Von Wolf Stegemann
Sie schreibt Reportagen und Essays für die Wochenzeitung „Die Zeit“, die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) sowie Features für Rundfunksender. Auch Romane. Sie übersetzt Theaterstücke und Prosa aus dem Russischen. An der Volksbühne Berlin arbeitete sie 2008 mit bei der Inszenierung des Romans „Fuck Off, America“ von Edward Limonow. Als Reporterin reiste sie wiederholt nach Tschetschenien. Die ersten elf Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Dorsten. Zu ihrer Geburtsstadt hat Barbara Lehmann seit ihrem Wegzug als elfjährige Schülerin keine Beziehungen mehr, wohl aber Erinnerungen. Vermutlich besuchte sie die Agatha-Grundschule, woran sie sich aber nicht genau erinnert, doch an das Mädchengymnasium der Ursulinen schon, das sie anschließend besuchte. Schmunzelnd und augenzwinkernd erzählt sie, dass Cornelia Funke mit ihr in der Sexta war und sie diese nicht mochte, weil Cornelia genauso gut schreiben konnte wie sie. Den jungen Lehrer Günther Vonhoff, bei dem sie Deutsch hatte, mochte sie sehr. In ihn war sie als kleine Schülerin richtig verschossen.
Die Familie gründete auf dem Beerenkamp in Dorsten eine Kofferfabrik
Barbara Lehmanns Eltern stammten aus dem Osten, der Vater Karl Lehmann aus Neukirch in der Oberlausitz, die Mutter Christa Adloff aus dem thüringischen Tabarz. Die Familie des Vaters hatte in Sachsen eine Kofferfabrik und die der Mutter in Thüringen eine Gummifabrik. Sie waren großbürgerlich und wohlhabend. Als die DDR-Behörden die Familienunternehmen enteigneten, gingen sie nach Berlin und dann nach Essen, wo der Vater von Karl Lehmann, Walter Lehmann, 1949 eine Kofferfabrik gründete, in die dann ihr Vater einstieg. Er führte sie gemeinsam mit seinem Vater. Geldgeber war ein „sagenhaft“ vermögender Onkel ihres Vaters, der als stiller Teilhaber der Firma angehörte. 1954 heirateten die Eltern und verlegten 1955 die Kofferfabrik nach Dorsten. Im späteren Industriegelände „Auf dem Beerenkamp“ in der Feldmark pachteten sie ein Grundstück und neue Fabrikationshallen mit den damaligen Hausnummern 8-12. Sie lag in direkter Nachbarschaft der Dachpappenfabrik Dr. Kohl. „Rundum war Wiese“, erinnert sich Barbara Lehmann. In der Anfangszeit hatte das Unternehmen über 100 Arbeiter. Ihre Koffer wurden von Dorsten aus in die gesamte Bundesrepublik ausgeliefert. Die Lehmanns wohnten „in einem grünen Haus mit Vorgarten“ am Alten Postweg, wo die Tochter geboren wurde.
Eine gläserne Wand schob sich zwischen ihre Welt und die ihrer Eltern
In ihrem mit autobiografischen Zügen angereicherten Roman „Eine Liebe in Zeiten des Krieges“ lässt sie diese Dorstener Zeit ihrer Romanfigur Doro erleben:
„Damals. Nie mehr der Alte Postweg mit dem Milchmann, dem Garten, dem Birnbaum, den Spielen auf dem Hinterhof mit Andreas. Kurz vor dem Umzug (1968) musste ich ins Krankenhaus eingeliefert werden, wo mir der Blinddarm entfernt wurde. Nach dem Konkurs [bzw. Vergleich] seiner Firma arbeitete mein Vater als freier Handelsvertreter im Kölner Umland…“
Die Kofferfabrik musste 1968 die Produktion einstellen. Für die kleine Tochter war dies eine „Zeit der Hysterie und Tränen“. Dramatische Szenen spielten sich vor dem Kind ab. Die Mutter unternahm einen Suizid-Versuch. Im Dorstener Krankenhaus wurde ihr Magen ausgepumpt. Darüber wurde in der Familie nicht gesprochen. Eine „gläserne Wand schob sich unmerklich“ zwischen die kindliche Welt der Tochter und die Welt ihrer Eltern.
Freitod der Eltern nach etlichen Lebensbrüchen
Das Versagen des Vaters lag wohl daran, so Barbara Lehmann heute, dass er an seinen Lebensbrüchen litt: vier Jahre russische Gefangenschaft lagen hinter ihm, die Vertreibung aus der Heimat, keinen Sinn für Geschäftsführung, fehlende Visionen und ein Leben über alle Verhältnisse. Das führte schließlich nicht nur zum Zusammenbruch der Fabrik, sondern auch seines Lebens und dem seiner Frau, die ihr verschwenderisches Leben, das sie gewohnt war, nicht aufgeben konnte. Daher wählten Barbara Lehmanns Eltern 1997 – im 43. Jahr ihrer Ehe und knapp 30 Jahre nach ihrem Wegzug aus Dorsten – in einem Kölner Hotel, Zimmer 225, den Freitod. Sie setzten sich in eine Badewanne und ließen den Fön ins Wasser fallen. Einen ersten Versuch dieses Freitod hatte die Mutter telefonisch der Tochter ein halbes Jahr zuvor angekündigt: „Dein Vater und ich wollten uns umbringen, damit dir noch ein Erbe bleibt“, sagte sie. Die Welt der Tochter wurde, wie schon in der Kindheit, ein schwarzer Trichter, der sie in sich aufzusaugen schien, schrieb sie. Es gab natürlich kein Erbe. (Präziser: Die Tochter fühlte sich in die Enge getrieben und brach den Kontakt ab. Einen Tag vor ihrem Freitod setzten die Eltern einen Fremden als Erben ein. Der Nachlass war überschuldet. Ihre Eltern wurden in ihre Heimat überführt und liegen jetzt im Familiengrab im thüringischen Tabarz.
Studium der Theaterwissenschaften in München
Zurück ins Jahr 1968. Von Dorsten verzog die Familie ins Rheinland nach Wissersheim (Kreis Düren), dann nach Erftstadt nahe Köln. Der Vater fuhr von früh bis spät als Handelsvertreter für Koffer durchs Land. Endlich entkam Tochter Barbara ihren Eltern und studierte in München Theaterwissenschaft, später in Köln auch slavische Philologie. Sie wurde Journalistin und aufgrund ihrer Russischkenntnisse literarische Übersetzerin. Ihre Erlebnisse als Kind und Jugendliche im Elternhaus hatten sie geprägt. Entsprechend sind die journalistischen Themen, ihre Ansichten und literarischen Erkenntnisse, die immer wieder ihre Arbeit und ihr Leben beeinflussten und beeinflussen. Das unten angeführte Werksverzeichnis gibt darüber Auskunft.
Reportagen über Tschetschenien und literarische Übersetzungen
Als Reporterin in Krisengebieten, Dramaturgin im Theater, Kritikerin oder Moderatorin – Barbara Lehmann scheut nie die Extreme und bewegt sich immer zwischen den Fronten. Sie saß in den Theaterkellern Moskaus und holte von dort experimentelle Theatermacher nach Deutschland, sie arbeitete mit den unterschiedlichsten Regisseuren an den großen Bühnen in Köln, Stuttgart, am Berliner Schiller-Theater und Castorffs Volksbühne, sie übersetzte provokante Zeitgenossen wie Vladimir Sorokin und Eduard Limonow, aber auch die Stücke Anton Tschechows. Sie tauchte zu Recherchen in Moskaus künstlerischem Underground unter, sie verfolgte die Prozesse der kremlkritischen Oppositionellen, sie reiste für das Feuilleton der „Zeit“ bis an die Enden der Welt, die Kurilen und Kamtschatka, sie wagte sich auch immer wieder zu den Brennpunkten in ehemaligen Sowjetrepubliken wie die Ukraine oder Weißrussland sowie Serbien und Bosnien. Viermal war sie in Tschetschenien, hauste in den Ruinen, erlebte später den Wiederaufbau, sprach mit Freiheitskämpfern ebenso wie dem von Putin eingesetzten skandalumwitterten Präsidenten Ramsan Kadyrow. All das brachte ihr viel Anerkennung, aber auch Kritik ein. Doch das schreckt sie nicht. „Unter dem Buchtitel ,Eine Liebe in Zeiten des Krieges’ (erschienen 2015 bei Langen-Müller) verbirgt sich eine dramatische Reise durch die äußeren Kampfzonen, aber auch durch innere Abgründe von Schuld-, Einsamkeits- und Pflichtgefühl, bei der alle Sicherheiten und Schablonen westlicher Zivilisiertheit zu Bruch gehen. Dabei urteilt Barbara Lehmann über ihre Ich-Heldin stets messerscharf und ohne Rücksicht auf Verluste, besonders über die eigene Person“, so die FAZ.
Die Stadt auf das Jahr genau nach 50 Jahren wieder nähergebracht
Ihr Debütroman mischt Reportage, Autobiografie und Melodrama. Und sie schreibt bis in die Details der Ortsnamen hinein der Protagonistin Doro ihre eigene Familiengeschichte zu. Anderes wieder wird verfremdet. Zum Beispiel wird aus der Tabarzer Gummifabrik der Mutter die Kofferfabrik des Vaters. Auch die in dem weit entrückten Erlebnisfeld Dorsten, der Stadt, in der sie ihre Nicht-Kindheit in einem nicht einfachen Elternhaus erlebte. Jetzt, nach einem überraschenden Anruf des Verfassers aus Dorsten, wurde nach 50 Jahren Abstinenz ihre Erinnerung an die Stadt wieder belebt und ihr wieder nahegerückt. Barbara Lehmann freut sich, wie sie sagte, auf einen Besuch in ihrer Geburtstadt. Und hat auch schon einen neuen Roman in Arbeit, in dem sie ihre Kindheit in Dorsten ihrer Romanfigur erleben lässt. Gern würde sie ihn in DOrsten schreiben, weil dann die Erinnerungen so nah sind. Vielleicht als so genannte Stadtschreiberin?
Werke (Auswahl): „Eine Liebe in Zeiten des Krieges“, Roman; LangenMüller, München 2015. – Gespräch mit Peter Stein über seine russische Inszenierung der Orestie, in: Dagmar Hahn, Jochen Hahn: Die Orestie. Dokumentation der Inszenierung von Peter Stein in Moskau (1994), Alexander Verlag, , Berlin 1994. Übersetzungen: Vladimir Sorokon: „Telluria“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. – B. L. und 7 weitere als „Kollektiv Hammer und Nagel“. – Alina Vituchnovskaja: „Schwarze Ikone. Gedichte und Prosa“, aus dem Russischen ausgewählt, übertragen und mit einem Nachwort versehen von B. L. und Aleksej Khairetdinov, DuMont, Köln 2002. – Vladimir Sorokin: „Dostojevskij Trip. Krautsuppe, tiefgefroren. Zwei Stücke“, Verlag der Autoren, Frankfurt 2001. – Vladimir Sorokin: „Pelmeni. Hochzeitsreise. Zwei Stücke“, Verlag der Autoren, Frankfurt 1997. Literatur:
Irena Brežná: „Liebespost an Ramzan“, Eine Replik auf die Tschetschenienreportagen von Barbara Lehmann, in: Martik Malek, Anna Schor-Tschudnowskaja (Hrsg.): Europa im Tschetschenienkrieg. Zwischen politischer Ohnmacht und Gleichgültigkeit. Stuttgart 2008.
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Ich kann mich gut an die Eltern von Frau Barbara Lehmann in Dorsten erinnern. Sie kamen mehrmals zu meinem Vater Dr. Dr. Jos. Wiethoff, Noettenkamp 10, um Geschäftliches zu besprechen. Schlimm, diese menschliche Tragik.