Von Wolf Stegemann
29. August 2019. – Am 1. September jährt sich zum 80. Mal der Überfall Deutschlands auf Polen, was zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte, in dem nach vorsichtigen Schätzungen rund 60 Millionen Menschen vernichtet wurden. Während beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den Gaststätten und auf dem Marktplatz gejubelt wurde, nahmen die Dorstener den Beginn des Zweiten Weltkriegs in gedrückter Stimmung hin. Pfarrer Ludwig Heming schrieb in die Chronik St. Agatha:
„Die letzten Augusttage waren voll unerhörter politischer Spannung, immer dichteres Gewölk zog sich am politischen Horizont zusammen, bis am 1. Sept. früh morgens der Krieg mit Polen begann. Bald folgte die Kriegserklärung Englands und Frankreichs – der 2. Weltkrieg hatte seinen Anfang genommen. Während 1914 bei Kriegsausbruch die Kirchen gefüllt und Beichtstühle und Kommunionbänke umlagert waren, war jetzt derartiges nicht zu bemerken. Wohl fanden sich manche, die zu den Waffen gerufen wurden, ein, um ihre Rechnung mit dem Herrgott in Ordnung zu machen, im Ganzen aber hatte das große politische Geschehen ein schwaches religiöses Echo“.
Die Fenster mussten verdunkelt werden
Schon im März 1939 war Dorsten Militärstandort geworden. 1940 quartierte sich der Stab des Flakregiments 46 im Franziskanerkloster ein und die Scheinwerferbatterie 450 in der Holsterhausener Baldurschule. Noch vor Kriegsausbruch führten die Behörden das Bezugsscheinsystem und die Rationierung von Lebensmitteln ein. Bei Ausbruch des Krieges ordneten sie die Verdunkelung der Wohnungen und Straßen an und verpflichteten die Bevölkerung bei Alarm Luftschutzbunker aufzusuchen und verboten das Hören ausländischer Sender. Dorstener Handwerks- und Industriebetriebe stellten ihre Produktionen auf Kriegswirtschaft um, in Gaststätten, auf Kegelbahnen, in Baracken und in eigens eingerichteten Lagern wurden bis zu 58.000 Kriegsgefangene und rund 8.000 Fremdarbeiter untergebracht, die in den kriegswichtigen Betrieben und vornehmlich in der Landwirtschaft arbeiteten. In der Heeresmunitionsanstalt Wulfen wurden Granaten produziert. In den ehemaligen Krankenanstalten Maria Lindenhof richtete die Wehrmacht 1940 ein Reservelazarett ein, später auch im Kloster der Ursulinen und an anderen Plätzen. Waren anfangs noch in der „Dorstener Volkszeitung“ die Todesanzeigen gefallener Dorstener veröffentlicht, wurde dies später aus Gründen der Stützung der Kriegsmoral verboten.
Auch rund um Dorsten verteidigten Flakbatterien das Ruhrgebiet
Um Luftangriffe auf die Hydrieranlage in Scholven, das Kruppwerk in Essen sowie das Munitionsdepot in Wulfen (Muna) und die Zeche in Hervest-Dorsten abzuwehren, wurde neben kleineren Flakstellungen ein Ring schwerer Flakbatterien rund um Dorsten in Stellung gebracht: in Ekel ebenso wie im Gleisdreieck Deuten-Wulfen, südlich des Munitionsdepots mit insgesamt 24 Großgeschützen. Eine andere Batterie stand in der Gälkenheide in Wulfen und in Ulfkotte eine Batterie mit vier schweren Geschützen und zwei Tieffliegerkanonen. Auf dem Dach des Franziskanerklosters war ein leichter Flakturm aufgebaut und auf dem Dach des Kolpinghauses am Südwall ein Beobachtungsposten mit Leitfunk, ebenso auf der Lippebrücke. Größere Bombenangriffe erfolgten am 9. und 12. März 1945. Am 22. März zerstörte ein großer Angriff die gesamte Innenstadt. Allein auf dem verhältnismäßig kleinen Grundstück des Franziskanerklosters gingen 146 Bomben nieder, in der gesamten Innenstadt 3.300, in den Feldmarken 600, in Hervest auf dem Zechengelände und am Bahnhof 1.200 und in Holsterhausen 800. Die Bomben hinterließen über 319 Tote und 110.000 cbm Schutt.
Drei Tage nach der Totalbombardierung der Innenstadt wurden am 25. März 1945 zwei im früheren RAD-Lager in Wulfen festgehaltene und bereits Wochen vorher abgeschossene kanadische und ein britischer Flieger gelyncht. Es handelte sich bei den Piloten um J. M. Jones, R. A. Paul und L. W. Brennan. Der dieser Mordtaten verdächtige SA-Lagerkommandant Assmann entkam zuerst nach Bückeburg und wurde nach Beendigung des Krieges von den Alliierten gesucht. Er soll im Gefängnis der Engländer Suizid begangen haben.
Der Krieg in Dorsten wurde Ostern 1945 beendet
Für Dorstener war der Krieg mit dem Einmarsch von Verbänden der 8. US-Panzerdivision, die in Dorsten auf Gegenwehr von Resten der 116. Panzerdivision, der 180. und 190. Infanteriedivision stießen, am Gründonnerstag, den 29. März 1945 beendet, was im offiziellen Wehrmachtbericht in Berlin mit dem lapidaren Satz erwähnt wurde: „Beim Vorstoß nach Osten ging Dorsten verloren.“ Das Foto zeigt amerikanische Soldaten beim Durchmarsch vom Rhein kommend in Holsterhausen . Über den Einmarsch der Amerikaner ins Dorf Hervest gibt die Chronik der Paulus-Schule authentisch Auskunft:
„Am Mittag des 28. März (1945) rückten amerikanische Panzertruppen von Norden her in unser Dorf ein. Am nördlichen Dorfeingang kam es zu einem kurzen Gefecht mit deutschen Grenadieren. Letztere mussten aber dem [mit] Material vielfach überlegenen Gegner das Feld räumen. Vor der Schule schoss ein deutscher Grenadier mit einer Panzerfaust einen feindlichen Panzer an, aber der feindliche Angriff war nicht aufzuhalten. Die Amerikaner verloren hier drei Tote und mehrere Verwundete. Die Schule erhielt bei dem kurzen Feuergefecht einige Treffer durch feindliche Maschinengewehrkugeln. Nur einige Dachziegel wurden zerschlagen, sonst entstand kein Schaden. Die Amerikaner erkannten die Schule als Krankenhaus an, sie änderten an der ganzen Einrichtung nichts. Amerikanische Ärzte kamen fast täglich und sahen nach den Kranken und Verletzten. Bis auch deutsche Ärzte von Hervest-Dorsten und Dorsten die Straße wieder ungehindert passieren konnten.“
Tote gab es in fast jeder Dorstener Familie
Der Zweite Weltkrieg kostete über 2.000 Dorstener Soldaten (heutiges Stadtgebiet einschließlich Erle und Altschermbeck) das Leben oder sie galten als vermisst. Während des Krieges wurden die Dorstener Juden in die Todeslager deportiert. Aus dem eigentlichen Dorsten (heutige Altstadt) fielen 355 als Soldaten, 194 gelten als vermisst und 319 Dorstener fielen den Bomben zum Opfer. Im Amtsbezirk Hervest-Dorsten waren bei Kriegsende 840 Wehrmachtsangehörige vermisst gemeldet, davon 590 aus Dorsten (einschließlich Herrlichkeitsdörfer), 67 in Wulfen, 58 in Lembeck, 53 in Rhade, 37 in Altschermbeck und 35 in Erle. Immer wieder wird die Bevölkerung dann an den Weltkrieg erinnert, wenn eine Bombe entschärft werden muss und die Bewohner ihre Wohnungen rund um den Fundort stundenlang verlassen müssen. 1989 wurde an der L 608 in Hervest ein ganzes Flugzeug (ME 109) mit den sterblichen Überresten des Piloten aus dem Boden geholt, der in den letzten Tagen des Krieges abgeschossen wurde.
Westfalen im Zweiten Weltkrieg
300.000 Gefallene, 200.000 kehrten als Krüppel heim, 10.285 verloren ein Bein, 5.130 verloren einen Arm, 901 verloren Arm und Bein, 417 verloren ihr Augenlicht. 36.676 Männer, Frauen und Kinder wurden im Bombenhagel getötet, 217.437 Kinder wurden zwangsverschickt. Tausende kehrten nicht heim. 454.000 Wohnungen wurden völlig zerstört oder schwer beschädigt, 346 Kirchen Westfalens vernichtet. 20.502 Juden aus Westfalen wurden vertrieben und ermordet, 103 Synagogen geschändet. 12.177 Westfalen wurden Insassen von Konzentrationslagern und endeten durch Genickschuss und Folterqualen, 272 Geistliche wurden zu Märtyrern, 341 Familien erhielten die Totenasche ihrer Lieben aus den KZ-Lagern zugesandt.
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