Von Helmut Frenzel
23. Mai 2019 – Nun also hat der dritte Center-Manager des Mercaden hingeworfen. Er tat es nicht, ohne seinen Frust über die Anfeindungen aus Teilen der Öffentlichkeit gegen das Mercaden herauszulassen. Die „Geilheit am Scheitern“ habe ihn fassungslos gemacht, sagte er. Nirgendwo habe er eine so negative Stimmung gegenüber einem Einkaufszentrum erlebt. Niemand könne sich vorstellen, was die fortwährende Kritik und unflätige Äußerungen bei Facebook mit Mitarbeitern und Mietern mache. Die einzige Dorstener Tageszeitung legte nach mit einem Rundumschlag gegen Besserwisser, Dauernörgler, Ahnungslose und Neunmalkluge. Sie werden mitverantwortlich gemacht für den Misserfolg des Mercaden. Denn: „Wer kommt schon in eine Stadt, in der man vielen Menschen (und Kunden) offenbar nichts recht machen kann?“ (DZ vom 17. Mai 2019). Das geht in die Richtung, die Helmut Koprian bei der Vorstellung der Umbaupläne vorgab: Es liegt doch an euch Dorstenern, das Einkaufszentrum zum Erfolg zu machen. Ihr müsst euren Bedarf halt hier im Mercaden einkaufen. So einfach ist das. Und eben auch aufhören mit der hässlichen Nörgelei und Besserwisserei. Dann wird das schon.
Erneute Abriegelung zum Kanal sorgt bei vielen für Verärgerung
Die Frage, woher die teilweise aggressive Ablehnung kommt, wird dagegen nicht gestellt. Was macht einen Teil der Dorstener so wütend? Der scheidende Center-Manager gab unbeabsichtigt einen Hinweis, als er auch sagte: „Natürlich wäre eine Öffnung zum Kanal hin besser gewesen, aber das haben wir nicht zu verantworten.“ Das also ist es. Viele Dorstener hadern noch immer damit, dass man das Ende des früheren Lippetor-Centers nicht dazu genutzt hat, die Innenstadt zum Kanal hin zu öffnen. Aber ist das ein hinreichender Grund, dem neuen Einkaufszentrum so ablehnend zu begegnen? Um das zu verstehen, muss man wissen, dass es zu diesen Plänen eine Vorgeschichte gibt.
Anfang der 2000er Jahre startete die Verwaltung einen breit angelegten Stadtmarketing-Prozess. Ziel war es, Dorsten ein unverwechselbares Profil zu geben, das die Stadt einerseits für die Einwohner und andererseits für ansiedlungswillige Betriebe attraktiver machen und so die langfristige Entwicklung der Stadt fördern sollte. Es wurden mehrere Leitprojekte gebildet, darunter das Projekt “ Dorsten – Raum am Wasser“. Der zuständigen Arbeitsgruppe gehörten Vertreter von Lippeverband, Wasser- und Schifffahrtsdirektion, Rheinisch-Westfälische Wasserwerke, Verkehrsverein, Ruderverein Dorsten, Galerie Virtuell-Visuell, ferner ein Architekt, einige Ratsmitglieder und Mitarbeiter der Verwaltung an.
Suche nach unverwechselbarem Profil mit breiter Bürgerbeteiligung
Auf der Grundlage der Ergebnisse der Arbeitsgruppe, die mittlerweile den Namen „Stadt am Wasser“ führte, fand an einem Samstag im November 2001 ein eintägiges Projektforum „Dorsten – Stadt am Wasser“ statt. Die Veranstaltung stand unter der Leitung der „iku GmbH“ (Dortmund), die auf die Moderation von Bürgerbeteiligungsprozessen spezialisiert ist. Es nahmen etwa 70 Personen teil, die eine breite Beteiligung aller wichtigen Interessengruppen gewährleisten sollten. Dazu gehörten außer den schon genannten Beteiligten Vertreter der Emscher-Lippe Agentur, Handwerkskammer Münster, Seniorenbeirat, NaBu, Verbraucherzentrale NRW, Motor-Yacht-Club Dorsten, Verein für Orts- und Heimatkunde, ein Landschaftsplaner, mehrere Architekten, eine Geografin, der Direktor des Petrinum, der Beigeordnete Haase und weitere Mitarbeiter der Verwaltung und darüber hinaus weitere Personen. Diese Aufzählung scheint wichtig, um zu verdeutlichen, dass es nicht um Wochenendbelustigung ging, sondern um eine ernsthafte Beschäftigung mit dem gestellten Thema. Das wesentliche Ziel der Veranstaltung bestand in der Konkretisierung und Weiterentwicklung vorhandener Projektideen, insbesondere aber auch in der Sammlung neuer Ideen für das Themenfeld „Stadt am Wasser“.
2001 Projektforum „Dorsten – Stadt am Wasser“
Bürgermeister Lambert Lütkenhorst begrüßte die Teilnehmer des Projektforums, wie in der iku-Dokumentation wiedergegeben, hier in Auszügen:
„Er erhoffe sich durch das Forum neue Ideen und Visionen für den Stadtmarketingprozess in Dorsten. Als positives externes Beispiel könne man die offizielle Namensänderung der Stadt Haltern in ,Haltern am See’ heranziehen. Dies stärke die Identität der Stadt Haltern…
Auch für Dorsten sei es möglich, eine solche Identität zu schaffen. Positiv stimme ihn die bisherige Entwicklung im Stadtmarketingprozess, der von einer breiten Bürgerbeteiligung getragen werde. Die Notwendigkeit, möglichst viele Akteure für den Prozess zu mobilisieren, sei in Dorsten erkannt und durch eine breite Beteiligung umgesetzt worden. Intensive Kommunikation und Kooperation prägten den Stadtmarketingprozess seit seiner Initiierung…
Wichtig sei, dass der Workshop als ,Kreativtag’ betrachtet werde, und dass finanzielle Aspekte in der folgenden Arbeit eine untergeordnete Rolle spielen sollten.“
Das Projektforum erbrachte eine breite Zustimmung zu der Vision der „Stadt am Wasser“. In einer schriftlichen Auswertung des Projektforums wurde die zu bewältigende Aufgabe wie folgt beschrieben:
„Das grundlegende Problem besteht darin, dass der Kanal wie eine Tangente am Stadtzentrum vorbei führt. Einen Berührungspunkt mit dem Stadtzentrum gibt es nur an einer einzigen Stelle: dem Lippetor mit dem Lippetor-Zentrum, das jedoch eine Verbindung von Stadtzentrum und Kanal regelrecht abblockt…
Alle vorgeschlagenen Maßnahmen … werden nicht bewirken, Dorsten als Stadt am Wasser zu etablieren, wenn nicht eine dauerhafte Anbindung des Kanals an das Stadtzentrum im Sinne eines „Knotens“ gelingt. Dazu gehört auch, dass mittelfristig ein Einblick auf den Kanal aus der Stadt heraus gegeben sein muss…
Für die Profilierung Dorstens als Stadt am Wasser muss der Schwerpunkt bei der Anbindung des Kanals an das Stadtzentrum liegen. Die zentrale Aufgabe besteht darin, die bisherigen Ansätze und Vorschläge zu einem schlüssigen und überzeugenden Konzept zusammenzuführen und weiterzuentwickeln.“
Nach ermutigenden Anfängen versandet das Projekt
Im Gefolge des Projektforums bildete sich eine Initiativgruppe, die Veranstaltungen am Wasser plante und durchführte, um das Konzept der Stadt am Wasser mit Leben zu füllen. So kam das „Kanalfest“ zustande, bei dem anfangs ein vom Ruderverein Dorsten organisiertes Achterrennen auf einer Kurzstrecke entlang der Kanalpromenade die Attraktion bildete. Später kamen Drachenbootrennen und andere Elemente als Begleitprogramm hinzu. Das Spektakel wurde von der Bevölkerung gut angenommen. Als es in den Folgejahren nicht mehr gelang, eine ausreichende Anzahl von Booten für den Achter-Cup zu gewinnen, erlahmte das Interesse und schließlich wurde das Kanalfest aufgegeben. Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass man mit der Öffnung der Innenstadt zum Kanal nicht voran kam. Das „Kanalfest“ war tot. Aber die Vision von der Stadt am Wasser und der Öffnung der Innenstadt zum Kanal blieb in den Köpfen.
„Stadt am Wasser“ aufgegeben gegen Utopie eines Einkaufzentrums
Als 2009 das Grundstück mit dem insolventen Lippetor-Center versteigert wurde und sich die Pläne für einen Abriss und Neubau konkretisierten, erinnerten sich viele an die Vision der Öffnung der Innenstadt zum Kanal. Es regte sich Widerstand gegen das Neubauvorhaben. Je länger die Planung dauerte, desto mehr. Vor allem als klar wurde, dass mit dem neuen Einkaufscenter ein neuer Sperrriegel entstehen würde, der die Vision von der Stadt am Wasser ein für alle Mal zunichte macht.
Aber davon wollten Bürgermeister Lambert Lütkenhorst und die Ratspolitiker nichts mehr hören. Die Gegner des Neubaus, die dem Projekt der „Stadt am Wasser“ nachhingen, wurden als Querulanten und notorische Nörgler ausgegrenzt. Bei der Konditionierung der öffentlichen Meinung für das Projekt leistete die Dorstener Tageszeitung nach Kräften Hilfe. Viele Dorstener verstanden nicht, warum die Stadt nicht die Gelegenheit beim Schopf griff und das Grundstück am Lippetor selbst erwarb. Das wohlfeile Argument, mit dem der Bürgermeister solche Gedanken abwehrte, lautete: Dafür hat die Stadt kein Geld. Aber was taugte es? Nach der Insolvenz des Investors und Betreibers hatte die Stadt 2004 das verlustträchtige Freizeitbad „Atlantis“ übernommen – samt der darauf lastenden Schulden von 15 Millionen Euro. Geld spielte da keine Rolle. Etwa zur gleichen Zeit übernahm WinDor, die Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Stadt, nach der Insolvenz der Rose-Brauerei das Gelände am Brauturm für über sechs Millionen Euro mit dem Ziel der Vermarktung. Warum sollte das nicht auch im Falle des Lippetor-Centers möglich sein? Aber Bürgermeister und Ratsparteien hatten auf stur geschaltet. Andere Lösungen wurden nicht einmal in Betracht gezogen. Wer Ratsmitglieder dazu befragte, bekam zur Antwort: „die Politik“ will das Einkaufscenter. Ende der Debatte.
Sollen am Lippetor die Kühe grasen?
Die Ratsparteien sahen keinen Anlass, die sachlichen Argumente der Gegner des Projekts, – denn die gab es abseits der Vision von der Stadt am Wasser ja auch noch -, aufzunehmen. Sie hatten auf der politischen Ebene keine Stimme. Es gab aber auch keinen Versuch, die Gegner zu einer Bewegung zu versammeln, die Einfluss auf die Politik hätte nehmen können. Andererseits machte auf Seiten der Befürworter niemand Anstalten, die Bürger mit der Abkehr von der Vision der Stadt am Wasser zu versöhnen. Sie wurden durch die Entscheidungen des Rates schlicht überfahren, niedergewalzt. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und nicht nur das. Sie wurden lächerlich gemacht und als Zeitgenossen hingestellt, die sich dem Fortschritt verweigern. In Erinnerung ist der Spruch des Bürgermeisters: Wollt Ihr, dass am Lippetor die Kühe grasen? Das war bösartig. Aber die Befürworter fühlten sich gut dabei. Manche Bürger hat es nur noch zorniger werden lassen.
Gegner des Einkaufscenters fühlen sich verraten
Vielleicht hätte ein Erfolg des Einkaufscenters die Gegner ruhig gestellt. Aber es kam anders. Es wurde ein Flop. Nun steht die Stadt mit leeren Händen da: Mit dem Center-Projekt hat sie eine Neuauflage des alten Lippetor-Problems am Hals, das kaum noch lösbar scheint, und die Chance, Dorsten als „Stadt am Wasser“ zu etablieren, ist durch den monumentalen Klotz auf lange Zeit, wenn nicht für immer, vertan. Und auch die Illusion, das neue Einkaufszentrum könnte die Leerstandsentwicklung auf der oberen Lippestraße beenden, hat sich in Luft aufgelöst. Die negativen Äußerungen in den sozialen Medien treffen mit dem Center-Manager und den Mietern des Mercaden die falschen. Und die, die sie treffen sollten, sind in Deckung gegangen. Die ablehnende Haltung in einem erheblichen Teil der Dorstener Bevölkerung könnte nun, so wird befürchtet, die Erfolgsaussichten eines Neustarts nach dem geplanten Umbau gefährden. Wer das ändern wollte, müsste den Rat der Stadt dazu bringen, einen Aufarbeitungsprozess in Gang zu setzen, in dem die Fehler und Irrtümer im Zusammenhang mit dem Center-Projekt schonungslos aufgedeckt werden und den Gegnern mit ihren berechtigten Argumenten Genugtuung zuteil wird. Vielleicht würde sie das besänftigen. Dass es dazu kommt, ist angesichts der Erfahrungen mit dem Selbstverständnis der Dorstener Ratspolitiker wenig wahrscheinlich.
Vermurkst, verkorkst, an den Interessen der Menschen vorbei konzipiert. Und das in voller Kenntnis der Wünsche der Bewohner und Besucher dieser einstmals liebenswerten kleinen Hansestadt an der Lippe. Das tut ja schon richtig weh! Sich im nachhinein aufzuplustern und den Beleidigten zu geben, das ist sinnlos. Dadurch wendet sich nichts zum Besseren, oder?