Von Wolf Stegemann
7. Juni 2019. – Fragt man ältere Holsterhausener nach ihrem Wissen um das frühere Landeserziehungsheim Kreskenhof in Holsterhausen, dann ist der Name den meisten bekannt und dass dort schwer erziehbare Jugendliche untergebracht waren. Fragt man sie nach der Unterbringung und Methoden der Erziehung der dort vom Landschaftsverband untergebrachten Mädchen und Jungen, hört man sofort den Satz: „Die haben doch die Prügel verdient!“ Disziplinierende Drohungen wie „Benimm Dich, sonst kommst Du ins Heim“ waren bis Ende der 70er-Jahre im Volksmund und in Familien verbreitet. Nicht selten bestätigte sich die Drohkulisse in der Wirklichkeit. Die Berichte Betroffener aus der Praxis der Heimerziehung erschüttern. Das Jugendamtsgesetz gibt darüber Auskunft. Der Satz „… dem Vorstande der Anstalt stehen gegen den Minderjährigen die den Eltern zustehenden Zuchtmittel zu“, verhieß nichts Gutes.
„Seelische Schmerzen habe ich immer noch. Mein Leben ist kaputt gegangen“
Auf dem Areal des Landeserziehungsheims Kreskenhof wurde im Herbst 1965 ein Neubau erstellt und Jugendliche aus dem durch harte Prügelmaßnahmen und unsoziale Verhältnisse bekannten LWL-Erziehungsheim Benninghausen nach Holsterhausen überführt. Hier konnten die 14-jährigen Mädchen und Jungen Dorstener Schulen besuchen, Theater und Fußball spielen und in heimeigenen Werkstätten oder an Fremdfirmen zum Arbeiten verliehen werden. Es waren sogenannte Fürsorgezöglinge, die ihren Eltern aus Fürsorgegründen zum Wohl des Kindes weggenommen wurden, wobei dann der Staat die Fürsorge und die Erziehung übernahm. Und was die Behörden noch in den 1960er- und 1970er-Jahren unter Fürsorge und Erziehung verstanden und wie sie diese umgesetzt hatten, darüber ist allgemein viel erforscht und veröffentlicht worden. Über den Holsterhausener Kreskenhof allerdings kaum etwas. Inzwischen mehren sich die Klagen der einst betroffenen Jugendlichen, die heute erwachsen sind, über die damaligen Verhältnisse. Bei der Recherche über den Kreskenhof klingt es das dann so oder ähnlich: „War fünf Jahre im Kreskenhof. Werde ich niemals vergessen. Schläge mit ’nem Staubsaugerstiel aus Aluminium von Herr L. bekommen. H. (Erzieher) war der Chef von der Grünanlage. Wenn er gesoffen hatte und kein Bock auf Arbeit hatte, gab er uns jeden ein Messer in die Hand, um rund um den Bolzplatz Rasenkanten von Hand abzuschneiden. Die Knie waren dabei blutig. Auch da bekam ich Schläge. Gründe wurden immer gesucht und gefunden. Sexuelle Erniedrigungen musste ich über mich ergehen lassen. Aber was kann ich dagegen unternehmen? Wenn einer weiß, was ich dagegen tun kann, dann helft mir. Seelische Schmerzen habe ich immer noch und Träume. Mein Leben ist kaputt gegangen“ Frank Kawinski.
„Das völlige Weggesperrtsein hat sich in meine Seele eingebrannt“
Diese und viele andere E-Mails sind Grund genug, das damalige Treiben im Erziehungsheim Kreskenhof weiter zu befassen. Dorsten-transparent hat bereits 2013 einen Artikel zum Thema Kreskenhof veröffentlicht, was den damaligen Heimleiter Göhlich veranlasste, dem Verfasser mit juristischen Maßnahmen zu drohen. Im Mittelpunkt der Kritik steht bis heute immer noch der damalige Heimleiter, der 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Über ihn schrieb W. W. im Mai 2019: „Wir durften Herrn Göhlich 2014 kennenlernen. Dieser Herr ist ein Machtmensch. Gespräche auf Augenhöhe sind nicht möglich. Begründete Kritik wird grundsätzlich nicht akzeptiert. Dieser Herr lebt nach dem Prinzip, die Rechte sind auf meiner Seite und die Pflichten bei den Mitmenschen.“ Und ein anderer schrieb (Name der Redaktion bekannt): „Die schweren Misshandlungen sind nicht vergessen! … Herr Göhlich, ich bin Ihr Schatten und werde nicht eher ruhen, bis ich Ihren Grabstein gesehen habe oder Sie vor Gericht stehen…“ 1971/72 war der Dortmunder Thomas Bornmann als 15- bzw. 16-Jähriger im Landeserziehungsheim Kreskenhof. Gegenüber der „Dorstener Zeitung“ schilderte er seine Erinnerungen (DZ vom 21. Januar 2011). „Das waren meine schlimmsten Jahre. […] Dieses geschlossene Heim, dieses völlige Weggesperrtsein, das hat sich in meine Seele eingebrannt.“ Raus kam er aus dem Kreskenhof-Heim, in dem es Hiebe setzte, wenn er nicht spurte, nur, um zu arbeiten. „Wir wurden damals an die Hähnchenfabrik Dr. Koch verscherbelt“, sagt Thomas Bornmann. „Acht Stunden harte Arbeit am Fließband und dafür bekamen wir am Ende des Tages eine Mark.“
Früherer Heiminsasse legt Zeugnis ab über Methoden und Misshandlungen
Ein ehemalige „Fürsorgezögling“, den wir hier Hans nennen, dessen Name der der Redaktion bekannt ist, war vom November 1974 bis zum Februar 1977 im Erziehungsheim Kreskenhof untergebracht. Bei einem Rundgang durch das heutige bewohnte Areal Kreskenhof mit seinen schmucken Häuschen und Vorgärten erinnerte er sich an der einen oder anderen Ecke an seine Zeit, die er hier auf dem Areal verbringen musste. Dabei kam es auch zu einem Gespräch in einem nahen Bauernhof, für den Zöglinge damals zu Erntezeiten arbeiten mussten. Bevor Hans als 14-Jähriger in den Kreskenhof eingewiesen wurde, hatte er als Kind bereits ein hartes Leben in der Familie in eine Ruhrgebietsstadt hinter sich, in der er verprügelt und geschunden wurde. Seine Einweisung in den Kreskenhof kam ihm zuerst wie eine Erlösung vor, doch es dauerte nicht lange, da empfand er den Kreskenhof schlimmer als seine Familie. Am Tag seiner Einweisung durch drei Polizisten war er als 14-Jährige „total besoffen“. Als erstes, so berichtete er, bekam er nach der Ausnüchterung einen „Pisspott-Haarschnitt“ und wurde in der geschlossenen Abteilung untergebracht, wie ein Strafgefangener. Ohne Begründung, ohne Kontakte, ohne Gespräche und hinter verschlossenen Türen. In der Konstruktion des Erziehungsheims war dies die C1-Abteilung. Es gab die geschlossene Abteilung, die halbgeschlossene und die offene Abteilung, deren Bewohner in Firmen außerhalb des Heims arbeiten konnten.
Der ehemalige Zögling will die Zeit aufarbeiten – er wurde blockiert
In der geschlossenen Abteilung wurde der 14-Jährige fast drei Monate lang gehalten. Ein Freiheitsentzug ohne richterlichen Beschluss, war auch nach der damaligen Rechtlage illegal, falls die Behörden keinen justitiablen Freischein gehabt haben sollten. Später, lange nach seiner Entlassung, als Hans seine Zeit im Kreskenhof (nebenstehendes Luftbild um 1965) für sich aufarbeitete und beim Träger des Fürsorgeheims, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, eine Frage bezüglich der Rentenversicherung beantwortet haben wollte, sagte ihm die Auskunftsperson, er solle sich verpis…! Nach den drei Monaten hinter verschlossenen Türen kam er in die halboffene Abteilung und drückte dann Plastikgriffe an Plastiktüten, wie man sie bei Einkäufen bekommt. Auch wurde er zu Hausarbeiten in den Häusern und auf dem Gelände eingeteilt. Eigentlich wäre seine Arbeit nach der Regelung des Landschaftsverbandes voll sozialpflichtig gewesen, was ihm auch bescheinigt und zugebilligt wurde, dennoch fehlen ihm aus ihm unbekannten Gründen die Einträge eines halben Jahres. Es gab keine Kontrollmöglichkeiten für den Jungen, damals nicht und auch heute nicht.
Im „Hellerberg-Kommando“ waren Schläge an der Tagesordnung
Zur Arbeit eingesetzt wurde er dann auch im berüchtigten „Hellerberg-Kommando“. Berüchtigt, weil der Anlagengärtner Hellerberg das Kommando über den Einsatz in den Grünanlagen der Areals und des Fußballplatzes hatte sowie über die Jugendlichen, die zur Kartoffelernte zu den Bauern der Umgebung und mit Hammer und Meißel zum Abreißen irgendwelcher Mauern geschickt wurden. „Ich musste einen etwa 15 Meter breiten Aschebahnglätter aus Eisen ziehen. Mein Hals und mein Nacken waren tagelang rot entzündet. Doch das war in dem Kommando nicht das Schlimmste, meint Hans.
Jugendliche mussten auch die Betten der Erzieher anwärmen
Kamen die Jugendlichen von der Arbeit zurück und hatten ihren Feierabend verdient, kamen andere Aufseher und forderten Jugendliche, auch Hans, auf: „Du machst mir mein Bett, Du wärmst es an…!“ Wer sich weigerte, musste 50 Kniebeugen machen. Und wer dem nicht folgte, verschwand zwei Tage in der Zelle. Mehr war zu dem brisanten Thema nicht zu erfahren. Hans wurde in dieser Zeit zum Nägelkauer. Wer in der dritten Kategorie arbeitete, im offenen System, C6 genannt, der konnte beispielweise in der Rösterei Tempelmann, in der Kohlehandlung Mecking, in der Hähnchenfabrik Dr. Koch oder in einem Sägewerk arbeiten. Im letzteren hatte es auch arge Unfälle gegeben.
Hans wurde ein Jahr lang in die Außengruppe des Erziehungsheims, den Erlenhof im Sauerland, verlegt. Dort holte er die 10. Hauptschulklasse nach. Zurück in Holsterhausen, wurde er wieder dem berüchtigten Kommando des Gärtners Hellerberg zugeordnet wurde. „Ich habe Ohrfeigen bekommen, aber richtig gewaltige.“ Die Frage, warum die Erzieher so gewalttätig mit den Jugendlichen umgingen, wird auch damit beantwortet, dass die sogenannten Erzieher „so gut wie“ keine Ausbildung hatten. Sie wurden damals in Holsterhausen und Dorsten hauptsächlich unter Bergarbeitern abgeworben und mit gutem Lohn gelockt. Wer heute in den älteren Bergarbeiter-Familien dieses Thema zur Sprache bringt, der wird fündig. Bei den Familien, von denen einer als „Erzieher“ zum Kreskenhof wechselte und bei denen, die heute sagen: „Nee, mein Mann wollte das nicht!“
Erzieher nahmen ihre Zöglinge auch zum Biertrinken in die Kneipe mit
Bei Durchsuchungen der Schränke der Jugendlichen wurden natürlich auch kleine Fläschchen Jägermeister und anderes gefunden. Auch bei Hans. Ihm udn anderen wurde dann der Wochenendausgang gesperrt. Auch die Erzieher, so Hans soffen kräftig, auch tagsüber. Wenn seine Gruppe Fürsorgezöglinge in Begleitung von „Erziehern“ im Dorf waren, dann kehrten sie oft in einer Gaststätte ein und tranken Bier. Das Lokal hieß „Gasthof zur Linde“ (Josef Duve). Es ist heute abgerissen. Danach ging es dann mit Bierpullen in der Hand zurück ins Heim. Die Gaststätte Duve war die Stammkneipe nicht nur für etliche Erzieher, sondern auch für ihre mitgenommenen Schützlinge. Als Hans vor kurzem das Areal Kreskenhof besuchte, suchte er auch diese Kneipe, konnte sich aber nicht mehr an den Namen und den Standort erinnern. Schließlich bekam er Auskunft auf einem Bauernhof. Dort wurde ihm lachend gesagt: „Ach ja, die Kneipe, die Erzieher vom Kreskenhof waren immer bei Duve!“ Allerdings war aus anderer Quelle zu hören, dass die „Erzieher“ dort weder vom Gastwirt noch von den Holsterhausener Gästen wegen ihres Benehmens nicht gern gesehen waren.
Nach der Entlassung zweieinhalb Jahre obdachlos durch die Gegend gezogen
Hans, nunmehr im 18. Lebensjahr, wurde im Februar 1977 entlassen. „Von heute auf morgen“, erinnert er sich. „Sie haben mir den Entlassungsschein, 25 Mark und eine Fahrkarte ins Elternhaus in der Nachbarstadt in die Hand gedrückt.“ Dort sollte er eine Woche später in einer Metallfirma arbeiten. Das klappte nicht. So hat er sich nach seinem Zwangsaufenthalt im Fürsorgeheim Kreskenhof zweieinhalb Jahre als Obdachloser durch die Gegend geschlagen: Unterwegs war er in Holland, Belgien, Spanien. Gearbeitet hat er auf Orangerieplantagen und Bauernhöfen. In Spanien schlief er am Strand und fing sich Sandflöhe ein. „Wenn man im Heim groß geworden ist, dann ist man ziellos, weiß nicht, was ist!“ meint er und sagt, dass er auf ein „zerstörtes und verschenktes Leben“ zurückblickt. Man glaubt ihm das. Doch er hat sich gefangen, so scheint es. Er ist dabei, sein Leben aufzuarbeiten, seine Fehltritte und das, was man aus ihm gemacht hat und was aus ihm wurde. Er führt ein digitales Tagebuch. Und er will Auskünfte über sich und sein damaliges Fürsorgeleben in Holsterhausen einholen. Von den zuständigen Behörden, von früheren „Erziehern“ oder vom Heimleiter Walter Göhlich, der, so Hans, das alles zugelassen hatte, was den Jugendlichen angetan wurde. Doch sie blockieren. Wie sagte doch der eine vom Landschaftsverband: er soll sich verpis…!
Dorsten-Lexikon: walter Göhlich, _____________________________________________________________
Anmerkung am 14. Juni: Der Informant bestand darauf, dass weder sein Name moch seine Herkunft genannt wird. Wir haben ihn Hans genannt. Auch sollte kein Bild veröffentrlicht werden. Die Redaktion hat sich daran gehalten. Nach Veröffentlichung des Artikels wollte er auch nicht, dass einige Aussagen als Zitate gebracht werden. Wir haben das in seinem Sinn geändert. – Hans erinnert sich, dass der spätere Geiselnehmer von Gladbeck (1988), Dieter Degowski, vorher auch Fürsorgezögling im Landeserziehungsheim Kreskenhof in Holsterhausen war.
Oje, ich habe die Artikel gelesen. Hätte ich besser nicht tun sollen. Ich war lange Zeit auch in diesem Heim (bis 1972). Herr Göhlich höchstpersönlich hat mich dann in das Heim Jugendsiedlung Heidehaus in Augustdorf verbracht. Es ist völlig egal, wie man das Heim auch nennen mag, sie waren alle und ich meine alle das letzte was man einem Kind antun kann. Bei Dr. Koch Hähnchenfabrik habe ich auch am Fließband die Hähnchen gebrüht. Das schlimmste waren aber die Arbeiten im Heim. Da wurden auf dem Gelände “Altlasten” entsorgt. Hierfür mussten wir Löcher graben 5 x 120 m groß und 5 m tief. Zu dem Artikel des Herrn Duve. Er hat völlig Recht, es war die Stammkneipe der Erzieher und nicht der Heiminsassen. Da saßen nur die feinen Herrschaften. Herr Göhlich, Herr Stolz, Herr Gläser und und und. Das ganze ist nun 51 Jahre her und vergessen werde ich niemals was mir an diesem Ort angetan wurde.
Durch die Abhandlungen der Entscheidungen des so genannten Runden Tisches sind in mir die bereits vergessen geglaubten Erinnerungen wieder aufgekommen. Plötzlich war alles wieder da! Die vielfachen, von dem dortigen Heimleiter Rüberg jedoch geleugneten Misshandlungen im St. Josefshaus in Wettringen, die ich in der Zeit von Dezember 1968 bis Juli 1969 ertragen musste, ebenso die ständigen Erniedrigungen im Westfälischen Landeserziehungsheim Dorsten. Unbeschreibliches Szenarien, die mir noch heute kalter Schauer über den Rücken jagen. Das Unerträgliche aus dieser Zeit: Niemand aus dem Kreis der Täter ist jemals straf- oder zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen worden!
Voraus einen guten Tag ,
die Information über den Kreskenhof hat mich doch erstaunt. Erstaunt, weil gute Bekannte von mir einen engen Kontakt zur Familie Göhlich hatten und wahrscheinlich noch haben. Bei Feiern bei der Familie Göhlich soll der Herr Göhlich des öfteren erwähnt haben, mit 16 Jahren war er 1945 Melder bei der Wehrmacht im Westen Deutschlands. Aufgefordert einen Stechschritt hinzulegen hätte er auch gerne gemacht. Auf Grund dieses Wissens habe ich Kontakt mit Herrn Göhlich aufgenommen und gebeten, er möge doch eine Erinnerung aus seiner Wehrmachtszeit schreiben und der Arbeit “Dorsten unterm Hakenkreuz” zur Verfügung zu stellen. Die Antwort auf meine Anfrage hat nicht lange auf sich warten lassen. Sie wurde von Herrn Göhlich abgelehnt. Abgelehnt mit der Begründung, der Herr Wolf Stegemann hätte schlecht über ihm geschrieben.
Nun konnte ich mein Wissen erweitern und erkenne die Zusammenhänge. Es wird sich nicht ändern, die Wahrheit können Betroffene nicht ertragen.
Alles Gute wünscht Alfred Vadder.
Die Gaststätte Hermann (nicht Josef) Duve war nie das “Stammlokal” der Insassen des Landeserziehungsheims! Die Jungs hielten sich vorwiegend in Kneipen an der Borkener Straße oder in der Innenstadt von Dorsten auf. Sie kamen immer kurz vor der Zeit, zu der sie wieder ins Heim sein mussten, an unserer Gaststätte vorbei, gingen aber äußerst selten hinein, weil mein Vater damals keinen Wert auf sie als Gäste legte. Insofern ist diese Passage des Artikels nicht richtig.