5. Januar 2018. – Mit dem Beginn des Schuljahres 2018/19 sollen die beiden städtischen Hauptschulen und die städtische Realschule auslaufen und an ihre Stelle die neu zu gründende Sekundarschule mit dem Namen „Neue Schule Dorsten” treten. So wollen es Rat und Verwaltung der Stadt. Sie haben sich dabei leiten lassen von sinkenden Schülerzahlen für die auslaufenden Schulformen und von Kostenüberlegungen. Zugleich haben sie aber auch eine Entscheidung auf dem Feld der Pädagogik getroffen: denn als Grundlage der neuen Sekundarschule wurde das „Pädagogische Konzept“ eines der Öffentlichkeit namentlich nicht bekannten Arbeitskreises verabschiedet, das auf eine radikale Abkehr von den bisher geübten Unterrichtsformen hinausläuft. Ob den Entscheidungsträgern das bewusst war, bleibt dahin gestellt. Öffentlich diskutiert wurde dieses grundlegende Element des Konzepts nicht und auch die Eltern wurden nicht beteiligt.
Die Informationsbroschüre „Neue Schule Dorsten“, welche für die Eltern entwickelt wurde, die demnächst vor der Schulwahl für ihr Kind stehen, hält sich dazu bedeckt. Die zentralen Textpasssagen sind hier zusammengefasst:
„Erkenntnisse der neuesten pädagogischen Forschung und der Gehirnforschung, wie Aneignungsprozesse gelingen, sind Grundlage bei der Gestaltung des Unterrichts… Jeder Lehrer arbeitet in seinem Fach mit seiner Lerngruppe nach wissenschaftlich fundierten Methoden… Damit das Fordern und Fördern optimal gelingen kann, werden die Lernzeiten innerhalb der sogenannten Lernstationen organisiert… Durch die Gestaltung der Räume mit speziellen Tischen, medialer und digitaler Ausstattung wird das Lernen für jeden einzelnen Schüler eröffnet. All dies wird eingerichtet, um vom Lehrer angeleitetes, zunehmend selbstgesteuertes Lernen zu ermöglichen.“
Da ist es: das selbstgesteuerte Lernen, im Schrifttum auch als eigenverantwortliches oder autonomes Lernen bezeichnet.
Was autonomes Lernen bedeutet
Nach diesem Konzept ist der Schüler selbst dafür verantwortlich, wie er lernt, was er lernt, wie schnell er lernt und welche Lernfortschritte er macht. Der Lehrer wird zum Lernbegleiter, der den Fortschritt des Einzelnen beobachtet und möglichst wenig eingreift. Er fördert den Schüler individuell durch die Lernmaterialien, die er zur Verfügung und dem Schüler zur Auswahl stellt. Dieser sucht sich selbst heraus, was er bearbeiten will. Der Schüler entscheidet nach seinen eigenen Prioritäten und Vorlieben. Hier wird deutlich: individuelle Förderung des Schülers und Individualisierung des Lernprozesses sind ein Begriffspaar, sie sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille, sie sind untrennbar miteinander verbunden. Mit diesem pädagogischen Konzept verabschiedet sich die Sekundarschule von den herkömmlichen Unterrichtsformen, die gemeinhin unter dem Begriff des Frontalunterrichts subsumiert werden. Diese Abkehr schlägt sich auch in einer eigenen Sprache nieder: Lernhaus (für Schule), Lernende (für Schüler), Lernzeit (für Schulstunde), Lerngruppe (für Schulklasse), Lernbüro (für Klassenraum), Lernen in Lernstationen, Lernpfad, Logbuch undsoweiter. Die althergebrachte Schulklasse gibt es nicht mehr, auch nicht mehr den Lehrer, – er wird nur noch als Lernbegleiter gebraucht -, und auch nicht mehr das Gespräch zwischen Lehrer und der Klasse. In den Schulen, die das autonome Lernen konsequent umsetzen, gibt es im „Lernbüro“ keinen Sitz- oder Arbeitsplatz mehr für den Lernbegleiter und auch keine Schultafel.
Informationsbroschüre verschweigt Tragweite des pädagogischen Konzepts
Man muss die Informationsbroschüre zur „Neuen Schule Dorsten“ schon sehr genau lesen, um darauf aufmerksam zu werden, dass es im Kern um autonomes Lernen geht. Einzelheiten des pädagogischen Konzepts werden nicht ausgebreitet. Vielleicht fürchten die Autoren, dass nicht alle Eltern die „pädagogische Wunderdroge“ des autonomen Lernens für ihr Kind passend finden. Ganz im Gegenteil: In der Informationsbroschüre findet sich ein Foto, das unverkennbar dem klassischen Frontalunterrricht zuzuordnen ist: Schüler in Reihen sitzend, alle mit dem gleichen Buch vor sich und den Blick auf den vor der Klasse stehenden Lehrer gerichtet – das Gegenbild zum autonomen Lernen. Das Foto suggeriert: an der Sekundarschule ist alles wie früher, so wie die Eltern es noch aus eigener Anschauung kennen. Wie konnte es dieses Foto aus der heilen Welt des Frontalunterrichts in die Werbebroschüre für eine Schule des autonomen Lernens schaffen, in der alles anders ist?
Individualisierung des Lernens nach Niveaustufen
In einer der Informationsveranstaltungen, die das Schulamt für die Eltern organisierte, kam ein Aspekt zur Sprache, dessen Bedeutung für das Konstrukt Sekundarschule von den anwesenden Eltern nicht wirklich wahrgenommen wurde. Eine Mutter wollte wissen, wie man denn damit umgehe, dass demnächst Schüler, die bisher entsprechend ihrer Lernbegabung in die Hauptschule oder in die Realschule gegangen seien, nun in einer Klasse versammelt sind. Dazu wurde eine Matrix mit fünf Niveaustufen, gegliedert nach Fächern, präsentiert. Die Eltern erfahren, dass die Kinder zu Beginn des Schuljahres einer Niveaustufe zugeordnet werden. Der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben orientiert sich an den Niveaustufen: niedrige Stufe geringe Anforderungen, höhere Stufe höhere Anforderungen. Das System sei nicht starr, sondern durchlässig. Wenn ein Schüler bessere Leistungen zeige, steige er in eine höhere Niveaustufe auf und umgekehrt. An dieser Stelle wäre eine Erklärung fällig gewesen, dass die Zuordnung der Schüler zu einer Niveaustufe der Einstieg in die Individualisierung des Lernens ist und deren Voraussetzung. Aber dazu kam es nicht.
Raumplanung spricht für konsequente Umsetzung des autonomen Lernens
Abstufungen in der Umsetzung des Konzepts des autonomen Lernens sind denkbar. Man kann der Vereinzelung des Lernens begegnen durch die Bildung von Lerngruppen, bestehend aus Schülern mit annähernd gleicher Lernbegabung. Das setzt aber voraus, dass die Bandbreite der Lernbegabungen der Schüler in einer Klasse nicht zu groß gerät. Das pädagogische Konzept für die „Neue Schule Dorsten“ legt sich dazu nicht wirklich fest. Ausführlich behandelt wird die „Binnendifferenzierung“ in den Jahrgangsstufen 5 und 6.
Binnendifferenzierung innerhalb einer Klasse meint nichts anderes als die Individualisierung des Lernprozesses nach den zugewiesenen Niveaustufen. Wo die Bandbreite der Lernbegabungen gering ist, kann man Gruppen bilden oder im Extremfall sogar ganz auf Differenzierung innerhalb einer Klasse verzichten. Eine größere Heterogenität der Schülerschaft ist allerdings durch die Zusammenführung der Schüler vorgezeichnet, die bisher die Haupt- und Realschule besuchten. Sie wird gesteigert durch die Inklusion von Schülern mit Lernbehinderung und darüber hinaus durch die wachsende Zahl von Schülern mit Migrationshintergrund. Im Pädagogischen Konzept ist die Rede sowohl vom Lernen in der Gruppe als auch von Einzelarbeit und von selbständigem Lernen. Die Raumplanung für das Lernbüro (Klassenzimmer) spricht allerdings für ein Übergewicht des individualisierten Lernens. Auch die Entscheidung des Rates, für die Umgestaltung der Räume einen Millionenbetrag zur Verfügung zu stellen, lässt erwarten, dass man das verabschiedete pädagogische Konzept konsequent umsetzen will.
„Schraip widu schprichsd“ – Siegeszug einer „modernen“ Methode
Um die Tragweite des Umbruchs an den Schulen einschätzen zu können, ist es hilfreich, etwas über die Ursprünge der „modernen“ Pädagogik zu wissen. Das autonome Lernen wird gerne in die Nähe einer wissenschaftlichen Errungenschaft gebracht, aber es sind nicht Wissenschaftler, sondern zwei Praktiker, die diese Entwicklung maßgeblich in Gang gesetzt haben: Jürgen Reichen und Peter Fratton, zwei Schweizer.
Jürgen Reichen (1939 – 2009) war Grundschullehrer. Sein Wirken gründet auf der Annahme, dass ein Kind beim Eintritt in die Grundschule von innerer Neugier motiviert ist und selbständig Interesse für Lerninhalte entwickelt oder schon mitbringt. Vertraut eine Lehrperson auf diese Grundvoraussetzung, so sind die Kinder nicht an das Abarbeiten von Lernschritten und das lehrergesteuerte Vorgehen gebunden. Vielmehr können die Kinder gemäß ihren eigenen Interessen und Strategien in ihrem individuellen Tempo miteinander und voneinander lernen. Der Lehrende muss pädagogisches Verständnis vor allem in der Anregung und in der Begleitung der Lernenden zeigen. Dabei kommt es besonders auf die Auswahl und Zusammenstellung der Materialien an, die durch ein vielfältiges Lernangebot die Kinder in ihrer Selbständigkeit bei der Auswahl von Lerninhalten fördern und stärken sollen. Diese Annahme wird durch Reichens Glaubenssatz ergänzt, dass Kinder umso mehr lernen, je weniger sie belehrt werden. Es ging ihm um selbständiges Arbeiten, Freude am Lernen und Individualisierung. Auf dieser Grundlage entwickelte er seine Methode des „Lesen durch Schreiben“, heute besser bekannt als „Schreiben nach Gehör“, und praktizierte sie selbst an Grundschulen. Seine Methode fand zunehmend Anklang und setzte sich schließlich deutschlandweit durch. Seit dem Schuljahr 2001/2002 durfte in Bayern die Schriftsprache in den ersten beiden Schuljahren durch „Schreiben nach Gehör“ gelehrt werden. Andere Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen zogen nach.
Peter Fratton: Bringe mir nichts bei, Erkläre mir nicht . . .
Fast zeitgleich entwickelte Peter Fratton, auch er Grundschullehrer, sein pädagogisches Konzept, das in gewisser Weise komplementär ist zu den Ideen von Reichen. Fratton sagt: Lernen ist eine Existenzform. Wenn man den Menschen lässt, lernt er von alleine. Die Umgebung hat dabei einen entscheidenden Einfluss. Sie motiviert die Menschen zum Lernen. Daraus leitet er „Postulate“ ab: Jede Umgebung ist menschlich-emotional, architektonisch, materiell so zu gestalten, dass autonomes Lernen „geschieht“. Dazu gilt es autonome Lernformen zu implementieren. Das bedeutet in erster Linie, dass sich der Lehrer zurücknehmen muss. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, die Umgebung zu gestalten, die Ziele kindgerecht zu formulieren und die Materialien für das zielorientierte Lernen und für das entdeckende Lernen bereit zu stellen. Die Rolle des Lehrenden reduziert sich auf die „unaufdringliche Begleitung“ der Lernenden. Alles andere behindert den Lernenden auf seinem Weg des selbstverantwortlichen Lernens. So ist es auf seiner Homepage nachzulesen wie auch seine pädagogischen Urbitten. Auch dieses Konzept des autonomen Lernens fand Anhänger und verbreitete sich erst langsam, später trotz Widerständen immer schneller. 2012 entschied sich das Land Baden-Württemberg, im Zusammenhang mit der Einführung des autonomen Lernens an den neu gegründeten Gemeinschaftschulen Peter Fratton als Berater zu verpflichten.
Der Haken: Werden die vom Lehrplan vorgegebenen Lernziele erreicht?
Damit sind die wesentlichen Grundlagen des autonomen Lernens umrissen, die zugleich auch Bestandteil des pädagogischen Konzepts der künftigen Sekundarschule Dorsten sind. Mit diesem Wissen lässt sich besser verstehen, warum die Millioneninvestitionen in die räumliche Gestaltung und die materielle Ausstattung so wichtig sind. Allerdings tut sich bei Anwendung der Methode des autonomen Lernens ein kaum zu überwindendes Problem auf: Wie stellt man sicher, dass die Schüler, die ja nach ihren eigenen Vorlieben und Interessen und ohne Druck von außen lernen sollen, die vom Bildungssystem vorgegebenen Lernziele erreichen?
Hier tut sich ein Widerspruch auf zwischen den Prinzipien des autonomen Lernens und der Erwartung, dass die Schüler in eigener Entscheidung und ohne übermäßige Gängelei durch den Lernbegleiter genau das lernen, was der Lehrplan von ihnen verlangt. Die Antwort ist: Das kann eben nicht sichergestellt werden. Die nahe liegende Lösung ist: man verzichtet auf die Erfüllung der vorgegebenen Lernziele. Fehler werden nicht mehr korrigiert, das würde die Freude des Schülers am Lernen beeinträchtigen und seinen eigenverantwortlichen Lernprozess behindern. Und üben, bis man einen Lerngegenstand sicher beherrscht, ist überhaupt nicht cool und verdirbt dem Lernenden nur den Spaß. Also verlangt man es nicht mehr. Die Folgen dieser Entgrenzung treten immer klarer zutage. So kommt es, dass viele Schüler am Ende der Grundschulzeit Schwächen im Schreiben und Lesen aufweisen. Dies wird mit Reichens Methode des „Lesen durch Schreiben“ in Verbindung gebracht. In Fachkreisen und in den Medien wird Kritik laut. Von einer Ideologie der Erleichterungspädagogik und der Ichbezogenheit ist die Rede. Inzwischen gilt Reichens Konzept als gescheitert. Reichen hatte sich in Hamburg bei der Einführung des „Lesen durch Schreiben“ persönlich engagiert. Ausgerechnet Hamburg verbot (!) als erstes Bundesland 2013 die weitere Anwendung der Methode, andere folgten und die verbliebenen Bundesländer prüfen inzwischen, ob sie denselben Weg gehen. Und Peter Fratton? Das Land Baden-Württemberg trennte sich 2013 wieder von seinem Berater, nur ein Jahr nach dem Beginn der Zusammenarbeit. Das heißt keineswegs, dass sich damit auch das Konzept des autonomen Lernens erledigt hat. Aber seither ist eine heftige Auseinandersetzung darum entbrannt.
Väter des autonomen Lernens sind gescheitert – aber die Schule haben sie verändert
Ungeachtet der Kritik von Wissenschaftlern, Lehrern und Eltern erlebt das Konzept des autonomen Lernens nach Fratton seit einigen Jahren einen ungeahnten Aufschwung. Das trifft besonders auf die Sekundarschule zu und folgt einer eigenen Logik. Unter dem Druck sinkender Schülerzahlen und infolge des daraus entstehenden Kostendrucks werden seit Beginn der 2010er Jahren zunehmend Haupt- und Realschulen in einer neuen Schulform, der Sekundarschule, zusammengeführt. Zwangsläufig erhöht sich damit die Bandbreite der Lernbegabungen an der neuen Schule. Damit gerät aber das bisher überwiegend praktizierte Konzept des Frontalunterrichts, auch wenn es sich inzwischen in Richtung der individuellen Förderung weiterentwickelt hat, immer mehr ins Abseits. Der Frontalunterricht funktioniert umso besser je homogener die Schülerschaft ist. Die Zusammenlegung von Schulformen geht aber genau in die gegenteilige Richtung. Das Konzept des autonomen Lernens scheint eine Antwort darauf zu geben, wie Lernen unter den Bedingungen einer größeren Heterogenität der Schüler gelingen kann.
Man kann den Zusammenhang auch umdrehen: erst das Vorhandensein eines pädagogischen Konzepts für eine Schülerschaft von größerer Heterogenität hat die Zusammenführung von Schulformen ermöglicht. Nicht die Überzeugung, dass autonomes Lernen das beste aller pädagogischen Konzepte für das schulische Lernen ist, war für dessen Erfolg maßgebend. Der Grund ist vielmehr die Herausforderung, auf die wachsende Heterogenität der Schüler an den neuen Schulen eine pädagogische Antwort zu finden. Dazu ist noch anzumerken, dass die wachsende Heterogenität nicht gottgegeben ist, sondern eine Folge politischer Entscheidungen. Letzten Endes ist der Druck, bei sinkenden Schülerzahlen die Kosten zu senken, der Treiber für das Vordringen des autonomen Lernens. Mit den unzähligen Neugründungen von Gemeinschafts- und Sekundarschulen hat das Konzept jedenfalls immer mehr Anhänger gefunden und nach dieser Logik ist das autonome Lernen auch in das pädagogische Konzept für die „Neue Schule Dorsten“ hinein gelangt.
Methode bleibt umstritten
Das alles ändert nichts daran: Die Methode des autonomen Lernens bleibt, was sie von Beginn an war: umstritten. Wie weit sie im Sekundarbereich inzwischen etabliert ist, darüber gibt es keinen Überblick. Ob sich das autonome Lernen langfristig durchsetzt, ist aber längst nicht ausgemacht. Das hängt ohne Zweifel davon ab, ob das Leistungsniveau der bisherigen Haupt- und Realschule gehalten werden kann. Das Beispiel „Lesen durch Schreiben“ zeigt, wie ein als „modern“ gefeiertes pädagogisches Konzept in der Konfrontation mit der Wirklichkeit unversehens scheitern kann.