Von Wolf Stegemann
9. September 2016. – Antonio Filippin? Wer ist das? Dorstens Nachwuchs bis in die Mittdreißiger wird ihn kaum kennen, aber die älteren schon. Darunter Generationen von Ursulinen-Schülerinnen und Schülern. Denn Antonio Filippin war ein Begriff in Dorsten und ist es in nostalgischer Verklärung heute noch: In seiner Eisdiele am Markt, gleich links neben dem Alten Rathaus, wo heute eine Pizzeria einlädt, gab es nicht nur Eis, Capuccino, Espresso und Kaffee – auch Kunst. Über ein paar Jahre hinweg war seine Eisdiele allwöchentlich der „Dorstener Künstlertreff“ und somit – man mag dem Verfasser den Überschwang nachsehen – das Zentrum der damaligen Dorstener Kunst und Literatur. Dort trafen sich die bildnerischen und literarischen Künstler und die, die es werden wollten. 1996 wanderte Antonio Filippin auf die Seychellen im indischen Ozean aus. Heute gibt es keinen Reiseführer und keinen Bildband, der nicht auf ihn hinweist. Wer über seinen Start in sein neues Leben auf den Seychellen mehr wissen möchte, kann den am Ende dieses Artikel angebrachten Link öffnen und nachlesen, wie es Antonio Filippin bis 1999 in der Hochglanzidylle erging. Jetzt besuchte ihn seine Tochter Alexandra, brachte Fotos und Informationen mit, wie es ihm in den Jahren danach erging. Und es ist äußerst spannend, was sie erzählt.
Enge Filippin-Verwandtschaft fest etabliert auf der Sonnen-Insel
„Mein Vater hat dort das Leben gefunden, von dem er immer geträumt hat. Und das kann man mit dem in Dorsten vor seiner Auswanderung auf die Seychellen nicht vergleichen!“, resümiert Alexandra, die ihren Vater nach 18 Jahren im Juli dieses Jahres wieder besuchte. Mittlerweile lebt auch ihre Schwester Janina auf der Insel. Nun schon 14 Monate. Sie ist dort im Touristikgeschäft tätig und mit einem Seychellois verheiratet. Antonios auf den Seychellen geborene Tochter Rebecca ist im Naturschutz tätig. Ob es Alexandra auch zu diesem Archipel unter Palmen und immerwährender Sonne mit hoher Luftfeuchtigkeit hinzieht? Noch zuckt sie mit den Schultern. Noch!
Seychellen – Anziehungspunkt für Piraten vor Jahrhunderten und heute
Wie im ersten Bericht über Antonio Filippin in Dorsten-transparent bereits geschrieben, hatte er sich 1999, nach sechs Jahren Aufenthalt mit Arbeitserlaubnis, ein großes Berggrundstück in der Bucht von Anse la Liberté im Südwesten von Mahé gekauft. Mit vielen Felsen und einem „Gipfel“. Von diesem Bergrücken kann man weit über den Indischen Ozean blicken und Piratenschiffe schon vorzeitig erkennen. Denn Mahé war früher eine Pirateninsel, auf der auch der große Pirat „Le Buse“ (Der Bussard) seinen Schatz vergraben haben soll. Jahrzehntelang wird er von vielen Menschen ernsthaft gesucht, wurde bislang aber nicht gefunden. Außer ein paar Requisiten eines Hollywood-Filmteams, das dort 1986 Außenaufnahmen für den Polanski-Film „Piraten“ gedreht hatte. Auch moderne Piraten aus Somalia sind seit Jahren in den Gewässern zwischen den 115 Seychellen-Inseln aktiv. Sie entern Luxusjachten, Frachter und Passagierschiffe. Die Schlagzeilen schadeten und schaden dem Seychellen-Tourismus. Das Auswärtige Amt in Berlin hat am 4. April 2016 eine „landesspezifische Erklärung“ veröffentlicht, nach der vor Reisen auf die Seychellen wegen der Piratengefahr und der gestiegenen Kriminalität gewarnt wird. Darin heißt es u. a.: „Reisende sollten einsame Gegenden und Straßenzüge meiden, auf nächtliche Spaziergänge verzichten und keine größeren Bargeldbeträge und Wertsachen bei sich tragen…“. Und: „Nach wie vor sind auch Schiffe tief im Indischen Ozean (um die Seychellen und Madagaskar) sowie vor Kenia, Tansania, Mosambik, Jemen und Oman gefährdet, angegriffen und gekapert worden.“ Alexandra Filippin flog mit dem Düsenjet und war von Düsseldorf über Abu Dhabi 16 Stunden lang unterwegs, bis sie am Flughafen von Mahé von ihrem Vater und ihren Schwestern Janina und Rebecca abgeholt werden konnte.
Im hauseigenen Piratenmuseum dürfen Kinder den Piratenschatz suchen
Das historische Piratenthema berührte Antonio Filippin schon immer. Jetzt hat er seine Idee umgesetzt: Auf seinem Grundstück zwischen Wohnung, Restaurant mit Café und seinem Atelier hat er ein „Piratenmuseum“ gegründet. Eigentlich kein richtiges. Denn in der Hauptstadt Victoria gibt es ein richtiges. Darin sind auch echte Piratengrabsteine aus dem 18. Jahrhundert mit Totenkopf und gekreuzten Knochen ausgestellt. Die sieht man bei Antonio Filippin auch. Allerdings gemalt und als Bühnenrequisiten, mit denen Antonio und sein russischer Freund Ivan Rosstock („Ross“) Einheimische und Touristenkinder zum Lachen und zum Gruseln bringen. Dann werden den Kindern und Erwachsenen Piratengeschichten am Lagerfeuer erzählt – in Englisch und Russisch – und die Kinder dürfen dann eine Schatzkiste suchen.
Gäste können ihre Riesen-Garnelen auf dem heißen Stein selbst zubereiten
Währenddessen kocht Antonios Lebensgefährtin Maria, eine schwarzafrikanische Kreolin, im „Marias Rock-Café“ für Touristen und andere Besucher einheimische Köstlichkeiten. Das kreolische Nationalgericht, Flughund-Gullasch, gibt es dort allerdings nicht. Die großen Fledermäuse haben so niedliche Gesichter und große Augen, dass sie es nicht übers Herz bringen, sie zu schlachten. „Ich hab sie nur fotografiert, wie sie in den Bäumen kopfüber hängen, bevor sie in der Abenddämmerung fliegen!“, sagt Alexandra dazu. Dafür gibt es Riesen-Garnelen, exotische Fische und auch Fleisch. Wer es will, kann sich das Essen auf erhitzten Steinen selbst zubereiten und es dann mit exotischen Kräutern und Gewürzen – auf Bananenblättern serviert – essen.
In der Galerie gibt es einen Überblick über die Kunst, die auf den Seychellen gemacht wird. Neben einheimischen Künstlern haben sich etliche internationale niedergelassen, so wie der Bildhauer Antonio Filippin aus Dorsten. Dessen in Dorsten geschaffener Aluminium-Hahn und die bekannte Ziege aus Polyester, die er mit seinem gesamten Umzugskrempel 1993 mitgenommen hatte, leben immer noch und sind dort ausgestellt. Zwei Skulpturen aus Waschbeton konnte Antonio nicht mitnehmen. Er schenkte sie der Stadt Dorsten. Sie stehen heute auf Sockeln an der Freiheitsstraße in Holsterhausen und an der Halterner Straße Nähe Gemeindedreieck. Mit Waschbeton hat sich Antonio Filippin auf den Seychellen bei der Regierung gut eingeführt. Er fertigte den ersten französischen Gouverneur, Pierre Poivre, der 1772 die ersten Zimt- und Gewürzplantagen auf der Insel anlegen ließ. Die Skulptur steht im Park des Präsidentenpalastes. Sie ist den Blicken der Touristen, Einheimischen und selbst des Künstlers hinter einer zutrittsverbotenen und bewachten Mauer verborgen. Übrigens hat der Ex-Dorstener inzwischen auch die Staatsbürgerschaft der Seychellen erhalten. Spezialisiert hat er sich auf das Schnitzen und Malen von Hinweisschildern. Die ganze Insel, oder anders gesagt: der ganze kleine Staat, ist davon überzogen und jedermann richtet sich nach Antonios gemalten Weisungen – oder auch nicht!
Alexandra Filippin und ihr Vater vom Minister zum Tee eingeladen
„Die Insel hat sich verändert“, meint Alexandra Filippin nach ihrer Rückkehr. Reiche Russen und Araber haben die Seychellen fest im Griff. Sie kauften Land und ganze Inseln und bauten Prunk-Paläste und Villen, wofür so mancher Berggipfel abgeholzt wurde. Touristen aus Deutschland sind weniger geworden, Japaner, Araber und Russen dafür mehr. Der Luxus geht an der einheimischen Bevölkerung ziemlich vorbei. Sie hat nichts davon. Man lebt von dem, was wächst und schwimmt: Bananen, Früchte, Fische. Geändert haben sich auch die politischen Verhältnisse. Inzwischen haben sich die ehemals sozialistischen Seychellen, unterstützt von der Sowjetunion, der DDR, von China und Nordkorea vom Einparteien-Staat über die Alibi-Etablierung einer kleinen zweiten Partei hin zu einem Staat entwickelt, in dem es heute eine echte Opposition gibt. Alexandra Filippin war mit ihrem Schwager von einem Minister zum Kaffee eingeladen. Er lebt in einer Riesenvilla, eingezäunt und von Hunden und Security-Leuten bewacht. Der Verfasser kann sich erinnern, dass er vor einem Jahrzehnt dem Staatspräsidenten mit seiner 100-Mann-Leibgarde in der Hauptstadt Victoria begegnet ist, eine Stadt, die so groß ist wie Raesfeld. Wenn sich vieles verändert hat, die Angst vor innenpolitischen Anschlägen ist über Jahrzehnte hinweg geblieben. Geblieben ist auch der Kern des Freundeskreises Deutscher um Antonio Filippin, die sich manchmal von der Insel lösen wollen, um weit weg zu gehen, und dann doch bleiben oder wieder zurückkehren.
Wenn das Telefon klingelt, meldet er sich mit: „Antonio in paradise!“
Für Antonio Filippin ist sein Berg sein Paradies, das er sich in jahrelanger Arbeit und mit viel Aufwand eingerichtet hat. Da fühlt sich der vor 74 Jahren in den karstigen und eisigen Hochdolomiten Geborene und rund 40 Jahre lang gewesene Dorstener wohl, weil man dort freier leben kann als in Deutschland, wo alles reglementiert sei, gibt Alexandra das Denken und Fühlen ihres Vaters wieder. Und es stimmt. Die Regierung dort lässt jeden einigermaßen gewähren, was auch immer er tut, solange er nichts gegen die Regierung unternimmt. Möglich dass sich auch das gemildert hat. Nach wie vor gilt für Antonio Filippin, der auf diesem Weg alle seine Freunde, Bekannte in Dorsten grüßen lässt, die Position der Abgeschiedenheit, die der Werbespruch der Seychellen vermittelt: „1000 Meilen von irgendwo!“ Und wenn Antonio angerufen wird, dann meldet er sich, wie er es schon 1993 getan hat, mit den Worten: „Antonio in paradise!“
Siehe auch: Was macht eigentlich Antonio Filippin? – Von der Dorstener Eismaschine ins sonnige Paradies der Seychellen
Ach Antonio.. Sein Vater Orazio brachte das erste italienische Sei nach dem Krieg nach Dorsten, zunächst fuhr er mit dem Fahrrad, das vorn eine blau gestrichen Kiste hatte mit zei Eimern für Vanille- und Fruchteis. Dann kam die erste Eisdiele in der Blinden Straße, eingerichtet von der Etnschädigung, die er für seine Haft im KZ Dachau erhalten hatte. Ich ging damals zur Penne und nutzte die Gelegenheit, jeden Tag für ein Eis (10 Pfennig) meinem Hobby nachzugehen und mich mit Orazio oder seinem kleinen Sohn Antonio ein Stündchen italienische Konversation zu üben. Bei meiner ersten Italienreise, 1952, 15
Jahre alt, in den Großen Ferien und per Autostop (Dank sei meinen großzügigen Eltern!) besuchte ich auch seinen Heimatort Erto Casso und bestieg mit Orazios Eisdielenkellner den ersten 2000er meines Lebens. Antonio, ein paar Jahre jünger, nahm ich damals noch nicht so erst. Erst später freundeten wir uns richtig an, als Schwester Paula (Tisa von der Schulenburg) in ihm den Künstler entdeckt hatte. Als junger Mann hatte er aus eigenem Antrieb und ohne jede Anleitung eine Ziege geformt und ins Schaufenster der Eisdiele gestellt, damals schon am Marktplatz neben dem Alten Rathaus. Schwester Paula hat ihn dadurch entdeckt und zu ihrem Schüler gemacht.
Unser gemeinsames Interesse galt der Kunst und ich verfolgte voller Staunen seine Entwicklung vom Jungen aus einem Dorf im hintersten Winkel der Dolomiten über die Dorstener Eisdiele hin zu einem ernst zu nehmenden Künstler.
Antonio besuchte mich später öfter in Berlin und lud mich zu einer Lesung im von ihm gegründeten Künstlertreff ins Alte Rathaus ein. Zu unserem ersten Sohn hat er meiner Frau und mir die Holzskulptur einer stillenden Mutter geschickt. Zur Beerdigung meiner Mutter in Dorsten wohnten wir mit unseren Söhnen im Baby- und Kleinkindalter bei Antonio und seiner damaligen Partnerin, mit der er später zu den Seychellen aufgebrochen ist. Ich erinnere mich an die guten Gespräche und an Antonios Kochkunst.
Er hat uns öfter herzlich zu sich nach Mahé eingeladen, aber wir haben irgendwie nicht den Dreh gekriegt. Antonio, ob ich dich in diesem Leben noch mal wieder sehen werde?
Gut kann ich mich noch an den Vater des Herrn Filippin erinnern. Anfang der 50er-Jahre fuhr der Senior mit dem dreirädrigen Eiswagen um den Blauen See und bot den Badegästen sein leckeres italienisches Eis an. Rainer Wiethoff
Hallo Antonio, wie geht es Dir?
Ich würde mich freuen, Dich Mal besuchen zu dürfen.
Es sollte einmal gesagt werden: Diese Seite ist klasse! Wo sonst würde der Leser diese Informationen aus Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft erhalten, wenn nicht hier?
Danke.
Typisch dorstendeutsch. Gruselige Mentalität. Herr Schürholz hat das sehr fein aufgezeichnet.
Dem Antonio alles Gute! Die Dorstener kleingeistige Provinz war für ihn sicherlich oftmals zum Ersticken.
Eine Szene an einem Samstag Nachmittag, irgendwann im Frühjahr Anfang der 80er am Marktplatz. Ich saß auf der Fensterbank meines Zimmers, das zum Marktplatz hinaus ging und rauchte eine Zigarette.
Der Wochenmarkt war abgeräumt, der Marktplatz von der Stadtreinigung blank gefegt und mit Wasser abgespritzt. Es wurde still und ruhig. Die damals typische Dorstener Marktplatz Samstag-Nachmittagsstimmung. Die Geschäfte waren geschlossen. Es gab dort bis auf das Eiscafé Filippin noch keine Cafés wie heute, nur die viertelstündlichen Schläge der Kirchturmuhr unterbrachen diese Stille. Aber dann:
So ab 14 Uhr machte sich Antonio Filippin daran, einen großen, von der Rinde befreiten Holzstamm (ca. 3 m lang), den er auf dem Kirchplatz zwischen Altem Rathaus und der Agathakirche im Schatten der Bäume längs aufgebockt hatte, mit Hammer und Stemmeisen künstlerisch zu bearbeiten. Immer wieder wurde die Samstag-Idylle unterbrochen, hallten in kurzen Abständen die Schläge über den Kirchplatz, die Recklinghäuser Straße und den Marktplatz.
Dann entspann sich ein feingeistiger Dialog, der mir in Erinnerung geblieben ist:
Ein Anwohner, der am Kirchplatz wohnte, riss das Fenster auf und rief: „Hömma – is da bald mal Ruhe?! – ich kann dat Hämmern nich mehr hören!!!!!“ Antonio Filippin entgegnete sinngemäß, es sei doch schon nach 2 und da dürfte er wieder und außerdem sei das doch Kunst – und setzte sein Werk fort. Aber nicht lang – wieder wurde das Fenster aufgerissen und in sehr deutlich vernehmbarem Ton brüllte der Kunstfreund, die Eskalationsspirale eine Stufe höher erklimmend: „Hömma – wenn dat nich sooofort aufhört, komm ich runter und nehm dir deinen Hamma wech…“ An Antonio Filippins Antwort kann ich mich nicht erinnern (vielleicht hat er ihn auf einen Espresso eingeladen, um mit ihm formell auf das „Du“ anzustoßen), nur an die Entgegnung des Kunstfreundes: „Dat interessiert mich nicht – ich komm vonne Nachtschicht und will pennen und dein Gehämmer geht mir auf den …(unverständlich), wenn dat nicht sooofort aufhört kommich runter und Du krichs richtig Ärger!“ Rumms – Fenster zu. Die Kirchturmuhr schlug – wie zur Bestätigung einmal -; es war 14:15 Uhr. Es kam, wie es kommen musste: Der Klügere gab nach und legte den „Hamma” zur Seite. Das Wasser auf dem Marktplatz trocknete weiter. Meine Zigarette war geraucht, ich schloss das Fenster. Es kehrte wieder Ruhe ein.
Vielleicht war das der Moment, an dem Antonio Filippin beschloss, in nicht allzu ferner Zukunft Dorsten den Rücken zu kehren und dorthin zu ziehen, wo es keine „Hömma“ und keine Nachtschichten gibt, wo man, Zitat „freier leben kann als in Deutschland, wo alles reglementiert ist..” und man ungestört am frühen Samstag Nachmittag den Hamma schwingen kann!
Lieber Herr Filippin, soweit ich weiss, haben Sie Ihr Kunstwerk doch noch vollenden können, bevor Sie auf die große Reise gingen. Bleiben Sie weiterhin gesund und kreativ. Ein herzlicher Gruß von Ihrem ehemaligen Nachbarn (und heutigem Nichtraucher) Wilhelm Schürholz