Von Wolf Stegemann
25. November 2016. – Die nationalsozialistische Justiz, deren Richter und Staatsanwalte fast sämtlich in der nachfolgenden Justiz der Bundesrepublik unbehelligt weiter Anklagen formulieren und Urteile sprechen konnten, vernichteten in einem von den Nationalsozialisten gewollten zwölftägigen Propagandaprozess die damals zu Holsterhausen gehörenden und von den Barmherzogen Brüdern von Montabaur betriebenen Krankenanstalten Maria Lindenhof, die dem Bereich zwischen Lippe und Kanal bis heute den Namen gegeben haben. Der Prozess begann am 28. November 1935 und erregte reichsweites Aufsehen. Denn etlichen Ordensleuten und Krankenpflegern wurde sexueller Missbrauch ihrer Schützlinge vorgeworfen. Mag sein, dass der eine oder andere Fall Missbrauchfall tatsächlich stattgefunden hat, doch die NS-Propaganda, der sich die Justiz willfährig als Erfüllungsgehilfen unterordnete, nutzte dies aus, um den Orden aus Holsterhausen an der Stadtgrenze zu Dorsten zu vertreiben. Die Folge war, dass die geistig behinderten Patienten 1937 in die Tötungsanstalt Hadamar überführt wurde, in den freigezogenen Gebäuden ein staatliches Heim für schwer erziehbare Jugendliche einrichtet wurde. Somit endete nach 62 Jahren eine in Dorsten geachtete und wohltätige Einrichtung. Grund, einmal Rückschau zu halten auf diese Jahre und den Prozess gegen die Barmherzigen Brüder vor dem Landgericht in Essen.
Von der Fabrikantenvilla zur Krankenanstalt zwischen Lippe und Kanal
Mit sechs Betten, einem Sack Erbsen und 50 Mark gründete Bruder Rochus Neus mit drei Ordensbrüdern von der Krankenpflegegenossenschaft der Barmherzigen Brüder von Montabaur 1873 in den Lippeauen in Holsterhausen die Krankenanstalten für männliche Epileptiker und geistig Behinderte, die sie unter den Schutz Marias stellten und die Anlagen „Maria Hof unter den Linden“ nannten, der dem heutigen Bereich „Maria Lindenhof“ den Namen gab. An der Lippe besaß der Orden schon länger die Villa Reischel. Durch mehrere Anbauten entstand eine Anlage mit Kloster, Krankenanstalten, Ärztehaus, Maschinenhaus, Isolierhaus, Kinderheim und Arbeitsstätten. 1919 funktionierte das Freikorps Lichtschlag den Festsaal der Anstalt in einen Gerichtssaal um und verurteilte gefangene Spartakisten zum Tode, die dann an der Anstaltsmauer erschossen wurden.
Gestapo verhaftete Brüder wegen angeblichen Missbrauchs
1923/25 beschlagnahmten belgische Besatzungssoldaten Teile der Krankenanstalt für ihre Zwecke, bevor sie 1927 renoviert wurde und neue Bauten hinzukamen. 1935 verhaftete die Gestapo etliche Brüder unter dem von der Gestapo geschürten Verdacht sexueller Verfehlungen. Bei dem mit großer nationalsozialistischer Propaganda durchgeführten Prozess beim Landgericht Essen hatten die angeklagten Brüder keine Chance. Sie wurden verurteilt, einige von ihnen später freigesprochen oder ihre Strafen reduziert. 1937 löste der Staat die Anstalt auf und überführte die Heiminsassen nach Hadamar. Die verbliebenen zwölf Brüder verließen im September 1937 die leeren Gebäude und fuhren mit dem Zug ins Mutterhaus nach Montabaur.
Danach wurden die Gebäude als Provinzial-Landeserziehungsaufnahmeheim für Fürsorgezöglinge, als Lazarett und nach dem Krieg als Notunterkünfte und Sammellager für Ostarbeiter, dann als Bergmannsheim und Obdachlosenasyl genutzt, bis die Anlage abgerissen wurde, um dem 1975 eingeweihten Neubau des Kultur- und Bildungszentrums Maria Lindenhof zu weichen. Heute erinnert noch ein Grabkreuz an die Barmherzigen Brüder von Montabaur, das früher zum Brüderfriedhof gehörte. 1990 wurde es restauriert und mit einer Gedenktafel versehen.
Der Sitten-Prozess gegen die Barmherzigen Brüder
Die Hauptverhandlung gegen 13 Angehörige der „Kongregation der Gemeinschaft der Barmherzigen Brüder von Montabaur“ und zwei ehemalige Mitglieder begann am 28. November 1935 vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Essen. Dieses Gericht tagte nicht im Essener Justizpapalast, sondern im Festsaal der Heilanstalt Marienthal bei Münster, weil die Staatsanwaltschaft dort ihr Zeugen – Schwachsinnige und Epileptiker – untergebracht hatte. Am 12. Verhandlungstag sprach das Gericht unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Dr. Reichling die Urteile.
Obgleich die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, karrten Partei und Behörden ihre NS-Gefolgschaft zum Prozess: Ortsgruppenleiter, Amtswalter, Frauenschaftsführerinnen, NS-Geistliche, SA- und SS-Führer. Sie und die gleichgeschaltete Presse sollten das propagandistisch in die Öffentlichkeit tragen, was den Holsterhausener Brüdern von Montabaur angelastet wurde. Die Anklage vertrat der Erste Staatsanwalt beim Landgericht Essen, Dr. Landmesser, zweiter Anklagevertreter war Gerichtsassessor Dr. Buchner. Die Angeklagten wurden durch die Rechtsanwälte Metzroth I (Wuppertal-Elberfeld), Klefisch (Köln), Dr. Brand (Essen) und Klems (Essen) vertreten.
Gerichtsverhandlung mit großem Aufsehen
Mehr als zwanzig Zeugen waren geladen, darunter der ehemalige Fahrer der Krankenanstalt Maria Lindenhof, der anderthalb Jahre zuvor aus den Diensten der Barmherzigen Brüder entlassen worden war. Ebenso standen drei ärztliche Gutachter, darunter Obermedizinalrat Dr. Hegemann, dem Gericht zur Verfügung. Angeklagt waren die Ordensbrüder Placidus Becker (51), der als Vorsteher dem Prozess den Namen gab („Strafsache gegen Becker und Genossen“), Germanus, Leo, Sylvester, Augustin, Bernward (34), Cäcilius (28), Hieronymus, Oswald (31), Patritius (48), Elpidius (32), Simon (34) und Borgias sowie die früheren Ordensangehörigen Theodorus und Meinulf. Letzterer war inzwischen verheiratet und Vater eines anderthalbjährigen Kindes. Sämtliche Angeklagten erschienen in Zivil und saßen in zwei Reihen vor dem Gerichtstisch. Ihnen wurde zur Last gelegt, in den Jahren von 1924 bis 1935 durch selbstständige, zum Teil sich fortsetzende Handlungen in ihrer Eigenschaft als Lehrer und Erzieher mit ihren minderjährigen Schülern unzüchtige Handlungen vorgenommen zu haben. Damit verstießen sie gegen die Paragraphen 174 Abs. 1 Ziff. 1 und 3, 175, 176 Abs. 1 Ziff. 3, 185, 240, 73, 74 und 43 StGB. – Der Generalobere der Barmherzigen Brüder von Montabaur schickte einen Prozessbeobachter nach Marienthal, der vom Gericht zugelassen wurde. Vergeblich stellte die Staatsanwaltschaft täglich bei Prozessbeginn Antrag auf Ausschluss des Beauftragten aus Montabaur. Am vierten Verhandlungstag ließ der Abgesandte, Bruder Wolfgang, wissen, dass er auf Anraten der Verteidigung abgereist sei und nicht mehr an den Verhandlungen teilnehme. Als Prozess-Zuhörer war übrigens auch der Anstaltsgeistliche von Marienthal und NSDAP-Genosse Pfarrer Dr. Pieper ohne Beanstandung der Staatsanwaltschaft zugegen.
Verlesung der Anklageschrift und Vernehmung der Angeklagten
Nach Verlesung der Anklageschrift wurden die Angeklagten zu den ihnen vorgeworfenen Taten vernommen. Dies dauerte drei Prozesstage. Der Angeklagte Bruder Placidus, der über 30 Jahre lang in Maria Lindenhof – zuerst als Stationsvorsteher der Kinderabteilung, dann als Vorsteher der Holsterhausener Niederlassung – tätig war, stritt alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe ab und erklärte: „Ich darf hier öffentlich und feierlich erklären, dass ich, solange ich in Maria Lindenhof war, mich nie unsittlich an Kindern vergangen habe.“
Die Anklage warf ihm vor, sich an vier Kranken vergangen zu haben. Placidus war bereit zu schwören, dass er stets ein keusches Leben geführt habe und wolle seine Aussagen so machen, dass er sich vor Gott nicht schuldig fühlen müsse. Daraufhin erwiderte der Vorsitzende, er möge seine Aussagen wahrheitsgetreu vor dem weltlichen Richter machen, dessen Wollen sich mit dem göttlichen Gesetz durchaus decke.
Die anderen Angeklagten gaben sittliche Verfehlungen zu, machten aber Einschränkungen oder wiesen einige der ihnen zur Last gelegten Taten zurück. Bruder Bernward soll bereits früher wegen sittlicher Verfehlungen aufgefallen und deshalb von Fulda nach Holsterhausen versetzt worden sein. Auch gegen Bruder Oswald, der von 1924 bis 1932 in Maria Lindenhof tätig war, schwebte im Jahre 1928 ein polizeiliches Verfahren wegen sexueller Delikte, das man dann aber in Dorsten nicht weiter verfolgte. Bruder Patritius war ebenfalls einschlägig vorbestraft. Deswegen war er, wie das Gericht bekundete, von der Ordensniederlassung Limburg nach Gelsenkirchen und von dort im Jahre 1932 nach Holsterhausen strafversetzt worden. Die Brüder Elpidius und Simon wiesen jegliche Schuld von sich.
20 Zeugen und Sachverständige
An den weiteren Prozesstagen wurden die 20 Zeugen gehört und die Frage geklärt, ob die Brüder als Lehrer oder Pfleger der Kranken einzustufen seien. Von den Sachverständigen wurden sie als Lehrer bezeichnet. Der seit 1919 in der Krankenanstalt tätige Oberarzt schilderte die große Triebhaftigkeit der untergebrachten Schwachsinnigen, die deshalb stets kontrolliert werden mussten. Von sittlichen Verfehlungen hatte der Arzt nichts gehört, lediglich, dass 1933 ein Verfahren gegen den Vorsteher Placidus eingeleitet worden war, das aber eingestellt werden musste. Die Kinder hätten „mit schwärmerischer Liebe“ an Bruder Placidus gehangen, den sie wie einen Vater verehrten. Der Kriminalkommissar, der die Untersuchungen gegen die Barmherzigen Brüder leitete, sagte aus, dass er zuerst den Anschuldigungen nicht glauben wollte. Nach den Teilgeständnissen der Angeklagten musste er es glauben. Der Polizeibeamte sagte dem Gericht, dass bei nachfolgenden Vernehmungen die Angeschuldigten ihre Geständnisse wieder eingeschränkt bzw. ganz widerrufen hätten.
Acht weitere Zeugen, die bei der Polizei die Ordensangehörigen schwer belastet hatten, sagten vor Gericht wesentlich zurückhaltender aus. Selbst der Kraftfahrer der Krankenanstalt, der das Verfahren durch seine Anzeige in Gang gebracht hatte, sagte aus, dass er nie etwas gesehen hätte, sondern nur Gerüchte gehört habe. Schließlich stellte sich heraus, dass die Anschuldigungen gegen den Vorsteher Placidus falsch waren, denn der Angeklagte war zur fraglichen Zeit in einem Erholungsurlaub in der Schweiz. Allerdings lehnte das Gericht den Antrag der Verteidigung ab, den Haftbefehl aufzuheben, da „erschöpfendes Aktenmaterial noch nicht verhandelt“ sei. Andere Brüder waren geständig, einige hatten eine „lange einschlägige Vorstrafenliste“.
Bewertung der belastenden Aussagen der Schwachsinnigen
Ein Sachverständiger erklärte, dass Aussagen von Epileptikern mit äußerster Vorsicht zu bewerten seien, die oft Gehörtes als Erlebtes darstellten. Das Gericht nahm sich viel Zeit, die Frage zu klären, ob Schwachsinnige überhaupt Zeugen sein und ihre Aussagen von ihnen beeidet werden können. Ein Sachverständiger sagte, dass etliche Zeugen zwar Psychopathen mit eingeschränktem Verstand seien, die aber um die Bedeutung des Eides wüssten. Diesbezügliche Belehrungen könnten sie verstehen. Ein Belastungszeuge wurde von einem Sachverständigen als „erheblich schwer belastet“ bezeichnet, dessen Mutter geisteskrank und der Vater ein Trinker gewesen sei. Außerdem habe sich der Zeuge sittlicher Verfehlungen anderer Insassen schuldig gemacht. Dennoch führte der Sachverständige weiter aus, dass in diesem Falle seine Aussagen im Wesentlichen glaubwürdig seien. Die belastenden Aussagen von zwei weiteren Zeugen gegen die Brüder Placidus und Germanus wurden vom Gericht zurückgewiesen, da der Gutachter diese Zeugen als „Vollidioten“ eingestuft hatte. Ein anderer Belastungszeuge aus dem Kreis der Patienten gab zu, dass er den Bruder fälschlicherweise belastete. Der ärztliche Gutachter gab zu Protokoll, dass der Zeuge „wie gedruckt lüge und wie ein Rabe stehle“. Am 8. Tag des Prozesses fiel der Angeklagte Bruder Leo durch unstetes Verhalten derart auf, dass das Gericht wegen des Verdachts einer „Geistesgestörtheit“ eine Untersuchung seines Geisteszustandes anordnete. Der ärztliche Gutachter Obermedizinalrat Dr. Hegemann bescheinigte aber dem Angeklagten, dass er „nicht so dumm sei, wie er aussehe und sich anhöre“. Zu den Verhältnissen in der Anstalt befragt, die Dr. Hegemann als Anstaltsarzt betreute, sagte er, dass es denkbar sei, dass Verfehlungen in einem solchen Umfange mögliche gewesen waren. Die erforderliche Ordnung und strenge Beaufsichtigung habe in Maria Lindenhof gefehlt.
Plädoyer der Anklage: Innere Haltlosigkeit
Am 9. Tag hielt der Erste Staatsanwalt Dr. Landmesser sein Plädoyer. Die Straftaten hätten in der Öffentlichkeit „Abscheu und Entsetzen“ hervorgerufen. Trotz eingehender Beweisaufnahme sei es nicht gelungen, „volles Licht in das Dunkel“ zu bringen, das jahrelang über der Anstalt Maria Lindenhof gelegen habe. Er warf den Angeklagten „innere Haltlosigkeit“ und „leichte Labilität“ vor. Er richtet auch den Vorwurf an die Ordensleitung. Sie hätte bei Bekanntwerden sittlicher Verfehlungen die betreffenden Brüder aus der Anstalt entfernen und der Polizei übergeben müssen. Stattdessen haben man alles mit dem „Mantel der christlichen Liebe zugedeckt“ und die Brüder einfach in eine andere Niederlassung versetzt.
Da in Dorsten starke Kritik an dem gesamten Verfahren gegen die Barmherzigen Brüder (Schließung der Anstalt, Prozess) laut wurde, weil man es als einen Angriff auf die katholische Kirche sah, wandte sich der Staatsanwalt in seinem Plädoyer auch an diese Dorstener Kritiker:
„So berechtigt die Vorwürfe an die Leitung der Genossenschaft sind, sowenig erscheint es mir angebracht, diese Dinge der katholischen Kirche anhängen zu wollen. Mit der Religion und der katholischen Kirche haben die Straftaten nichts zu tun. [Heute sieht man das, was solche von Geistlichen begangen Delikte angeht, anders, der Verf.] Ganz ungeheuerlich ist es aber, dass auch in der Gegend von Dorsten von gewissen Kreisen der Überzeugung Ausdruck gegeben wird, dass hier nicht Verbrecher auf der Anklagebank sitzen, sondern Opfer ihrer religiösen Überzeugung.
Ich möchte denen, die es angeht, zurufen: Der nationalsozialistische Staat schafft keine Glaubensmärtyrer, er führt keinen Kampf gegen eine Kirche oder gegen eine Religion. Im Reiche Adolf Hitlers kann jeder Volksgenosse nach seiner Fasson selig werden. Um was es sich hier handelt, ist der Kampf eines Staates, der auf Sauberkeit hält, gegen unsaubere Elemente. …. Wer sich heute also schützend vor die schuldigen Angeklagten stellt, stellt sich nicht nur außerhalb jeder Volksgemeinschaft, sondern als Katholik auch außerhalb der katholischen Kirche…“
Dr. Landmessers Strafanträge lauteten zwischen 1 Jahr und sechs Monaten bis zu acht Jahre Zuchthaus. Die Verteidiger lehnten die Aussagen der schwachsinnigen Belastungszeugen weitgehend ab und folgten auch nicht der Auffassung des Staatsanwalts, dass die Angeklagten Erzieher seien, vielmehr könne man von einem „Obhutsverhältnis“ sprechen. Sie baten das Gericht um eine mildere Beurteilung.
Die Urteile blieben unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft
Am 12. Verhandlungstag wurde das Urteil gesprochen. Dabei blieb das Gericht teilweise weit unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft. Die Brüder Placidus (Christian Becker), Germanus (Landolin ochs), Elpidius (Theodor Chochosz), Simon (Otto Krüger) und Sylvester (Julius Hummel) wurden freigesprochen. Andere bekamen wegen Vergehens bzw. Verbrechens u. a. gegen den Paragraphen 175 Zuchthaus- bzw. Gefängnisstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. In der Urteilsbegründung führte der Vorsitzende u. a. aus:
„Alle Angeklagten, die mit Personen unter 21 Jahren zu tun hatten, sind als Erzieher im Sinne des § 174,1 anzusehen, weil die Kranken in einer geschlossenen Anstalt untergebracht waren und weil Sinn und Zweck der Unterbringung auch die Erziehung mit einschloss. Bei der Bemessung der Strafen hat das Gericht alle Umstände berücksichtigt. Die Angeklagten haben sich schwer vergangen. Anstatt im Ordenskleid mit gutem Beispiel voranzugehen, beschmutzten sie das Gewand, das sie trugen und kompromittierten dabei ihre Mitbrüder. Auf er anderen Seite dürfe aber nicht übersehen werden, dass die Angeklagten bisher sich selbstlos in den Dienst der Allgemeinheit gestellt und Arbeiten übernommen haben, sie sicherlich eine große Aufopferung erheischten. Wenn die Angeklagten gestrauchelt sind, so liegt das daran, dass sie einen Beruf ergriffen haben, dessen hohen Anforderungen sie nicht gewachsen waren. Berücksichtigt hat das Gericht bei der Reihe der Angeklagten auch ihre sonstigen Verdienste und die Teilnahme am Weltkrieg.“
Da die Urteile erheblich unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft blieben, legte der Anklagevertreter Berufung beim Leipziger Reichsgericht ein, das das Urteil am 28. August 1936 aufhob und an das Landgericht Essen zurück überwies. Am 5. Juni 1937 verhandelte die Große Strafkammer beim Landgericht Essen erneut gegen die Barmherzigen Brüder. Bis auf zwei Fälle blieb es bei den Strafen.
Das Ende der Krankenanstalt in Holsterhausen
Zwischen diesen beiden Prozessen räumte die Gestapo auf Anweisung des Oberpräsidenten der Provinz Westfalen am Dienstag, den 28. April 1936, die Anstalt von den noch vorhandenen Pfleglingen. Ein Sonderzug brachte die 276 Epileptiker und Schwachsinnigen in die Provinzialheilanstalt Marsberg. Ein Augenzeuge:
„Ein trauriger Zug von Hilflosen und Schwachsinnigen zog zum Bahnhof Hervest-Dorsten, wo die Kranken mit ihrem Gepäck verladen wurden. In einer Stunde hat sich das ganze Drama abgespielt.“
Mit dieser Fahrt waren die kranken der Tötungsmaschinerie der Ärzte und Schwestern ausgeliefert, die sich dem NS-Regime verschrieben hatten, obwohl sie wussten, dass dieser Staat mit dem Euthanasie-Programm von ihnen Verbrechen abverlangte. Einige Pfleglinge, die privat in Maria Lindenhof untergebracht waren, verblieben noch eine kurze Zeit. Später kamen sie in die St. Josefs-Anstalt nach Hadamar bzw. in Vinzenshaus nach Montabaur. Marsberg war zu jener Zeit Tatort des Euthanasieprogramms. Das St. Johannes-Stift wurde eine „Kinderfachabteilung“ des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden.“ In den folgenden Monaten wurden dort etwa 50 Kinder und Jugendliche getötet. Wegen Unruhe in der Bevölkerung wurde 1941 die „Fachabteilung“ geschlossen und in die Klinik nach Aplerbeck verlegt. Während des Zweiten Weltkriegs diente das St. Johannes-Stift als Lazarett; außerdem hatte es die Patienten aus der von Bomben zerstörten Anstalt in Münster aufzunehmen.
Das Jahr 1937 brachte das endgültige Ende von Maria Lindenhof. Während die Zentralleitung in Montabaur noch nach Käufern für die leer gezogenen Gebäude suchte, beriet bereits der Gemeinderat von Holsterhausen unter Hinzuziehung der Ratsherren von Dorsten und Gemeinderäten von Hervest zusammen mit dem Beigeordneten Fritz Köster, wie die Gebäude zu nutzen seien.
Unschuldig verurteilt und Nachfolgeprozesse
Am 17. Oktober 1936 kam Bruder Benitus nach zehnmonatiger Untersuchungshaft aus Koblenz zurück. Er war am 11. Dezember 1935 aufgrund der Beschuldigung eines Patienten in Maria Lindenhof verhaftet worden. Man konnte ihm sexuelles Fehlverhalten nicht nachweisen. In Abständen kamen aus dem Gefängnis entlassene Brüder in die leere Anstalt zurück. Bruder Suso wurde am 26. Januar 1937 nach 13 Monaten aus der Haft entlassen, nachdem herausgefunden worden war, dass er die „ihm angedichteten Verbrechen nicht begangen“ hatte. Ein Epileptiker der Anstalt hatte ihn der „schwersten Verbrechen gegen die Sittlichkeit“ bezichtigt. Ein anderer, Bruder Sigismund, kam nach einer Verhandlung frei. Ihn hatten Schwachsinnige und Epileptiker der Anstalt Maria Lindenhof und der St. Josefs-Anstalt in Hadamar angezeigt. Das Gericht Koblenz sprach ihn frei. Er kam zurück nach Maria Lindenhof. Einige Zeit später ließ er sich von seinen Gelübden entbinden und verließ die Genossenschaft.
Nazis bereiteten dem Wegzug der Brüder ein unwürdiges Schauspiel
Nur noch zwölf Brüder und vier Angestellte verblieben in Maria Lindenhof, um die leeren Häuser zu hüten, den Garten und die Anlagen in Ordnung zu halten. Auch betrieben sie die Landwirtschaft der Anstalt weiter. Ende September 1937 fuhren die letzten Brüder von Maria Lindenhof still und wehmütig vom Bahnhof Hervest-Dorsten nach Montabaur ins Mutterhaus zurück. Ihrem Abgang bereiteten die Dorstener Nazis ein unwürdiges Schauspiel. Sie sangen am Bahnhof „schmutzige Lieder ab“. Mit der Abreise der letzten Brüder hörte die Krankenanstalt Maria Lindenhof auf zu bestehen. Die Barmherzigen Brüder wirkten fast fünfzig Jahre im Dienst an den Kranken, von denen nicht wenige von ihren Familien verstoßen waren.
Der Provinzialverband Westfalen übernahm die leere Anstalt am 1. Oktober 1937. Der Komplex mit den dazugehörenden Grundstücken hatte einen damaligen Wert von 1,8 Millionen Reichsmark. Ein großindustrielles Unternehmen wollte zu einem annehmbaren Preis die Gebäude erwerben. Die Genossenschaft in Montabaur wäre einverstanden gewesen. Die NSDAP aber verweigerte die Genehmigung. Daraufhin richtete die Regierung in Münster ein Heim für Fürsorgezöglinge ein.
1945 Sammelunterkunft für Displaced-Persons
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches erhielten im Frühjahr 1946 Bruder Rektor Vitus und die beiden Generalassistenten Bruder Titus und Bruder Gotthard aus Montabaur Passierscheine, um Maria Lindenhof besuchen zu können:
„Am Tor stand ein polnischer Posten, da in den Gebäuden Polen, Tschechen und ähnliche Personen wohnten, die während des Krieges als Fremdarbeiter nach Deutschland gebracht worden waren. Die Gebäude waren durch mehrere Bombentreffer stark beschädigt, Nebengebäude, wie Isolierhaus und Arbeiterhaus, zum Teil ganz vernichtet. In die Brüdergräber war ebenfalls eine Bombe gefallen und die meisten Gräber zerstört. Skelette mit Kleiderresten lagen noch ein Jahr nach Beendigung des Krieges herum. Notdürftig haben wir die Teile begraben.“
Alexianerstraße? Falsche Benennung! Jetzt Brüderstraße
Die Gebäude sind in den 1970er-Jahren abgerissen worden und neue sind entstanden: das Bildungszentrum Maria Lindenhof, das Gymnasium Petrinum, die Tennishalle, das Spaßbad Atlantis. Irgendwann wurde eine Straße im „Maria Lindenhof“-Bereich zum Gedenken an die vertriebenen Brüder in „Alexianerstraße“ benannt. Nur waren es nicht die „Alexianer“, sondern die Barmherzigen Brüder von Montabaur, die dort wirkten. So schnell hatten die Dorstener vergessen, wer dort wirkte. Erst die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ machte auf den Fehler aufmerksam. Die Straße wurde 1984 in „Brüderstraße“ umbenannt. Nur noch der Name „Maria Lindenhof“, das Straßenschild, ein Grabkreuz und ein Gedenkstein sind die stummen Zeugen einer längst vergangenen, aber längst nicht bewältigten schicksalsschweren Zeit.
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Quellen: Bislang unveröffentlichte Aufzeichnungen im Archiv des Generalats in Montabaur. – „General-Anzeiger“ vom 30. November 1935 und 11. Dezember 1935. – Wolf Stegemann/Dirk Hartwich „Dorsten unterm Hakenkreuz. Kirche zwischen Anpassung und Widerstand“, Bd. 2, Dorsten 1984. – Wolf Stegemann „Mit falschen Beschuldigungen den Prozess gemacht“ in „Holsterhausen unterm Hakenkreuz“, Dorsten 2007. – Zeitzeugenberichte von Angehörigen der Barmherzigen Brüder von Montabaur. – Literatur: Dr. Georg Hilpisch „Die Genossenschaft der Barmherzigen Brüder von Montabaur“, Wiesbaden 1926. – Ludwig Nüdling „Bruder Vincenz. Ein Leben im Dienste der Barmherzigkeit“, Wiesbaden 1931. – Bildband „Mutterhaus und Filialhäuser der Genossenschaft der Barmherzigen Brüder zu Montabaur“, o. J. – „Werden und Wachsen der Klösterlichen Genossenschaft der Barmherzigen Brüder von Montabaur“, Montabaur 1934. – Dr. E. M. Buxbaum „Peter Lötschert gen. Bruder Ignatius“, Kehl 1995.