Von Wolf Stegemann
16. Dezember 2016. – Es gibt viele Menschen, denen die winterliche Dunkelheit, die in den Monaten November und Dezember die Tage immer kürzer werden lassen, depressive Belastungen bringt. Vor allem in den von der Dunkelheit stärker heimgesuchten skandinavischen Ländern haben viele depressiv veranlagte Menschen in ihren Wohnungen so genannte Tageslichtlampen, um sich seelische Entlastung zu verschaffen. Wer in unserer Zeitzone lebt und so veranlagt ist, kann aufatmen, ab kommenden Mittwoch (21. Dezember) werden die Tage wieder länger. Denn der Mittwoch ist auf der nördlichen Halbkugel der Tag der Winterwende, an dem die Sonne um 11:44 Uhr die geringste Mittagshöhe am Horizont erreicht. Nur etwas mehr als acht Stunden ist es hell. Am Nordpol lässt sich die Sonne überhaupt nicht sehen. Entsprechend heißt dieser Tag im Lateinischen „solstitium“ und im Griechischen „heliostásion“, was mit „Stillstand der Sonne“ zu übersetzen ist. Am 21. Juni 2017 ist aber wieder Schluss mit der Zunahme der Helligkeit. Dann ist Sommersonnwende: An diesem Tag werden ab 6:24 Uhr die Tage wieder kürzer. Ein immerwährender Kreislauf.
„Sankt Thomas bringt die längste Nacht, weil er den kürzesten Tag gebracht“
Zurück zur Wintersonnwende. Nicht nur die Lateiner und die Griechen befassten sich mit diesem Tag, der dem heiligen Thomas gewidmet ist, auch unsere Bauern, die mit ihrer unübertrefflichen Schläue für diesen Tag Regeln aufstellten: „Friert’s am kürzesten Tag, ist’s immer eine Plag“, ,,Wenn Sankt Thomas dunkel war, gibt’s ein schönes neues Jahr“ oder „Sankt Thomas bringt die längste Nacht, weil er den kürzesten Tag gebracht“.
Die Astronomen haben mit dem Jahreslauf der Erde um die Sonne alle Ellipsen, Bahnen und Winkel sowie alles andere errechnet, was es mit diesem Tag auf sich hat und daraus eine Wissenschaft gemacht, mit der 1633 Galileo Galilei („Und sie bewegt sich doch!“) vom Papst über ein Jahrzehnt unter Hausarrest gestellt wurde. Die Astrologen mit ihren Sternbildzeichen haben ebenfalls alles errechnet. Darauf hier einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Daher wollen wir lediglich einen Einblick in die Kulturgeschichte dieses Tages geben und erst einmal auf unsere Vorfahren schauen.
Als „Langschlöper“ und „Tomsirsel“ am 21. Dezember vorgeführt
In Dorsten und einigen anderen Orten Westfalens ist überliefert, dass am 21. Dezember, dem Thomastag, derjenige „Thomasesel“ genannt wurde, der sich an diesem kurzen Tag in der Familie als letzter von seinem Nachtlager erhoben hatte. Ihm wurde statt des Butterbrotes eine Handvoll Heu oder Kartoffelschalen auf den Tisch gelegt oder an sein Bett gebracht. Er durfte von den anderen Familienmitgliedern auch wie ein Esel geritten werden. Oder man setzte ihm einen Strohkranz auf. Auch wer an seiner Arbeitsstelle oder in der Schule zuletzt erschien, wurde „Thomasesel“ genannt und ihm noch wochenlang nachgerufen: „Langschlöper, Langschlöper, stäit üm seven Uhr up!“
Darum gingen Kinder an diesem Tag oft schon in aller Herrgottsfrühe in die Schule und schrieben ihre Namen der Reihe nach auf die Wandtafel. Der letzte wurde „Tomsirsel“ gerufen und bekam eine riesige Tafel um den Hals gehängt, auf der mit Kreide ein Esel gezeichnet war. Dann zog die ganze Schuljugend mit dem Tomsirsel voran um die Schule, wie das beispielsweise aus Altendorf-Ulfkotte bekannt ist. Selbst die Lehrer bemühten sich, an diesem Tag nicht in den Ruf des Spätaufstehens zu kommen. Diese Sitte hielt im südwestlichen Westfalen teilweise und vor allem in dörflichen Landgemeinden bis in die 1920er-Jahre an.
Germanen sahen in dem Licht der Sonne die Kraft des Lebens
Der Sieg des Lichts über die Dunkelheit an jenem Tag hat sich also im christlichen Volksglauben gut etabliert. Der Ursprung ist allerdings heidnisch. Julius Caesar, römischer Kaiser, der natürlich vor Christi noch kein Christ sein konnte, führte den Julianischen Kalender ein. Demzufolge rutschte das Winterfest der Sonnenwende auf den 25. Dezember, das dann der Kirche in die Hände spielte, die das römische und später das germanische Reich christianisierte. Sie legten nach der Einführung des Julianischen Kalenders den Tag der Geburt auf diesen germanisch-heidnischen Lichtfesttag. Denn an diesem dunkelsten Tag des Jahres, ab dem es damals wie heute wieder heller wurde und wird, sollte das Knäblein in der palästinensischen Futterkrippe das Licht in das vermeintliche Dunkel der antiken Menschheit bringen. Wenn die Christen auch etliche heidnische Feste verboten hatten, die Sonnwendfeste der Germanen, Kelten und Slawen – im Sommer und im Winter – konnten sie nicht abschaffen. Die Feste waren in der neu-christlichen Bevölkerung Europas viel zu beliebt und hatten sich im Bewusstsein der Menschen zu stark verankert. Denn die Germanen sahen in dem Licht der Sonne die Kraft des Lebens für Menschen, Tiere und Pflanzen. Und an diesem Tag, der sich am Mittwoch jährt, feierten die Nordgermanen den Sieg der Sonne über die Dunkelheit mit ausgelassenen Festen. Bejubelt wurde die Wiedergeburt des Lichtes im ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens. Wie oben erwähnt, konnte diese antike Philosophie die bei der Christianisierung nicht zimperliche Kirche ab dem 4. Jahrhundert für sich nutzen.
Der Sonnenkalender wurde um 12 Tage ergänzt
Während im 12. Jahrhundert die Wintersonnwende dem hl. Thomas geweiht wurde, wurde die Sommersonnwende nach dem heiligen Johannes benannt. Die Feuer der Germanen wurden an diesem Tag auch von den Christen bis hin zu den Nationalsozialisten und werden von heutigen Neonazis abgebrannt. Früher glaubte man, dass aus dem nordisch-germanischen Julfest der Wintersonnwende kalendarisch das christliche Weihnachten mit dem Jesus in der Krippe entstanden sei. Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass das christliche Weihnachtsfest nicht aus der Überprägung des römisch-heidnischen Sonnenkults entstanden ist, sondern in einer parallelen Entwicklung der Besetzung der germanischen Wintersonnwende. Verbunden mit der Wintersonnwende am 21. Dezember sind die zwölf so genannten „Rauhnächte“ (auch Raunächte, Rauchnächte), die in die christliche Tradition als „Zwölf Heilige Nächte“ übernommen hatte. In diesen Tagen sollen mystische Dinge vor sich gegangen und die Verbindung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits wesentlich enger verknüpft worden sein. Zu den wichtigsten Rauhnächten gehören die Christnacht (Heiliger Abend, 24. auf 25. Dezember), Silvester (1. Januar) und die Nacht der Erscheinung des Herrn (Epiphanias, Dreikönigstag Nacht vom 5. auf 6. Januar).
Rauhnächte – Klosterschreiber wollten von dem Unfug nichts wissen
Das Wort „Rauhnacht“ leitet sich vom mittelhochdeutschen „rûch“ ab, was so viel wie haarig, aber auch wild bedeutet. Kann aber auch „Rauch“ heißen. Schriftlich überliefert ist von den Bräuchen aus der Anfangszeit kaum etwas. Vieles wurde über Jahrhunderte nur mündlich weitergegeben. Denn die, die schreiben konnten, saßen als Gelehrte in Klöstern und die wollten mit diesem „christlichen Volksheidentum“ nichts zu tun haben. Daher wurden die Rauhnächte erstmals im 16. Jahrhundert schriftlich erwähnt.
In einer der Rauhnächte, in der Heiligen Nacht, so sagt man, haben Geister und Hexen besondere Macht. Deswegen läuten die Kirchenglocken von Einbruch der Dunkelheit bis zur Mitternachtsmesse in regelmäßigen Abständen das so genannte Schreckensgeläut. Hier erhält das heidnische Geister-Austreiben einen christlichen Deckmantel. Genauso wie an „Heiligdreikönig“, wenn die Sternsinger mit Weihrauch von Haus zu Haus ziehen. Man erzählte sich, dass diejenigen, die in die Christmette gehen, die Hexen des Dorfes erkennen können. Dazu brauchte man entweder einen Schemel aus neunerlei Holz oder Holzscheiben. Man setzte sich in der Kirche auf diesen Schemel – und schon wurden die Hexen sichtbar. Oder man schaute durch die hauchdünn geschnittenen Holzscheiben. Dann sah man Hexen mit Hut und mit dem Rücken zum Altar in den Bankreihen sitzen. Was man in den zwölf Rauhnächten träumte, soll im jeweils folgenden Monat in Erfüllung gehen. In diesen Monaten können die Tiere sprechen, die sich über die Toten des kommenden Jahres unterhalten würden. Bei so viel christlichem Aberglauben sträubten sich natürlich die Schreibfedern und die Haare rund um die Tonsur der Mönche in den Klöstern.
Germanengott Odin und Frau Holle führte die „Wilde Jagd“ an
In den Rauhnächten treibt die so genannte „Wilde Jagd“ ihr Unwesen, die von dem Germanengott Odin als „Wilder Jäger“ und von Frau Holle (vermeintlich Göttin Freya) angeführt wird. In Ostendorf an der Lippe redete man von der „Giskejagd“, in Lembeck von der „Engelsken-Jagd“. Die Stürme in dieser Winterzeit wurden durch das Herumgesause von Odin und Frau Holle gedeutet. Um sie gütlich zu stimmen, opfert man ihnen Speisen, wie Brot, Kuchen, Gebäck, Fleisch oder Hülsenfrüchte, aber auch die Reste der Festessen. Diese stellt man entweder vor die Türe oder verteilt sie unter Obstbäumen im Garten.
Noch ein Hinweis auf die Hausfrauen in Dorsten und anderswo: Wer zu dieser Zeit (weiße) Wäsche draußen aufhängt, läuft Gefahr, dass sich die „Wilde Jagd“ darin verfängt. Oder dass Odin ein Wäschestück mitnimmt und als zukünftiges Leichentuch für den Besitzer verwendet. Die Toten suchen die Lebenden auf und dunkle Mächte haben Herrschaft über die Erde. Böse Geister setzen sich gerne in Unrat und Unordnung fest. Deswegen: Aufräumen im Haus und im Leben. Vielleicht auch mal das Auto. Am besten bringt man alles Geliehene zurück und lässt sich Verliehenes wiedergeben.
Wiederbelebung der Sonnwenden als Feiertage in der NS-Zeit
Es ist noch gar nicht so lange her, da besannen sich die Deutschen wieder verstärkt ihrer germanischen Herkunft. Zwischen 1933 und 1945 besetzten die Nationalsozialisten die altgermanischen Sonnwendfeiern mit ihren ideologischen und politischen Ansprüchen. So wurde auch die Wintersonnwende am 21. Dezember „wiederbelebt“, zum offiziellen Staatsfeiertag erklärt und in die NS-Blut-und Boden-Ideologie integriert, besonders durch die SS.
In Dorsten gab es lodernde Feuer auf dem Hardtberg, wo sich Hitlerjugend, SA, SS und andere NS-Organisationen unter Leitung der NSDAP-Ortsgruppenleiter Ernst Heine und den anderen der Landgemeinden ein Stelldichein im Fackelschein gaben. Sie entzündeten ein großes Feuer, sangen nationalsozialistische Germanenlieder, deklamierten schwülstige Rassen-Gedichte und schmetterten natürlich auch kräftige „Heil Hitler!“ in den dunklen Himmel. Denn Hitler wurde schon längst zum „gottgewollten“ und „gottgesandten“ „Weltenerlöser“ erklärt, wie die „Dorstener Volkszeitung“ 1937 schrieb. Ab 1938 wurde Frau Holle zunehmend als „Lebensmutter“ stilisiert und auf die germanische Göttin der Liebe und Ehe Freya zurückgeführt. Das Weihnachtsfest wurde bereits in den ersten Jahren des Nationalsozialismus zum „Fest der allgemeinen Mutterschaft“, der „Mutternacht“ erhoben, die deutsche Mutter als Gottesmutterersatz stilisiert. Zu diesem Zweck stiftete die NSDAP an Weihnachten 1938 das Ehrenkreuz der deutschen Mutter (Mutterkreuz), das an kinderreiche Mütter, ausschließlich mit Ariernachweisen, verliehen wurde.
Die Wintersonnwendfeier ein Fest des „aufsteigenden Lichts“
Mit Hilfe der Wintersonnwendfeier sollte Weihnachten nach Vorstellung der nationalsozialistischen Feiergestalter als Fest des „wiederaufsteigenden Lichts“ uminterpretiert werden. Ab 1935 wurden zentrale Wintersonnwendfeiern veranstaltet, die u. a. ab 1937 im Berliner Olympiastadion durchgeführt wurden. In Richtlinien zur Durchführung der Wintersonnwendfeier wurden die Vorbereitung und der Ablauf festgelegt, allerdings ab 1939 mit dem Zusatz „Im Kriege während der Verdunkelungsvorschriften nicht durchführbar“. Die aufwendigen, Identität stiftenden Inszenierungen verfehlten insbesondere bei den Jugendlichen nicht ihre Wirkung und bildeten – ganz im Sinne der „nationalsozialistischen Feiergestalter“ – einen Kontrast zu den eher beschaulichen und traditionellen Festen im Familienkreis. Um auch die häuslichen Weihnachtsfeiern zu indoktrinieren und symbolisch das Sonnenwendfeuer in die Familien zu tragen, wurde ab 1939 ein völlig neues Ritual eingeführt: Die Heimholung des Feuers“. Nicht zuletzt wegen den kriegsbedingten Verdunkelungsmaßnahmen fand dies in der Bevölkerung keine große Verbreitung. Vom Wintersonnwendfeuer wurden mit Fackeln die Kerzen am zentralen Weihnachtsbaum des Ortes – in Dorsten stand „der Tannenbaum des Volkes“ am Marktplatz – angezündet. Am Heiligen Abend sollten die Kinder dort das Feuer für den heimischen Tannenbaum holen und somit das „Licht der nationalsozialistischen Erneuerung“ in jede Familie tragen. Dieser Spuk war 1945 zu Ende. Doch nicht ganz.
In der Bundesrepublik und DDR wurde die Sonnwende weiter gefeiert
Sonnwendfeiern mit Feueranzünden und Weihesprüchen gab es in der Bundesrepublik mancherorts bis in die 1960er-Jahre. Auch in Dorsten, zumindest in den ersten Nachkriegsjahren, woran sich Vereine beteiligten. In der früheren DDR veranstaltete der sozialistische Jugendverband Freie Deutsche Jugend (FDJ) Sonnwendfeiern. 2006 wurden bei einer von Neonazis veranstalteten Sonnwendfeier in Pretzien/Sachsen-Anhalt u. a. eine US-Fahne und das „Tagebuch der Anne Frank“ verbrannt, ohne dass Anwesende eingriffen. Daher werden in Deutschland Sonnwendfeiern von der Polizei überwacht und zunehmend aufgelöst.
Die Sonnwende in Literatur, Oper und Film
Die Sonnwende fand auch Eingang nicht nur in die Literatur und Tondichtung der Nazis. William Shakespeares Komödie „A Midsummer Night’s Dream“ (Ein Sommernachtstraum) handelt während einer Sommersonnwende. Auch Richard Wagner lässt einen Bariton die Arie „Das schöne Fest, Johannistag“ in der Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ singen, die am Sonnwendtag 1868 in München uraufgeführt wurde. Ingmar Bergmann hat das Thema in die Handlung seines Films von 1955 „Das Lächeln einer Sommernacht“ (Sommarnattens leende) eingebunden. – Also dann: Am 21. Dezember früh aufstehen und kein „Langschlöper“ und auch kein „Tomsirsel“ sein!
Weiterführender Artikel zum Thema:
http://www.dorsten-lexikon.de/a/aberglaube/
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