Von Wolf Stegemann
Vergleiche hinken fast immer, sagt der Volksmund. Vergleicht man dennoch die „Flüchtlingswelle“ von 2015 mit der von vor 215 Jahren, die französische Asylanten und Exilanten nach Westfalen und auch nach Dorsten brachte, dann zwängen sich wohl Parallelen auf, wenngleich es Ende der 18. Jahrhunderts meist Adelige, Geistliche und andere Ordensangehörige waren, die vor dem Schafott der Revolutionäre flüchteten. Die französische Nationalversammlung komplettierte innerhalb weniger Monate die Verfolgungsgesetze, wonach die Emigranten in Ewigkeit verbannt, bei Rückkehr mit der Todesstrafe bedroht waren (1772) und die Emigration in Kriegszeiten ein Verbrechen war, das mit der Todesstrafe geahndet wurde (1793). Zugleich wurde eine Liste von über 30.000 Emigranten veröffentlicht. Jede Hilfe für sie und sogar der Briefverkehr zogen die Todesstrafe nach sich. Etliche der Emigranten kamen auch nach Dorsten. In der Chronik Terlunen steht darüber:
„Emigranten aus Frankreich und Brabant flüchteten hier durch. Mehrere hielten sich hier für eine geraume Zeit auf und brachten mit ihrem großen Verzehr viel Geld in Umlauf.“
Kölner Kurfürst ordnete die Ausweisung der französischen Emigranten an
Die Ratsprotokolle beschäftigen sich vornehmlich mit den Emigranten der Jahre 1793 und 1794. Daraus lässt sich schließen, dass es in diesen Jahren viele Emigranten in Dorsten gegeben haben muss. Allerdings verfügte der Kölner Kurfürst als Landesherr schon 1792 die Ausweisung der Emigranten, weil sie zum einen Grund für die Bedrohung durch die französische Revolutionsarmee boten und zum andern viele von ihnen mittellos waren und das Dorstener Stadtsäckel belasteten. Doch gaben sich die Emigranten auf Grund dieser Ausweisungsverfügung als „Brabanten“ aus und nicht als Franzosen. Das hatte zur Folge, dass eben viele Franzosen als Brabanter ins Rheinland und nach Westfalen strömten. Schließlich erinnerte der Kurfürst den Magistrat der Stadt Dorsten Anfang Januar 1793 an die Ausweisung mit den Worten, „die sich hier unter dem erborgten Namen Brabänder aufhaltenden Franzosen sofort aus der Stadt zu weisen“. Nach den Ausweispapieren gefragt, zeigten sie fast alle einen in Köln am 15. Dezember 1792 ausgestellten Pass vor, der sie als von Köln herkommend bezeichnete. Auch dort waren sie als Franzosen vertrieben worden. Die Namen der Emigranten sind bekannt. Nach Ausweis des Protokolls vom 16. Januar 1793 waren dies: Claudius Anton de Broyes d’Antry mit Frau, zwei Kindern, einem Vetter und einem Diener; Ludwig Bonville; Josef Dominic Thionville; Hieronym. Joh. Massigny; Peter Paul Legoir; Adam Ludwig Marie de Origny-Dagny; Adam Claudius de Origny-Dagny; Joh. Hulgais; Msr. de la Haye und Bruder; Armand de l’Espinay; Charles Pierre Augin de Cremies mit Vetter und Sohn; Beaumont; die Familie la Motte mit acht Personen, Dr. med. Bernier und Alexandre Sumack.
Hochgestellte adelige Asylbewerber in der Stadt – aber auch Handwerker
Msr. de la Haye erklärte sich offen als Franzose und wollte wieder abreisen, sobald sein kranker Bruder wieder genesen wäre. Da Mrs. Beaumont erkrankt war, erklärte auch er schriftlich, Franzose zu sein. 1794 kam Graf les Maisons mit Familie und der Marquis de Saintgillis nach Dorsten. Im städtischen Protokoll ist nachzulesen, dass sich aber viel mehr Franzosen „eingeschlichen“ hätten. Im Oktober 1794 ließ sich Kardinal Montmorency mit Angehörigen in Dorsten nieder. Der Magistrat berichtete am 7. November 1794 an den Vestischen Statthalter, dass nicht alle Emigranten ausfindig gemacht werden können. Dies kann als Beweis dafür gewertet werden, dass trotz Ausweisungsverfügung schonend mit den Flüchtlingen umgegangen wurde.
Französische Geistliche hatten keine Probleme, im Erzbistum aufgenommen zu werden. Erst als etliche Adelige sich deshalb geistliche Tracht anlegten, forderte am 2. November 1794 der Statthalter den Magistrat auf, nur solche Pfarrer in der Stadt zu dulden, die einen kurfürstlichen Erlaubnisschein vorzeigen könnten. Etliche der Emigranten schützten Krankheiten vor, um nicht ausgewiesen zu werden. Daraufhin mussten sie innerhalb von 14 Tagen ärztliche Atteste vorlegen. Als dies ausblieb, erfolgten weitere kurfürstliche Ausweisungsdekrete.
Bürgermeister befürchtete Brände durch „angebrachte Ofenröhren“
Als die Stadt Dorsten die Ausweisung vollziehen wollte, beschwerten sich etliche der Emigranten beim Vestischen Statthalter. Um die Beschwerden dem Kurfürsten vorlegen zu können, forderte dieser Berichte an, wie sich denn die Franzosen in der Stadt benehmen würden. Da diese nicht günstig ausfielen, erteilte der Kurfürst am 23. Mai 1793 dem Stastrat die Weisung, dass „den dahier sich aufhaltenden Franzosen, weil sie durch ihr unehrbietsames Betragen in der Kirche allgemeines Ärgernis verursachten, viele, ja die mehrsten derselben die österlichen Sacramente nicht empfangen hätten und folglich zu befürchten wäre, dass ein solches Beispiel mehrere Leute verführen könnte, […] die ihnen ertheilte Erlaubnis, sich in kurfürstlichen Landen und hiesiger Stadt aufhalten zu dürfen, zuverlässig wieder eingezogen werden sollte.“
Allerdings fanden dennoch Gesuche um Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis stets beim Kurfürsten gnädiges Gehör. Dem Grafen von Maisons und dem Marquis de Saintgillis wurde die Erlaubnis zum Aufenthalt in Dorsten am 5. Juli 1794 erteilt und im Oktober durften alle schon seit 1793 hier wohnenden Franzosen in Dorsten bleiben. 1793 wohnten 25 Emigranten in der Stadt, ein Jahr später 50, vornehmlich in Dorstener Familien. Im November 1794 stellte der Bürgermeister den Antrag, „dass bei der jetzigen Vielheit der Franzosen und da sie ganze Häuser bewohnen, wo keine Aufsicht von Bürgern ist, eine Visitation vorgenommen werde, um zu erfahren, wo die Ofenröhren gefährlich angebracht wären“.
Goethe mitten in Dorsten und im französischen Flüchtlingsgeschehen
In all dem französischen Flüchtlinggeschehen, das Straßen verstopfte und Hotels udn Wirtschaften füllten, steckte Johann Wolfgang von Goethe fest, der am 6. Dezember 1792 von Frankreich kommend über Düsseldorf und Dorsten nach Münster reiste, dort erst einmal die Nacht in einem von Franzosen überfüllten Hotel die Nacht sitzend auf einem Stuhl verbringen musste. In Dorsten saß er moch gemütlich am Markt und trank ein Glas Rotwein, auf das eine im Jahr 2000 angebrachte Bronzetafel hinweist.
Der Graf betrieb in Dorsten ein Geschäft – alles Weiteres unbekannt
Der Graf de Broyes d’Antry entschloss sich, von der Not gezwungen, 1796 in Dorsten ein kleines Geschäft zu eröffnen, um das Dorstener Bürgerrecht zu bitten und der Kaufgilde beizutreten. Von ihm heißt es noch 1799 im Protokollbuch des Magistrats, dass „er hierorts einen kleinen Handel treibe und davon sich und seine Familie kümmerlich ernähre“. – Was aus ihm und seiner Familie geworden ist, darüber gibt es keine Hinweise. Dieses nebenstehende Dokument bescheinigt den Aufenthalt zweier französischer Emigranten und einer Magd in Rhade: „Nachdem sie 9 Monate bey Henr. Köster in Kost gegangen, und das ihrige verzehrt hatten; hat ihnen der Schulte zu Rhade einen Speicher eingeräumet, worinnen sie von Kreutern, von dem, was sie aus einem Gärtchen, den sie auf des Schulten Hofe angelegt haben, ziehen, und was ihnen gutherzige Seelen mitheilen, bis hiehin zu Rhade in ihrer eigenen Haushaltung leben.“
Pierre-Hippolyte-L. Paillot bekam Asyl und führte Tagebuch
Einer der Emigranten war kein Adeliger oder ein hochgestellter Bürger, sondern ein monarchistisch gesinnter Handwerker namens Pierre-Hippolyte-L. Paillot. Ihn überraschte die Französische Revolution in dem kleinen Städtchen Conde im Hennegau. Er war gerade 32 Jahre alt, als er über Geilenkirchen und Jülich nach Düsseldorf floh. Was er auf seiner Flucht erlebt und gesehen hatte, trug er in sein Tagebuch ein, von dem eine zeitgenössische Übersetzung im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf liegt. Am 24. September 1789 machte er sich von Düsseldorf aus mit Freunden und Familie auf den Weg nach Dorsten, wo er Dank der Hilfe eines nicht genannten Geistlichen Unterkunft fand. Dieser Dorstener Pfarrer war früher Lehrer an der Schule in Tournai. Pfarrer an St. Agatha waren damals Wendelin Jakob Schieffer (bis 1791), und danach Joseph Deffte bis 1839. Später vermittelte ein anderer Dorstener, ein der französischen Sprache kundiger Perückenmeister, ihm eine andere Wohnung. Darüber notierte er in sein Tagebuch: „Sie bestand allerdings nur aus einem großen Zimmer, das nicht sehr sauber war. Auf die Schnelle sahen wir uns die Stadt an, die von sehr alten Türmen und Verteidigungsanlagen umgeben ist und durch welche die Lippe fließt.“
„Geschlechtstrieb zu früh entwickelt und in Gärung gebracht“
Er verbrachte die Zeit vom 24. September bis 2. November 1789 in Dorsten. Über seine Erlebnisse und das Gesehene schrieb er Tagebuch. Eine zeitgenössische Abschrift ist im Landesarchiv Düsseldorf erhalten. Darin beschreibt er auch seinen Aufenthalt in Dorsten und charakterisiert u. a. die Lembecker Bauern, die in seiner Betrachtung nicht gut wegkommen. Denn bevor Pierre-Hippolyte-L. Paillot die Flucht über Kirchhellen fortsetzte, sah er sich im Lembecker Raum näher um und schrieb in sein Tagebuch:
„In Rücksicht der Sitten stehet der Bauer hier vor dem Landmanne in anderen Gegenden Deutschlands sehr zurück. Lebt er isoliert, entfernt von Städten und Ämtern […], sind die rauen Ecken seines Geistes durch das Militär nicht abgeschliffen, so hat seine Plumpheit und Grobheit den höchsten Grad erreicht. Eine höchst schmutzige und säuische Lebensart ist ihm zur Natur geworden. Er lebt mit Schweinen, Gänsen und Hühnern auf verschlossenen Stuben, die selten gereinigt werden […]. Die Menschen leben und sterben in ihrem eigenen Unrat. Daher dann die häufigen Anfälle von Dumpf- und Faulfieber und anderen Krankheiten […]. Durch die eingewurzelte Vertraulichkeit beider Geschlechter und die schamlose Unbefangenheit, womit auch die Eheleute von Dingen sprechen, die kein Ohr des Jünglings oder der Jungfrau hören sollte, wird unter dem Volke der Geschlechtstrieb zu früh entwickelt und in Gärung gebracht.“
In und um Lembeck: Trunksucht ein weit verbreitetes Laster
Weiter schrieb Paillot, dass der unbegüterte Bauer mit seinem Weibe und seinen Kindern und oft mit dem Gesinde in einem Bett schlafe. Außerdem sei die Trunksucht ein weit verbreitetes Laster.
„Er ist misstrauisch gegen neue Entdeckungen, Kunstgriffe, ökonomische Vorteile und vorzüglich gegen Vorschläge, welche Verbesserungen des öffentlichen Gottesdienstes und des Schulwesens zum Zwecke haben, und er erkennt die Kurzsichtigkeit und Eingeschränktheit seines Verstandes erst dann, wenn ihm die nützlichen Folgen sonnenklar in die Augen leuchten.“
Am 3. November 1789 kehrte er in seine Heimatstadt zurück. In sein Tagebuch schrieb er: „Möge uns der liebe Gott vor weiteren Schicksalsschlägen bewahren. Amen!“ Gott tat dies nicht. Paillot musste noch zweimal das „harte Brot des Exils essen“. Er starb 1815 in seiner Heimatstadt Conde.
Vor dem Dorstener Bürgermeister wurden auch Ehen geschlossen
Das nebenstehende Dokument ist die dritte Seite eines Heiratsvertrags zweier französischer Emigranten, Charles Guislain Paul Armand de la Woestyne und Marie Louise Catherine Blain, der 1799 vor dem Bürgermeister von Dorsten geschlossen worden war und mit den Unterschriften des Dorstener Bürgermeisters Peus und Zumbusch versehen ist (Archiv der Stadt Dorsten). Im Dorstener Stadtarchiv wird ein Vertrag von zwei französischen Emigranten aufbewahrt (Bestand A, B, Nr. 6322). Das Ehepaar Charles Guislain Paul Armand, Marquis de la Woestyne et de Becelaer und Marie Louise Catharine Blain regelten am 19. November 1799 vor dem Bürgermeister und dem Rat der Stadt ihre Besitzverhältnisse. Er überschrieb seiner Frau lebenslanges Wohn- und Nutzungsrecht auf seinen Schlössern in Walincourt und in Becelaer. Der Ehemann, 1759 in Brüssel geboren, war Dragonerobrist und Capitaine der Garde des Herzogs von Orléans. Seine Eltern wurden durch ein Revolutionstribunal hingerichtet, weil sie ihren Söhnen zur Flucht verhalfen. Charles konnte mit seiner Familie nach Frankreich zurückkehren (dieser Absatz gekürzt entnommen: Heike Biskup „Marquis de Vauchaussade … Schicksale französischer Emigranten zwischen Emscher und Lippe“ in „Franken und Franzosen im Vest 1773 bis 1813“).
Amnestie in Frankreich beendete die Emigration der Flüchtlinge
1802 ging die Leidenszeit für viele Emigranten zu Ende. Durch „senatus consulte“ erfolgte eine Amnestie – „inspiriert aus Gnade mit gerechten Bedingungen, beruhigend für die öffentliche Sicherheit und damit dem nationalen Interesse verbunden“. Auch das konfiszierte Vermögen, über das noch nicht verfügt worden war, konnte bei Heimkehr zurückerlangt werden. Nicht alle haben davon Gebrauch gemacht. Zahlreiche ältere Emigranten sind im Münsterland und um Vest geblieben, hier gestorben und bestattet worden (dieser Absatz aus Hans Udo Thormann „Kurköln – Aufklärung, französische Revolution und Emigration“ in „Franken und Franzosen im Vest 1773 bis 1813“).
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