Von Wolf Stegemann
27. Dezember 2019. – Es gibt eine über 200 Seiten starke Chronik des einstigen Pfarrers an St. Agatha, Ludwig Heming, der von 1913 bis 1940 im Amt war. Im Mai 2020 jährt sich sein 80. Todestag. In diese Chronik, die 1913 anfing und nach seinem Tod einige Jahre weitergeführt wurde, trug Heming nicht nur Fakten der Geschehnisse ein, sondern schildert die Ereignisse fast minutiös. So entstand eine „Stadtchronik“ dieser Jahre aus der Sicht eines sehr katholisch-klerikalen und deutschnationalen Mannes. Er veröffentlichte darin auch den Text seiner heute sehr aufschlussreichen Neujahrspredigt des Jahres 1933 auf 1934, in der er Stellung genommen hatte zu den politischen Ereignissen nach der demokratischen Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler und dem dann folgenden Reichskonkordat des NS-Staats mit der Kirche. Ludwig Heming gehörte zu den damals noch vorherrschenden katholischen Geistlichen, die ihre katholische Moral- und Glaubensanschauung für alle bindend in die Politik hineinzutragen versuchten, als hätte es den preußischen Kulturkampf nicht gegeben. Den damals in Dorsten noch nicht so zahlreichen Protestanten stand er ablehnend, manchmal sogar feindlich gegenüber. Beispielweise kritisierte er heftig und öffentlich von der Kanzel Dorstener katholische Geschäftsleute, die ihre Schaufenster mit einem Lutherbild schmückten, als die evangelische Gemeinde den 450. Geburtstag Martin Luthers mit einem Umzug zum Marktplatz feierte, und das direkt vor seiner Agathakirche. Über die Verfolgung der Dorstener Juden in nationalsozialistischer Zeit, von der Zerstörung der Synagoge in der Wiesenstraße und dem Verbrennen der Synagogengegenstände 1939 auf dem Marktplatz vor seiner Agathakirche steht in seiner Chronik kein Wort.
Die Neujahrspredigt von Pfarrer Heming 1934, gehalten in St. Agatha:
Im alten Jahre 1933 ist in unserem deutschen Vaterland vielerlei geschehen. Gewaltige Ereignisse haben sich zugetragen. Vor zwölf Monaten hätte sich das kein Prophet träumen lassen. Wenn damals jemand vorausgesagt hätte, dass es am 1. Januar 1934 keine kommunistische Partei mehr geben würde, dass alle Freidenker-Organisationen verschwunden und alle Gottlosenverbände aufgelöst sein würden – wir hätten ihn ausgelacht. Und doch ist es Wahrheit!
Im Jahre 1933 ist eine Revolution gewesen, ein Umbruch hat in unserm deutschen Vaterlande stattgefunden wie nie zuvor. Alle großen Volksbewegungen, liebe Pfarrkinder, alle Revolutionen und Umwälzungen sind nichts anderes als Werkzeuge Gottes. Durch diesen Umbruch sind nach Gottes Willen und weiser Vorsehung starke Aufbaukräfte in unserm Volk lebendig geworden, Kräfte, die eine Wiedergeburt des deutschen Volkes erstreben. Wäre es nicht ein Jammer, wenn wir Katholiken mit verschränkten Armen am Wege stehen und nur zuschauen wollten? Nein! Zugreifen! Mitarbeiten! Aufbauen helfen! Das war unsere Parole im alten Jahre, so muss es auch im neuen sein.
Aufrechten Hauptes und festen Schrittes sind wir Katholiken in das neue Reich eingetreten. Wir sind bereit, ihm zu dienen, zu dienen mit dem Einsatz aller Kräfte unseres Leibes und unserer Seele. Wir tun es, weil unser Gewissen es uns gebietet und unsere Liebe zum deutschen Vaterlande.
Die Stellung des deutschen Katholizismus ist im neuen Reiche durch ein Reichskonkordat geregelt worden. Mit überraschender Schnelligkeit wurde es schon am 20. Juli unterzeichnet und am 10. September ratifiziert. Großzügig ordnet dieses Konkordat alle Reibungsfragen zwischen Kirche und Staat und sichert feierlich Rechte, um die wir Katholiken früher an politischer Front kämpfen mussten. Alles was im Konkordate uns Katholiken zugesichert wurde, wird und muss gehalten werden. Deutschlands Regierung und Führer haben ihr Wort gegeben und sie werden es halten. Des sind wir sicher! Auch nur einen Zweifel daran zu hegen, würde eine Beschimpfung des Führers und seiner Bewegung sein.
Was ist nun unsere Aufgabe in diesem neuen Jahre? Wir Katholiken müssen heraus aus der Defensive. Wir wollen nicht mehr, wie bisher, unsere Stellungen verteidigen. Das ist jetzt nach dem Konkordate nicht mehr notwendig; wir müssen vielmehr jetzt zur Offensive übergehen. Mit anderen Worten, wir müssen zeigen, dass wir überzeugungstreue Katholiken sind.
[…] Seht, das ist die katholische Offensive! Treu sein im Glauben – treu in der Ausübung der hl. katholischen Religion – treu in der Erfüllung der wichtigen Standespflichten! Nun wollen wir am Anfang des neuen Reiches unseren Treueschwur ablegen durch das Kirchenlied »Fest soll mein Taufbund immer stehn!« Singt es mit Begeisterung und in dem Geiste, wie ich es neulich gelesen habe von einem treuen Katholiken, der dem toten Bischof Schreiber von Berlin über das frische Grab hinaus in die Ewigkeit hinauf rief: ,Bischof, wir bleiben katholisch bis in den Tod! Amen!’“
Ludwig Heming – ein durch und durch politisch-katholisch gesinnter Pfarrer
Ludwig Hemings Amtszeit als Pfarrer an St. Agatha von 1913 bis 1940 war geprägt von den wirren Zeiten während des Ersten Weltkriegs und den politischen Unruhen danach, sowie vom Dritten Reich. Heming widersprach nicht nur seinem Bischof, auch der weltlichen Obrigkeit, den Machthabern, woher sie auch immer ihre Macht bezogen hatten. Er blieb unerschütterlich gegenüber den Spartakisten 1919, den Rotarmisten 1920 und den Offizieren der belgischen Besatzungsmacht 1925, die er mit seinen Mitteln bekämpfte. Auch bekämpfte er das, was er als „schamlos“ hielt. 1925 appellierte er erstmals an Frauen und Mädchen seiner Gemeinde, die an der Fronleichnamsprozession teilnahmen, „in geziemender, ehrbarer Kleidung mitzumachen“. Denn Heming stellte fest, dass seit einigen Jahren Moden aufgekommen waren, die „wirklich unehrbar waren: Kurze Kleider, tief ausgeschnittene Blusen, ärmellos etc.“ Trotz des Appells musste er bei Prozessionen einige Mädchen wegen ihrer von ihm angesehenen „schamlosen Kleidung scharf rügen“.
Vom Nationasozialismus später enttäuscht
Als die Nationalsozialisten kamen, glaubte Heming nach Abschluss des Konkordats an die Erneuerung des Reiches. Daher auch seine begeisterte Neujahrspredigt 1933/34. Doch bald merkte er, dass die neuen Herren nicht das hielten, was sie versprochen hatten. Schon an Karfreitag 1934 wurde ihm vertraulich mitgeteilt, dass die Ortsgruppe der NSDAP bei der Staatsanwaltschaft Essen eine Anzeige gegen ihn erstattet hatte. In ihr wurde Heming beschuldigt, das Dritte Reich öffentlich herabgesetzt zu haben. Dazu der Beschuldigte: „Ich habe ein reines Gewissen und wüsste auch nicht, dass ich in dieser Hinsicht mich verfehlt hätte.“ Später wurde die Anzeige zurückgenommen. Noch 1937 ließ Heming einen von der Gestapo beschlagnahmten Sportplatz, der dem Katholischen Jungmänner-Verein gehörte, heimlich umgraben, um ihn für die Hitlerjugend unbenutzbar zu machen. In den folgenden Jahren erkrankte Heming und wurde immer stiller, seine Eintragungen in die Chronik kürzer und inhaltsloser.
Zum Tod von Pfarrer Ludwig Heming 1940
„Als am frühen Morgen des 27. Mai (1940) die dumpfen Klänge der Totenglocke über die Dächer der Stadt hallten, horchten die Dorstener erschreckt auf. Was war passiert? Bald eilte die Trauerkunde durch alle Straßen und Gassen: Unser geliebter Pastor ist gestorben! Fast wollten es die Leute nicht glauben. Hatten sie doch am Tage vorher ihren Seelenhirten noch auf der Kanzel und in ihrer Mitte gesehen, scheinbar ganz wohlauf und gesund. Und doch war es so. Still und unbemerkt von allen war er am frühen Morgen in die Ewigkeit gegangen.
Als sich zur gewohnten Stunde – Pfarrer Heming stand immer früh auf in seinem Schlafzimmer nichts regte, wurde seine Haushälterin unruhig. Sie klopfte mehrmals, aber es kam keine Antwort. Voller Angst weckte sie den ganz in der Nähe schlafenden Kaplan Kompa. Dieser brach die Tür auf. und nun fanden beide den Pastor tot im Bett. Ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ende gemacht. Da der bald herbeigerufene Hausarzt Dr. Fröhlig feststellte, dass der Tod vor nicht ganz langer Zeit erfolgt sein musste, spendete ihm der Kaplan noch die hl. Ölung. Ein tragisches und auch wieder leichtes Sterben! Tragisch, weil der gute Pastor, der an so vielen Sterbebetten gestanden und so manchem das Sterben leichter gemacht hatte, selbst ganz einsam und allein die große Reise in die Ewigkeit antreten musste. So war sein Tod noch eine letzte erschütternde Predigt an seine Pfarrkinder: Seid bereit, ihr wisst weder den Tag noch die Stunde! Aber wir dürfen auch annehmen, dass der Herrgott seinem treuen Diener das Sterben, vor dem er, eingedenk seiner großen Verantwortung, immer gebangt hatte, leicht machen wollte. Darum nahm er ihn schnell und ohne Todeskampf hinweg.“
„…in der alten Lippestadt Dorsten Spuren hinterlassen!“
Soweit die Eintragungen in der Chronik von St. Agatha, die Hemings Kaplan Schneider vornahm, den der Bischof bis zum Dienstantritt Pfarrer Westhoffs zum Pfarrverwalter ernannt hatte. Ludwig Heming wurde am Donnerstag, dem 30. Mai 1940, beerdigt. Die Gedächtnispredigt hielt der Definitor, Pfarrer Eing aus Holsterhausen, der den Trauernden das Geistliche Testament des Verstorbenen vorlas. An diesem Tage, so steht in der Chronik, hatten die Schulkinder einige Stunden frei, um an der Beerdigung des Pfarrers teilnehmen zu können. Kaplan Schneider widmete in der Agatha-Chronik seinem verstorbenen Pfarrer einen Nachruf:
„So hat Pfarrer Heming auf fast allen Gebieten des kirchlichen Lebens in der alten Lippestadt Dorsten Spuren hinterlassen, die auch der Sturm der Zeiten so bald nicht verwehen wird. Trotz mancher körperlicher Leiden und Beschwerden verstand er es, sich bis zu seinem letzten Jahre eine bemerkenswerte Frische zu erhalten, die ihn auch für neue Wege in der Seelsorge aufgeschlossen sein ließ. Im Bewusstsein seiner Pfarrkinder wird er fortleben als wahrer pastor bonus, als ein eifriger, um das Heil der ihm Anvertrauten stets treu besorgter Seelenhirte. Sein lebhaftes Temperament, seine impulsive Art gestaltete die Zusammenarbeit zwischen ihm und seinen Mitarbeitern bisweilen etwas schwierig. Hinter seinen glühenden Eifer, mit dem er an alle Probleme der Seelsorge heranging, trat manchmal die pastorale Klugheit, mit der er mehr erreicht hätte, zurück. Er war mehr für das ,fortiter in re’ als das ,suaviter in modo’, das ihm oft abging. Aber wenn er einsah, dass er übers Ziel hinausgeschossen war und ungewollt einem wehe getan hatte, dann besaß er auch die Demut, sein Verhalten sofort zu revidieren, so dass ihm niemand böse sein konnte. Diese menschlichen Schwächen, unter denen er selbst litt, trüben nicht, sondern vollenden nur das Bild dieser wahrhaft lauteren Priesterpersönlichkeit. Vivat inter Sanctos!“
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