Von Helmut Frenzel
23. Januar 2020. – Im September dieses Jahres finden in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen statt. Bürgermeister und Stadtrat sind neu zu wählen. Obwohl die Ausübung des Stimmrechts in einer repräsentativen Demokratie für die Bürger die einzige Gelegenheit ist, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen, ist ihr Interesse im Falle der Kommunalwahlen erfahrungsgemäß gering, auch in Dorsten. 2014 lag die Wahlbeteiligung bei 51 Prozent. Tobias Stockhoff, der erstmals für das Amt des Bürgermeisters kandidierte, verfehlte im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit und musste sich einem zweiten Wahlgang stellen, an dem nur noch 35 Prozent der Wahlberechtigten teilnahmen. Von denen stimmten zwar 62 Prozent für Stockhoff. Aber die bittere Wahrheit ist, dass Tobias Stockhoff mit den Stimmen von gerade mal 22 Prozent aller Wahlberechtigten ins Amt gewählt wurde. Das sind lausige Ergebnisse, für den Bürgermeister und für den Rat. Aber während der Rat als Ganzes sich noch auf ein Mandat der Hälfte der Wahlberechtigten berufen kann, muss der Bürgermeister damit leben, von weniger als einem Viertel der Wahlberechtigten legitimiert zu sein.
Wird der Dorstener Stadtrat noch gebraucht oder kann der weg?
Das geringe Interesse an der Wahl des Bürgermeisters ist überraschend. Offenbar haben die Bürger nicht realisiert, dass der Bürgermeister der mächtigste Mann in der Dorstener Politik ist. Demgegenüber ist der Stadtrat in seiner Bedeutung auf eine Nebenrolle zusammengeschrumpft. Er ist zum Vollzugsgehilfen der Verwaltung herabgesunken. In einem parlamentarischen System ist das Parlament die Bühne, auf der das Stück „Demokratie“ aufgeführt wird. Dort wird über die zentralen politischen Themen gestritten, dort fallen die wichtigen Entscheidungen und dort findet die Kontrolle der Verwaltung statt. Das geschieht nicht über den Austausch von Papieren und Schriftsätzen. Parlament hat etwas mit reden zu tun, mit öffentlich reden. So können die Bürger verfolgen, wie die Volksvertreter ihr Mandat ausüben, das ihnen die Bürger gegeben haben.
Demokratie lebt von der Meinungsvielfalt
Zu den Spielregeln der Demokratie gehört auch, dass eine Stimme Mehrheit genügt, um eine Entscheidung durchzusetzen. Daran ist nichts falsch oder anrüchig. Im Gegenteil. Unterschiedliche Meinungen gehören zur Demokratie genauso wie der Streit darüber. Der Bundespräsident nannte kürzlich den Meinungsstreit einen unverzichtbaren Bestandteil einer funktionierenden Demokratie. Die Dorstener Volksvertretung ist, auch wenn sie „Rat“ genannt wird, ein Parlament. Aber findet man im Dorstener Stadtrat hier etwas wieder vom Streit um die beste Entscheidung oder die Kontrolle der Verwaltung? Wann hat man in den letzten Jahren etwas davon gehört, dass Themen kontrovers und mit offenem Visier im Rat diskutiert wurden? Für viele Dorstener ist der Rat eine gesichtslose Versammlung mit profillosen Parteien, mit Ratsmitgliedern, die ihre Aufgabe darin sehen, die ihnen vorgelegten Beschlussvorschläge einstimmig durchzuwinken und für den geräuschlosen Vollzug der Vorhaben von Bürgermeister und Verwaltung zu sorgen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Das ist für alle bequem, niemand kann zur Rechenschaft gezogen werden. Von lebendiger Demokratie keine Spur. Die Mitglieder des Dorstener Stadtparlamentes haben sich in diesem Rollenverständnis längst eingerichtet.
Reform der Gemeindeordnung 1994 führt zur Schwächung des Rates
Sucht man nach den Gründen für diese Entwicklung, landet man schnell bei der Reform der Gemeindeordnung des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahr 1994. Die Gemeindeordnung ist so etwas wie das Grundgesetz der Gemeinden. Die beschlossenen Änderungen bestimmten, dass ab der Kommunalwahl 1999 der Bürgermeister direkt gewählt wird. Zuvor war er vom Rat der Stadt gewählt worden. Die Direktwahl alleine wäre nicht einschneidend gewesen. Die Stellung des Bürgermeisters wäre gestärkt worden, ohne den Gemeinderat zu schwächen. Es sind die weiteren Änderungen in dem Reformpaket, die zu einer dramatischen Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Bürgermeisters führten: Er ist seither kraft Gesetz Mitglied des Stadtrats und dessen Vorsitzender. Damit wurde der in Demokratien geltende Grundsatz der Gewaltenteilung aufgegeben. Die Träger der Gewaltenteilung, wie wir sie kennen, sind Legislative (Parlament), Exekutive (Regierung) und Judikative (Gerichtsbarkeit). Das Parlament wählt die Regierung, kontrolliert sie und verabschiedet die Gesetze, die Regierung führt sie aus. Daneben besteht eine von Parlament und Regierung unabhängige Gerichtsbarkeit. Diese Form der Gewaltenteilung wurde mit der Reform der Gemeindeordnung 1999 in den nordrhein-westfälischen Gemeinden außer Kraft gesetzt. Ein Parlament wählt seinen Vorsitzenden gewöhnlich selbst und aus den eigenen Reihen. Dieses Verfahren gilt übrigens für Gremien jeglicher Art. Indem man den Chef der Stadtverwaltung kraft Gesetz zum Mitglied des Gemeinderates und zu dessen Vorsitzenden machte, wurde ein konstitutives Element der Demokratie geschleift. Es sind keine Beispiele aus anderen demokratischen Ländern bekannt, in denen der Regierungschef dem Parlament vorsitzt.
Machtzuwachs des Bürgermeisters zu Lasten des Gemeinderats
Das alles ist natürlich nicht neu. Die Rechtsgelehrten begründen die Legitimität dieses eigenwilligen kommunalen Demokratiemodells so: Die Kommunen gehören nicht zu den „staatlichen“ Ebenen, die eine Gesetzgebungskompetenz haben. Das sind nur Bund und Länder. Die Kommunen haben diese Kompetenz nicht. Dem Gemeinderat werden auf der einen Seite wichtige Zuständigkeiten zugeschrieben: die politische Vertretung der Bürger entsprechend dem Demokratiegebot des Grundgesetzes nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie; ferner die Grundsatz- und Entscheidungskompetenz in allen wichtigen Angelegenheiten sowie die Kontrollkompetenz. Auf der anderen Seite gilt der Gemeinderat als „Verwaltungsorgan“. Weil der Schwerpunkt seiner Tätigkeit nicht in der Normsetzung sondern auf dem Gebiet von Verwaltungsentscheidungen liege, wird er nicht der Legislative sondern der Exekutive, das heißt der Verwaltung, zugerechnet. Das alles klingt nachvollziehbar, rechtfertigt aber nicht die Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung. Wie dem auch sei, in der aktuell gültigen Gemeindeordnung von 2007 wird die Stellung des Bürgermeisters so beschrieben:
„Die Bürgerschaft wird durch den Rat und den Bürgermeister vertreten. Der Rat besteht aus den gewählten Ratsmitgliedern und dem Bürgermeister (Mitglied kraft Gesetzes). Die Vertretung und Repräsentation des Rates obliegt dem Bürgermeister […]. Den Vorsitz im Rat führt der Bürgermeister. […] Der Bürgermeister hat im Rat Stimmrecht.“
Darüber hinaus ist der Bürgermeister kraft Gesetz Vorsitzender des Hauptausschusses (in Dorsten: des Haupt- und Finanzausschusses, dem wichtigsten Ausschuss des Rates) mit Stimmrecht. Mehr Macht für den Bürgermeister ist kaum möglich.
Wie Bürgermeister Tobias Stockhoff seine Machtstellung nutzt
Der Machtzuwachs des Bürgermeisters hatte selbstverständlich einen Preis: die Schwächung des Rates. Dazu hat die Reform der Gemeindeordnung die entscheidende Grundlage gelegt. Die Entkernung und Minimalisierung des Dorstener Rates ist aber alleine damit nicht zu erklären. Die Routinen in der Ratsarbeit, an deren Entstehung sowohl der Bürgermeister als auch die Ratsmitglieder beteiligt sind, haben gleichermaßen dazu beigetragen. Die Gemeindeordnung gewährt einen Gestaltungsspielraum. Wie dieser in der praktischen Ratsarbeit genutzt wird, hängt von den handelnden Personen ab. Wie also geht der Dorstener Bürgermeister Tobias Stockhoff mit der ihm zugewiesenen Rolle um?
In der Sitzung des Stadtrates hat er zwei Hüte auf. Als Vorsitzender des Rates leitet er die Sitzung. Er eröffnet sie, ruft die Punkte der Tagesordnung auf, erteilt den Ratsmitgliedern das Wort, lässt abstimmen und so weiter. Aber er ist auch Chef der Verwaltung und daran interessiert, die Beschlussvorlagen der Verwaltung, die von ihm unterzeichnet sind, möglichst unverändert durch den Rat zu bringen. Die Geschäftsordnung des Rats enthält dazu eine bemerkenswerte Regelung für den Fall, dass ein Stellvertreter die Leitung der Ratssitzung übernimmt: Wenn dieser sich zur Sache äußert, soll er den Vorsitz vorübergehend abgeben. Diese Regelung entspricht dem in der Geschäftsordnung verankerten Gebot, dass der Vorsitzende die Ratssitzung sachlich und unparteiisch zu leiten hat. Doch der Bürgermeister ist von dieser Regelung ausgenommen. Er hat ein jederzeitiges und unbegrenztes Rederecht.
In der Praxis sieht das dann so aus: Der Bürgermeister als Ratsvorsitzender erteilt zu einem Punkt der Tagesordnung einem Ratsmitglied das Wort. Auf den Redebeitrag antwortet, ebenfalls zur Sache: der Bürgermeister, jetzt als Chef der Verwaltung. Dieser Ablauf ist in Dorsten nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wie es unter diesen Bedingungen gelingen soll, eine Ratssitzung unparteiisch zu leiten, wie es die Geschäftsordnung verlangt, ist ein Rätsel. Der Bürgermeister wechselt mühelos zwischen seinen Rollen als Vorsitzender des Rates und Chef der Verwaltung hin und her. Im Ergebnis bedeutet das, während einer Ratssitzung redet hauptsächlich einer: der Bürgermeister. Er dominiert den Rat.
Die kommunale Demokratie wiederbeleben – die Bürgervertretung stärken
Dass das von den Vätern der Reform der Gemeindeordnung so gedacht war, ist wenig wahrscheinlich. Die Gemeindeordnung sieht vor, dass die Beigeordneten an Ratssitzungen teilnehmen müssen und also für Erläuterungen „zur Sache“ zur Verfügung stehen. Die Geschäftsordnung des Rates bestimmt zudem, dass der Bürgermeister die Beigeordneten, aber auch andere Mitarbeiter der Verwaltung, mit der Erläuterung von Sachverhalten beauftragen kann. Die Verhandlungen im Rat müssen demnach keineswegs so verlaufen, wie derzeit der Fall. Die Beigeordneten oder andere Mitarbeiter der Verwaltung (zum Beispiel der Kämmerer, der nicht Beigeordneter ist) mit den Erläuterungen zur Sache zu beauftragen, würde zweifellos zu einer anderen und offeneren Diskussionskultur im Rat führen.
Eine Besonderheit, welche die Machtverhältnisse deutlich macht, besteht darin, dass am „Vorstandstisch“ nicht nur der Bürgermeister als der Vorsitzende sitzt, sondern dort zumeist der gesamte Verwaltungsvorstand, bestehend aus den Beigeordneten, dem Kämmerer und weiteren Personen, Platz nimmt. Das erweckt den Eindruck, als wäre der Verwaltungsvorstand das Präsidium des Rates. Damit wird die Vermengung der Rollen, die schon in der Person des Bürgermeisters angelegt ist, sichtbar auf die Spitze getrieben. Hier sollte eine andere Lösung gefunden werden. Manch einer mag das für Symbolhuberei halten. Aber Symbole sind wichtig und wirken.
Die Regeln der Geschäftsordnung befolgen
Die Geschäftsordnung des Rates bestimmt: Jede Beratung soll mit der Darstellung des Sachverhalts durch den Bürgermeister beginnen. Er hat den Sachverhalt zu erläutern. Auch das muss er nicht selbst tun, er kann wiederum die Beigeordneten und andere Mitarbeiter der Verwaltung damit beauftragen. Dazu gehört auch, wenn der Punkt in einem Ausschuss vorbehandelt wurde, dass über den Stand im Ausschuss berichtet wird. Die Vorgabe der Geschäftsordnung missachtet Bürgermeister Tobias Stockhoff nach Belieben, wie übrigens schon sein Vorgänger Lambert Lütkenhorst. Das betrifft insbesondere Sachverhalte, die für den Bürgermeister nicht günstig sind und von denen die Bürger möglichst nichts erfahren sollen. Das geht dann so: Der Bürgermeister ruft einen Punkt der Tagesordnung auf mit einem zumeist unverfänglichen Titel. Es folgt die Frage: möchte jemand dazu Stellung nehmen. Er blickt sich um: das ist nicht der Fall. Dann stimmen wir ab: wer ist gegen den Beschlussvorschlag, wer enthält sich der Stimme? Einstimmig angenommen. Nach diesem Muster sind Beschlüsse von größter Tragweite gefasst worden, ohne dass das Thema im Rat überhaupt beim Namen genannt wurde. Ein Beispiel ist die Zurkenntnisnahme der Jahresabschlüsse 2009 und 2010 durch den Rat, die mit großer Verspätung im Juli 2014 erfolgte. Die Jahresverluste von 14,8 Millionen Euro (2009) und 39,9 Millionen Euro (2010) wurden mit keinem Wort erwähnt, die Jahresabschlüsse gleichwohl ohne Aussprache einstimmig angenommen. Genauso lief es bei der nachträglichen Genehmigung der Millionenverluste aus den Währungs- und Spekulationsgeschäften mit Schweizer Franken, so lief es zuletzt mit den Millionenüberschüssen im Haushalt seit 2016. Es gibt weitere Beispiele.
Bürgermeister Tobias Stockhoff wendet gerne ein, dass doch alles im Rats- und Bürgerinformationssystem online gestellt ist und dort doch jeder alles nachlesen könne. Das ist zynisch. Niemand kann von einem Ratsmitglied erwarten, dass er die Menge an Beschlussvorlagen liest, die zu einer Ratssitzung oft vorgelegt werden. Das sind nicht selten mehrere hundert Seiten. Stattdessen gibt es eben die Verpflichtung des Bürgermeisters, den Sachverhalt im Rat vorzustellen. Das ist auch aus einem anderen Grund unverzichtbar. Die Ratssitzung ist das Schaufenster zur Öffentlichkeit. Die Bürger kann man nicht darauf festnageln, dass sie die Vorlagen im Internet lesen sollen – abgesehen davon, dass sie in diesem Dokumentenfriedhof ohne fremde Hilfe nicht finden werden, was sie suchen, – wenn sie denn überhaupt wissen, was sie suchen sollen. Wenn sie etwas erfahren, dann durch die Behandlung in der öffentlichen Sitzung des Rates und die Berichterstattung in der Lokalzeitung. Mit seinem Verhalten verstößt der Bürgermeister nicht nur massiv gegen die Bestimmungen der Geschäftsordnung, er steuert damit auch, was die Öffentlichkeit erfährt und was nicht. Damit muss Schluss sein.
Wichtiges und Unwichtiges nebeneinander auf der Tagesordnung
Ein weiteres Ärgernis ist die Tagesordnung der Ratssitzungen. Die Tagesordnung setzt, es wird niemanden mehr überraschen, der Bürgermeister fest und damit die Reihenfolge, in der die Themen behandelt werden. Nach welchen Kriterien die Reihenfolge gewählt wird, erschließt sich einem Außenstehenden nicht. Wichtige Themen wechseln sich mit Themen ab, die tatsächlich dem Verwaltungshandeln zuzurechnen sind und weniger wichtig erscheinen. Auffallend ist allerdings, dass wirklich wichtige Themen, von denen der Bürger erwarten würde, dass sie im Rat diskutiert werden, häufig auf den hinteren Plätzen der Tagesordnung erscheinen. Legendär ist die schon erwähnte Zurkenntnisnahme der Jahresabschlüsse 2009 und 2010 im Juli 2014. Es war die konstituierende Sitzung des neugewählten Rates. Der Punkt „Jahresabschlüsse 2009 und 2010“ stand als Nummer 40 auf der Tagesordnung. Aus dem Beschlussprotokoll geht nicht hervor, ob die Jahresergebnisse besprochen wurden. Dagegen ist im Protokoll festgehalten, dass der Rat bei einer Enthaltung den einstimmigen Beschluss fasst und die Jahresabschlüsse 2009 und 2010 zur Kenntnis nimmt – ohne die Jahresverluste, besonders den von 2010 mit fast 40 Millionen Euro, auch nur zu erwähnen.
Muss man über einen Jahresverlust von 40 Millionen Euro in einem einzelnen Jahr im Rat reden? Ja, das muss man, schon alleine weil die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf hat, davon zu erfahren. Vielleicht darf man daran erinnern, dass der Jahresabschluss und das Ergebnis einer Aktiengesellschaft auf der Jahreshauptversammlung der Aktionäre behandelt und verabschiedet werden. Vor allem dafür wird sie einberufen. Und in einer Gemeinde? Da ist ein so dramatisch schlechtes Ergebnis wie in 2010 nicht einer Erwähnung wert. Dieses Vorgehen ist nicht akzeptabel, weil so die öffentliche Meinung durch Vorenthaltung von wichtigen Informationen manipuliert wird. Der Fall von 2014 ist kein Einzelfall. Nach diesem Muster sind alle Jahresabschlüsse abgehandelt worden, auch die Nachgenehmigungen der Millionenverluste bei den Währungs- und Spekulationsgeschäften der Stadt und jüngst auch die Jahresabschlüsse mit den Millionenüberschüssen. Ist das die Demokratie, welche die Bürger verteidigen sollen? Welchen Inhalt soll denn die von Bürgermeister Tobias Stockhoff gewünschte Erklärung Dorstener Bürger zu Demokratie und Respekt haben? Macht weiter so? Das Gegenteil muss her. Mit diesen undemokratischen Verhaltensweisen muss Schluss sein.
Es wäre übrigens durchaus lohnend, einmal darüber nachzudenken, ob die Verwaltung ihre Währungs- und Spekulationsgeschäfte hätte weiterführen können, wenn die Verluste von Anfang an in der Öffentlichkeit kommuniziert worden wären.
Wer zieht im Hintergrund die Fäden?
Wo bleiben eigentlich die Ratsmitglieder? Wieso stellen sie keine Fragen bei Sachthemen? Wieso fordert nicht ein Ratsmitglied den Kämmerer auf, bei der Behandlung eines Jahresabschlusses das Jahresergebnis zu nennen und dazu die wichtigsten Einflussgrößen, die zu dem Ergebnis geführt haben? Das aus dem einzigen Grund, weil ein Ratsmitglied ein Volksvertreter ist und annehmen könnte, dass seine Wähler einen Anspruch darauf haben, davon zu erfahren? Wie ist es möglich, dass die Beschlussvorlagen zu solchen wichtigen Themen und weniger wichtigen in der Mehrzahl einstimmig abgesegnet werden – ohne dass der Bürgermeister seiner Verpflichtung nachgekommen ist, den Gegenstand zu erläutern, ohne dass dazu eine Aussprache stattgefunden hat, ohne dass ein Ratsmitglied eine Frage gestellt oder einen Redebeitrag geliefert hat. Und auf Kommando stimmen alle Ratsmitglieder für den Antrag? Auf der Suche nach Erklärungen kommt man auf die Sitzung der Fraktionsvorsitzenden, die in unregelmäßigen Abständen und nichtöffentlich tagen, zumeist im Vorfeld der Ratssitzungen. Der Bürgermeister wird in den Ankündigungen nicht genannt, aber man wird davon ausgehen dürfen, dass er daran teilnimmt. Was wird dort besprochen? Wird besprochen, wie die Ratsfraktionen sich bei den Abstimmungen verhalten? Und die Fraktionsvorsitzenden geben anschließend den Mitgliedern ihrer Fraktion im Rat den entsprechenden „Hinweis“, wie sie abzustimmen haben?
Entscheidet eine Handvoll Leute über die Geschicke Dorstens?
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ja, es kann sinnvoll sein, Absprachen zu treffen, wenn sie der Sitzungsökonomie dienen. Aber sie dürfen nicht darauf abzielen, die politische Auseinandersetzung im Rat zu bestimmten Themen zu unterbinden. Wenn in der Sitzung der Fraktionsvorsitzenden Absprachen getroffen werden, dann müssen sie offen gelegt werden. Alles andere füttert den Zweifel, dass eine Handvoll Leute über die Politik in Dorsten entscheiden. Es würde bedeuten, dass die einfachen Mitglieder im Rat nur Vollzugsgehilfen einiger weniger Drahtzieher sind. Politische Themen, die in den Rat gehören, gibt es genug. Die mittel- bis langfristige Ausrichtung des Haushalts auf die schrumpfende Einwohnerzahl, die Grundsteuer, die Auswirkungen der Digitalisierung der Verwaltung, Rathausneubau oder weiter Anmietung der Büroflächen, die Wohnungsbaupolitik und so weiter.
Seit Jahren bei Abstimmungen gegen die Geschäftsordnung verstoßen
Wenn von der Minimalisierung der politischen Rolle des Rates die Rede ist, darf ein Thema nicht unerwähnt bleiben. Seit Jahren wird in Artikeln auf dieser Seite das Abstimmungsverfahren im Rat kritisiert – in Unkenntnis, dass es dazu eine eindeutige Vorschrift in der Geschäftsordnung des Rates gibt. Dort steht nämlich, wie eine Abstimmung abzulaufen hat: Der Bürgermeister hat „festzustellen, wer mit „Ja“ oder „Dafür“ stimmen möchte” und „Die Abstimmung erfolgt im Regelfall durch Handzeichen“. Dieses Verfahren ist üblich und in Parlamenten die Regel. Im Dorstener Rat wurde dagegen seit Jahren verstoßen. Abstimmungen liefen so ab: Der Bürgermeister fragt: Ist jemand dagegen? Enthält sich jemand der Stimme? Das ist nicht Fall, dann ist der Beschluss einstimmig angenommen. Wir wiederholen es hier: nach diesem Verfahren wurden seit Jahren alle Beschlüsse und auch die von größter Tragweite einstimmig gefasst, ohne dass ein einziges Ratsmitglied aktiv seine Zustimmung gezeigt hätte. Alle saßen nur stumm da. Das genügte. Wie tief kann die Selbstachtung eines Rates eigentlich sinken? Und warum hat kein einziges Mitglied der Dorstener Volksvertretung je gefordert, dass der Bürgermeister die Vorgaben der Geschäftsordnung beachtet? Das nicht regelkonforme Abstimmungsverfahren hat Bürgermeister Stockhoff übrigens von seinem Vorgänger Lambert Lütkenhorst übernommen.
Aber es geschehen auch noch Wunder. In der letzten Sitzung des Rates im Dezember wurde bei allen Beschlüssen erstmals seit Jahren das in der Geschäftsordnung vorgegebene Verfahren angewandt. Eine Erklärung vom Bürgermeister gab es dazu nicht. Und übrigens wurden sie auch wieder alle einstimmig gefasst.
Die demokratischen Prinzipien ernst nehmen
Das repräsentative System in Dorsten ist beschädigt. Der Vertrauensverlust in der Bevölkerung ist unübersehbar. Bürgermeister Tobias Stockhoff, der eine zweite Amtszeit anstrebt, sieht das und weiß, dass ihm das gefährlich werden kann. Seine Aktivitäten zur Stärkung der Bürgerbeteiligung sind der Versuch, dieser Entwicklung gegenzusteuern. Das Grundproblem löst er damit nicht. Unser System der repräsentativen Demokratie wird gestärkt und Vertrauen zurückgewonnen, indem die demokratischen Prinzipien ernst genommen werden – von den Politikern. In diesem Sinne muss der politische Prozess in Dorsten reformiert werden. Es trifft sich gut, dass im September Kommunalwahlen sind.