Von Wolf Stegemann
Nach dem allgemeinen preußischen Landrecht von 1794 bestand seit dieser Zeit in Preußen Schulpflicht für Kinder, die im 5. Lebensjahr standen oder es bereits zurückgelegt hatten. Als die Herrlichkeit Lembeck mit dem Kreis Recklinghausen und Münster 1815 zum Königreich Preußen kam, galt auch in den Herrlichkeitsdörfern die Schulpflicht. In Rhade unterrichtete bis dahin der Ackersmann Köster in einem kleinen Speicher mit Platz für 30 Kinder. 1780 wurde an der Nordseite der Kirche eine neue Schule für 50 Kinder gebaut. Der Fußboden bestand jetzt nicht mehr aus festgetretenem Lehm, sondern aus Brettern. Unterricht erteilte Bauer Quicksterdt. 1836 wurde an diesem Standort eine neue Schule gebaut, die Raum für 120 Kinder bot.
Johannes Tinnefeld zuerst in Rhade, dann Lehrer in Wattenscheid
Die Schulmeister-Ära Tinnefeld begann 1802 und währte über 100 Jahre. Das war damals nicht ungewöhnlich: In Raesfeld begründeten die Spangemachers ihre Schul-Ära. Der erste Träger des Namens, Heinrich Tinnefeld, kam im Zuge der Overbergschen Schulreform im Fürstentum Münster nach Rhade. Er war Absolvent der Normalschule, die unter Leitung von Overberg stand. Heinrich Tinnefeld blieb bis 1835 im Schuldienst. Ihm folgte bis 1877 sein Sohn Albert Tinnefeld, der das Lehrerseminar in Büren absolvierte und 42 Jahre in Rhade unterrichtete. Von 1875 bis 1877 wurde er von dessen Sohn Johann Tinnefeld als Substitut unterstützt, der später Lehrer in Wattenscheid wurde. Nach Johann Tinnefeld wurde dessen Sohn Bernhard Tinnefeld Lehrer, der es 39 Jahre lang bis 1916 blieb.
In Rhade lagerten 1814 russische Soldaten im Schnee
Die Ära Tinnefeld umfasst einen Zeitraum der starken politischen Veränderungen: Auflösung des geistlichen Fürstentums Münster, die Kriege mit und gegen Napoleon, der Anschluss an das Königreich Preußen, die Reichsgründung 1871, der Aufstieg des wilhelminischen Preußen sowie der Erste Weltkrieg bis 1916. Heinrich Tinnefeld begann seine Lehrtätigkeit in Rhade zunächst unter wechselnden Obrigkeiten, bis Rhade 1815 endgültig preußisch wurde. Der spätere Lehrer Bernhard Tinnefeld beschrieb diese vorpreußische Zeit rückblickend in der Schulchronik:
„1814 […] waren die Russen, die mit Deutschen im Bunde kämpften, auch teilweise einige Zeit in Rhade im Quartier, diese haben sich nach der Aussage alter Leute nicht sehr nobel benommen. Es war zur Winterzeit; man sagt noch heute ,Der russische Winter’. Die Soldaten lagerten sich vielfach auf dem Kirchhof bei der Kirche im Schnee; Sauerkraut, roh aus dem Fasse und Wutki (Branntwein, Wodka) soll ihr Lieblingsgericht gewesen sein. Mein seliger Vater erzählte aus dieser Zeit folgendes: Ein russischer Offizier bestieg in der Nähe der Kirche sein Pferd, ein alter Onkel Matz musste ihm beim Aufsteigen den Steigbügel halten. Da wollte das Unglück, dass der Riemen am Steigbügel riss. Darüber war der Russe aufgebracht und gebrauchte den Onkel als Zornableiter. Er nahm seine Reitpeitsche und schlug frisch auf den Onkel los. Der Onkel suchte sich zu schützen und lief im Kreis um das Pferd, der Russe tat desgleichen und verabreichte ihm eine Tracht Prügel.“
Ein Lehrer wie Heinrich Tinnefeld hatte genug damit zu tun, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu besorgen. Er bekam im Jahre 1819 für zwei Schulkinder, die er unterrichtete, einen Reichstaler im Jahr. 1820 gab es in Rhade 78 Wohnhäuser (1840 waren es 92). Im Jahr der statistischen Erhebung gab es in Rhade 87 Jungen und 92 Mädchen unter 14 Jahren. Ein Teil dieser Kinder war nicht mehr schulpflichtig. Weitere Verdienstquellen für den Lehrer waren der Küsterdienst (Organist), tierärztliche Beratung im Dorf, Hilfe in der Landwirtschaft u. a. Der Lehrer musste damals deshalb auch Organist und Handwerker, Landwirt und Berater sein, um von seinem Verdienst leben zu können.
Albert Tinnefeld war während des Kirchenkampfes „Notstandspastor“
Seinem Sohn Albert Tinnefeld erging es finanziell nicht besser. 1878 gibt es einen Vermerk in der Chronik, der darüber berichtet: Jahresgehalt 702,90 Mark, Zulage, Pacht von Ländereien 47,10 Mark, Wohnung 60 Mark, Entschädigung aus der Gemeindekasse 75 Mark. Somit musste die Lehrer-Familie monatlich mit rund 72 Mark auskommen. Im Jahre 1891 wurde erstmals die genaue Schülerzahl mit 126 genannt. In die Dienstzeit Albert Tinnefelds fällt der Bismarcksche „Kulturkampf“. Der Bischof von Münster war im Exil, Rhade hatte nach dem Tod von Pfarrer Bölting 1874 über zehn Jahre lang keinen Pfarrer mehr. Albert Tinnefeld, 1877 im Alter von 76 Jahren pensioniert, fungierte daher als „Notstandspastor“ bei Beerdigungen. Er starb 1884 im Alter von 83 Jahren.
Im Jahr 1890, Sohn Bernhard Tinnefeld war seit 1877 Lehrer, verlangte die preußische Regierung den Neubau einer Schule, deren Baukosten von 8.590 Mark ganz überwiegend vom Staat übernommen wurden. Die Schule konnte 1893 mit 60 Jungen und 26 Mädchen eröffnet werden. Die neue zwei Klassen umfassende Schule brachte erstmals die Geschlechtertrennung in den Schulbetrieb. Bernhard Tinnefeld schilderte in der Schulchronik 1891 die damaligen Zustände in Rhade so:
„Der Zustand unserer Gemeinde ist ziemlich gleich geblieben, nur kann man sagen, dass die Bewohner jetzt besser und sorgenfreier leben als vor 50 Jahren. […] Dass kein besonderer Geldmangel da ist, sieht man des Sonntags in den Wirtshäusern, die gut besucht sind. Arme, die unterstützungsbedürftig sind und von der Gemeinde unterhalten werden, sind nicht da.“
Hauptlehrer Bernhard Tinnefeld bekam 1916 den Hohenzollern Hausorden
Im Jahre 1893 tauchte erstmals mit Fräulein Becker eine Lehrerin in Rhade auf, die bis 1923 unterrichtete. Sie wohnte in der alten Schule. Das Ansehen von Lehrern – und somit von Bernhard Tinnefeld – stieg in dieser Zeit. Aus schulorganisatorischen Gründen durften Lehrer nicht mehr den Küsterdienst versehen. 1910 erhielt Rhade mit dem Emsdettener Junglehrer Karl Hagel eine dritte Lehrperson. 1914 wurde er nach Wulfen versetzt. Für ihn kam der Junglehrer Franz Hellmold, drei Jahre später der Dorstener Lehrer Schlickum. Zu dieser Zeit, die Ära Tinnefeld war bereits vorbei, hatte die Schule 238 Schüler und Schülerinnen in drei Klassen. – Hauptlehrer Bernhard Tinnefeld wurde 1916 pensioniert. Zum Abschied erhielt er den Hohenzollern Hausorden. 1929 feierte er seine Goldene Hochzeit. Mit 85 Jahren starb er im Dezember 1936.
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Als leidenschaftlicher Rhader, auf keinen Fall Dorstener!, freue ich mich sehr über diesen gut geschriebenen Artikel. Er wirft nicht Rhade und die anderen dörflichen zwangsverstädterten Landgemeinden in den Dorstenpott. Dort haben sie auch bis heute nichts verloren. Ihre Exkursionen durch die ländlichen Lebensbereiche sind lesenswert, kenntnisreich, menschlich.
Wunderbar, Herr Stegemann, wie Sie die Erinnerung an längst Vergessenen wecken, die Wurzeln aufzeigen, das Beschauliche und Tatsächliche in Relation setzen. Bitte werden Sie nicht müde, die Vergangenheit in die Gegenwart zu tragen. Es gibt kein Heute ohne das Gestern.