Von Wolf Stegemann
Vorab gesagt: Warum dieser Artikel? Lokalzeitungen sind dazu da, ihre Leser über Geschehnisse in ihrer Stadt – u. a. in den Vereinen, Bürgerinitiativen, Kindergärten, Schulen – zu informieren und auch und vor allem einen kritischen Blick auf das Tun und Lassen der Kommunalpolitiker und der städtischen Institutionen zu werfen, darüber zu berichten und zu kommentieren. Nehmen Journalisten ihre Arbeit in diesem und im Sinne ihres journalistischen Ethos ernst, ecken sie mitunter zwangsläufig an. Dann kann es schon mal Abbestellungen der Zeitung geben, Diffamierungen von Journalisten, vor allem durch Politiker, die dann beim Verleger oder Chefredakteur gegen den Journalisten agieren und auch Entlassungen fordern. Für Beschwerden, bei wem auch immer, genügen betreffenden Politiker oft auch nur missfallende Überschriften. Darüber erfährt der Leser in der Regel nichts. Die Beziehung zwischen Politik und Presse ist ein wichtiger Bestandteil unserer Demokratie, auch auf lokaler Ebene. Daher mag man es uns nachsehen, wenn wir die Beziehung zwischen Lokalpolitik und Presse aufgreifen. Denn auch auf lokaler Ebene gibt es hinter den Kulissen manch unschönen Druck auf Journalisten, wenn diese durch kritische Berichterstattung „auffallen“. – In loser Folge werden wir aus dem persönlichen Leben und der Feder des Verfassers einige Auseinandersetzungen zwischen Institutionen der Stadt, Parteien und der Lokalpresse schildern.
Gewalt in Schulen – über Jahrzehnte hinweg ein drängendes Thema
Gewalt zwischen Schülern an Schulen ist ein Thema, das Lehrer, Eltern, Psychologen und auch die Polizei schon lange beschäftigt. Es gibt sie in immer wieder verwandelter Form schon sehr lange. In den 1980er- und 90er-Jahren fand das Thema auch verstärkt Eingang in die Medien, wenn auch noch sehr zurückhaltend. So auch in Dorsten. Auf Schulhöfen in der Lippestadt, darunter auch das Gymnasium Petrinum, wurde in den 1980er-Jahren Haschisch verkauft und verbreitet, worüber die Polizeiberichte Auskunft geben. Und es gab Gewalt unter Schülern, die ebenfalls bekannt war, aber meist mit dem Spruch „An unserer Schule gibt es das nicht“ unter den Teppich gekehrt wurde.
Blutergüsse, Knochenbrüche – auch Mobbing gilt als Körperverletzung
Die Ursachen von Gewalt an Schulen sind genauso mannigfaltig wie die Definition von Gewalt. Sie wird von Lehrern unterschiedlich gedeutet, solange sie nicht die Strafbarkeitsgrenze überschreiten. Zum Thema körperliche Gewalt an Schulen listen die Unfallkassen Vorfälle auf Schulhöfen, Schulwegen und in Unterrichtspausen auf wie Blutergüsse, Knochenbrüche, Schürfwunden, Zahnschäden. Auch Mobbing erfüllt den Straftatbestand der Körperverletzung. Wissenschaftliche Studien belegen, dass an Gymnasien acht Prozent der Schüler solche Taten begehen, 14 Prozent an Gesamtschulen. Laut einer Forsa-Studie von 2016 im Auftrag des Lehrerverbandes Bildung und Erziehung (VBE) berichteten etwa die Hälfte von 1.200 befragten Schulleitungen auch Fälle von psychischer Gewalt gegenüber Lehrern. An etwa 300 der Schulen gab es körperliche Angriffe gegen Lehrer. Der Vorsitzende des VBE vertritt die Ansicht, dass die Ursache dafür in der Zunahme der Kinder mit Störungen im Bereich emotional-sozialer Entwicklung liegt: Laut der amtlichen Schulstatistik stieg die Zahl der Schüler bis zur 10. Klasse mit solchen Störungen von 0,6 Prozent im Jahr 2007 auf 1,2 Prozent im Jahr 2016. Mehr als ein Viertel aller Lehrkräfte werden von Schülern beleidigt, wobei laut einer Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) von 2017 die meisten Opfer Frauen, die meisten Täter Hauptschüler sind. Allerdings gab und gibt es immer auch Gewalt von Lehrern gegen Schüler. Heute lässt sich die anwachsende Gewalt an Schulen wegen der Berichterstattung darüber kaum noch verbergen und schon gar nicht mehr abstreiten. Das war nicht immer so.
Die Studenten stellten „vorgeheucheltes Interesse der Rektoren“ fest
Das Thema „Gewalt an Schulen“ griffen zwei Dorstener Polizeistudenten der Verwaltungshochschule Dortmund in einer Seminararbeit auf. Sie zeigt u. a. in vielen statistischen Zahlen das Abbild von Gewalt an Schulen. Auf der Grundlage einer Fragebogenaktion kamen die Studenten zu diesem Ergebnis: 52 Prozent der Lehrer verstanden unter Gewalt eine „aggressive Handlung zwischen Menschen“. Sachzerstörungen wurden nur von 8,8 Prozent der Lehrer als Gewalt angesehen und 7,8 Prozent waren der Meinung, dass Gewalt mit Machtausübung gleichzusetzen sei. Rund ein Viertel der befragten Lehrer glaubte, dass mit Gewalt Ansehen bei anderen Schülern erlangt werden kann. Die Zahlen dürften sich mittlerweile geändert haben. Sie sollen hier aber auch nicht so wichtig genommen werden wie das erschütternde Fazit der beiden Polizeistudenten Klaus Pfefferkorn und Frank Groß über die Schwierigkeiten am Zustandekommen ihrer Arbeit. Die beiden ehemaligen Streifenpolizisten schrieben: „Das vorgeheuchelte Interesse seitens der Rektoren konnten wir recht bald ausmachen.“ Die Polizeistudenten befürchteten auch, dass die Fragebögen die Schulleiterzimmer nicht verlassen und die Lehrer somit nicht erreicht hätten. Ihre Erfahrungen mit Schulleitern seien erschütternd gewesen, schrieben sie. Daher intensivierten sie ihr Vorhaben durch Gespräche mit der Lokalpresse, „die diesem Thema äußerst positiv gegenüberstand“. Weiter schrieben sie, dass auch das Dorstener Schulamt mauerte, nachdem die Rektorenkonferenz das Thema „Gewalt an Schulen“ völlig tabuisierte. Dorstens damaliger Schulamtsleiter riet den beiden Polizeistudenten, sich mit den Schulleitern der beiden Gymnasien „gut zu stellen“, wenn man von ihnen etwa möchte. Dazu die beiden Autoren: „Im Weiteren gab uns der Leiter des Amtes zu verstehen, dass es in Dorsten, insbesondere an Dorstener Schulen, keine Gewalt gibt.“ Auch das Jugendamt verneinte gegenüber den Polizeistudenten Gewalt an Dorstener Schulen. Glaubt man diesen amtlichen Aussagen, dann waren 1994 Dorsten und seine Schulen Insel der Glückseligen. Doch ließen schon einige Lehrer erkennen, dass dieses Thema in Dorsten durchaus aktuell und Diskutierstoff in Lehrerzimmern gewesen sei, dass „Gewalt permanent zunimmt und in den letzten Jahren stetig gestiegen sei“. Dass an Schulen sogar Kommissionen gegen Gewalt eingerichtet wurden wurde den beiden Polizeistudenten verheimlicht. Dennoch erschien eine veritable Seminararbeit der beiden Studenten, die wegen der Befragungsschwierigkeiten neben der Gewalt an Schülern auch das Verhalten von Schulleitung und Schulamt zum Inhalt hatte.
Schulleiter beschwerte sich beim Verleger über die Lokalredaktion
Dass die „Ruhr-Nachrichten“ (heute DZ) in ihrer Dorstener Ausgabe am 8. Dezember 1994 über die erschienene Arbeit unter dem Titel „Schulische Mitarbeit äußerst mangelhaft“ berichtete und ein Foto der beiden Polizeistudenten vor dem Bildungszentrum brachte, auf dessen Hintergrund das Petrinum abgelichtet war, regte den damaligen Schulleiter Bernhard Sporkmann vom Petrinum dermaßen auf, dass er sich mit einem in diffamierendem Ton gehaltenen Brief vom 12. Dezember 1994 beschwerte. Nicht etwa bei den beiden Polizeistudenten bzw. deren Fachhochschulleiter, was naheliegend gewesen wäre, sondern er suchte mich, Wolf Stegemann, langjähriges Redaktionsmitglied der „Ruhr-Nachrichten/Dorstener Zeitung“ aus. Ich hatte damals über die Arbeit der beiden Polizeistudenten unter der Überschrift „Schulische Mitarbeit äußerst mangelhaft“ geschrieben. Sporkmanns Beschwerde ging aber auch nicht an mich, sondern direkt an meinen Verleger und Chefredakteur Florian Lensing-Wolff in Dortmund. Darin schrieb der Schulleiter, dass „er und seine Kollegen/Kolleginnen empört“ über den Artikel im Lokalteil der Zeitung seien. Er unterstellte mir, dass ich den Polizeistudenten bei der Arbeit „nachweislich“ geholfen hätte. Den Nachweis blieb er schuldig. Das Wort Polizeistudenten setzte er stets in Anführungs- und Schlusszeichen, als ob sie überhaupt keine Polizeistudenten wären. Er bewertete meinen Artikel als Verleumdung und schrieb: „Ziel meines Schreibens ist es lediglich, Sie, Herr Chefredakteur, auf ungerechte Attacken [des Journalisten] aufmerksam zu machen“, wurde sogar parteipolitisch, als er versicherte: „In der Überzeugung, mit diesem Brief einer im politischen Raum und vorpolitischen Raum jahrzehntelang funktionierende Zusammenarbeit mit Ihrer Zeitung zu dienen, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen Bernhard Sporkmann“. Die Dorstener Redaktion war sich im Klaren, dass mit „politischem und vorpolitischem Raum“ die CDU gemeint war. Schließlich war der Vater des Verlegers Mitbegründer der westfälischen CDU.
RN-Chefredaktion wies die Beschwerde als unbegründet zurück
Horst-Eberhard Hütt von der RN-Chefredaktion Dortmund schrieb an Sporkmann zwei Tage später. „Nach aufmerksamer Lektüre des fraglichen Artikel in unserer Dorstener Lokalausgabe und Ihres Briefes habe ich das ungute Gefühl, dass – wenn es denn Empörung unter Lehrern in Dorsten gibt – nach mittelalterlichem Ritus nicht der Verursacher, sondern der Überbringer einer schlechten Botschaft geviertelt werden soll. Unsere Lokalredaktion hat in journalistisch einwandfreier Weise und ohne eigene Kommentierung … berichtet.“
Dann bekannte sich das Gymnasium doch dazu, dass es Gewalt gebe
Daraufhin ging bei der Dorstener Redaktion ein langes Schreiben ein, in dem die Lehrerrats-Vorsitzende Evelyn Dickhöfer und noch einmal Schulleiter Bernhard Sporkmann nun auch zur Seminararbeit der beiden Studenten Stellung nahmen und der Zeitung vorwarfen, Aussagen aus der Seminararbeit „ungeprüft“ übernommen zu haben. Zudem hegten Sporkmann und die Lehrerrats-Vorsitzende den Verdacht, die Ruhr-Nachrichten würden mit „zweifelhaften Leserbriefen“, die man nicht überprüfen könne, das Thema weiterhin aktuell halten. Allerdings bekannte sich das Gymnasium jetzt dazu, dass sich eine Arbeitsgruppe der Lehrerkonferenz schon seit Jahren mit „Gewalt an Schulen“ allgemein und mit der Situation am Petrinum im Besonderen auseinandersetze.
Sonderbar, dass dies den beiden Polizeistudenten wissentlich verschwiegen wurde, wo doch das Gymnasium den Studenten alles gesagt habe, wie die Briefschreiber jetzt behaupteten. Auch das Dorstener Schulamt hatte somit eine falsche Auskunft gegeben. Der Brief wurde von der Lokalzeitung als Stellungnahme veröffentlicht und der Redaktionsleiter setzte eine eigene Erklärung darunter. Darin wurde dem Leser wie auch der Schulleitung und der Lehrer-Konferenz vermittelt, wie Zeitungsarbeit funktioniert und dass das Petrinum einmal mehr den Übermittler der Nachricht mit ihrem Urheber verwechselt habe, dass Tageszeitungen weder per Privatdetektiv Meldungen nachprüften noch Gegengutachten zu Untersuchungen und Studien erstellten. Leserbriefe seien immer subjektive Meinungsäußerungen, die veröffentlicht werden, wenn ihr Inhalt nicht gegen Gesetze verstoße oder kein Aufguss von bereits veröffentlichten Leserbriefen sei. Und: „Auf die Nennung des [der Redaktion bekannten] Absenders wird nur dann verzichtet, wenn dieser oder seine Angehörigen negative Folgen fürchten müsste, wie dies beim Thema ,Gewalt an Schulen’ leider nicht auszuschließen ist.“
Persönliche Diffamierungen von Lehrern folgten
Damit war der veröffentliche Teil dieser Auseinandersetzung zwischen Schule und Zeitung beendet, nicht aber von manchen Lehrern des Gymnasiums. Wie der Musikkritiker der Zeitung, Volker Wiltberger, zugleich Musiklehrer am Petrinum, mir und anderen in der Redaktion erzählte, wurde im Lehrerzimmer des Gymnasiums kolportiert, dass ich nur deshalb so schlecht über das Gymnasium geschrieben hätte, weil ich am Petrinum durchs Abitur gefallen sei. Diese Verunglimpfung hatte einen Haken. Sie war völlig erlogen. Ich war nie auf dem Gymnasium Petrinum und auch an keinem anderen in Dorsten. Ich kam erst 1980 nach Dorsten. Meine weit zurückliegende Schulzeit verbrachte ich in Bayern.
Dann erreichte die Redaktion ein inhaltlich verworrener Brief des Petrinum-Lehrers R. B. (Name bekannt) vom 23. Dezember 1994, der kritisierte, ich hätte nur deswegen den Artikel geschrieben, weil ich damit Geld verdiene und damit einen „privaten Zugewinn“ hätte. Er warf mir zudem Machenschaften zusammen mit dem Ursulinen-Gymnasium vor und kritisierte die „Dorstener Zeitung“, dass es dort keine Kenntnis in Sachen Pressefreiheit gebe und warf der Lokalredaktion „Schleudern von Steinen und Dreck“ vor. Beim Lesen dieses Briefes eines Gymnasiallehrers, der sich zudem auf jeden der drei eng beschriebenen Seiten mit mindestens zwei Straftatbeständen schuldig machte, rief ein irritierendes Kopfschütteln hervor, wenn man dann auch noch las: „Da ich eine weitere Beleuchtung dieses eigentlich seltenen Falles, die Schüler einer Schule als zukunftsversprechende Zielgruppen [als Zeitungsleser?] gründlich und kollektiv zu verärgern, durch die zuständigen Stellen für notwendig erachte, wird … eine Kopie der Bezirksregierung Münster zugehen.“ – Mit der vermutlichen Ablage dieses Briefes im Papierkorb endete die verworrene, irritierende und von Widersprüchen begleitete Sichtweise eines wichtigen Bildungsinstituts dieser Stadt auf einen Zeitungsartikel über eine Seminararbeit von zwei Dorstener Polizeistudenten.
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Bin erst jetzt beim Stöbern im Netz auf den Beitrag aus meiner Heimatstadt Dorsten gestoßen. Ein sehr schönes Beispiel dafür, dass es selbst 1994 tatsächlich noch Menschen gab, die die Abschaffung der Zensur nicht mitbekommen haben. Und dass Unterdrückung von Fakten keine wirklich gute Idee ist…