
Wir leben in einer Zeit, in der aktiv Geschichtspolitik zur Rechtfertigung von Kriegen genutzt wird.
Wäre es nicht im Sinne der historischen Wahrheit auch den weißrussichen und ukrainischen Opfern eine Identität zu geben oder auf die ethnische Bezeichnung “Russen” zu verzichten, wenn diese nicht der Identität der Opfer entspricht?
Mit besten Grüßen, Dirk Stender, Neu-Isenburg