Von Wolf Stegemann
15. Juli 2016. – Wie sich doch so manches gleicht! Wir erinnern uns an die Gastarbeiter aus Italien, Jugoslawien, Griechenland, Spanien und der Türkei, die in den 1960er-Jahren nach Deutschland kamen, weil sie hier gebraucht wurden. Heute sind es u. a. Polen, die als Saisonarbeiter nach Deutschland kommen, beispielsweise während der Spargelzeit. Meist ist beiden geholfen, den Spargelbauern, denen Arbeitskräfte fehlen, und den Arbeitskräften, die Geld verdienen. So war es auch im 17. bis 20. Jahrhundert, als deutsche Saisonarbeiter im Ausland Geld verdienten, um ihre Familien in der Heimat zu versorgen. Denn bereits seit dem 17. Jahrhundert bestand ein Wohlstandsgefälle zwischen Holland / Westfriesland und dem armen und von Missernten und Steuerlasten bedrückten Westfalen. So waren die westfälischen und emsländischen Saisonarbeiter aus sozialer Not getrieben. Hauptmerkmal dieser Arbeit war die jahreszeitlich beschränkte Saisonarbeit.
Stand in der Heimat die Erntezeit bevor, gingen sie zurück, wo sie dann von den Ersparnissen ihres Verdienstes in Holland, der gewöhnlich 50 bis 60 holländische Gulden betrug, ihre Abgaben bezahlen konnten und der Überschuss ihrer Familie zugute kam. In Westfalen und in Nordwestdeutschland nannte man diese deutschen Wanderarbeiter aus den ländlichen Gebieten „Hollandgänger“. Sie fanden Arbeit vor allem in den Provinzen Holland und Friesland. Hollandgänger waren vor allem Heuerleute (Pächter kleiner Agrar-Anwesen), Brinksitzer (Kleinstbauern). Handwerker, Knechte und Mägde. In den Niederlanden fanden sie Arbeit als Grasmäher, Gärtner und Torfstecher, aber auch als Seeleute beim Herings- und Walfang. Unter den Handwerkern waren Zimmerleute, Zuckerbäcker, Ziegler, Sensenmacher und Maurer. Frauen fanden als Dienstmädchen, Melkerinnen oder Bleicherinnen Arbeit. Unter den saisontätigen Hollandgehern waren aber auch Künstler, Pastoren, Prostituierte, Schmuggler und Vogelhändler.
Für den Zeitraum zwischen 1700 und der Reichsgründung 1871 schätzt man die Zahl der Hollandgänger jährlich auf 20.000 bis 40.000. Mit beginnender Industrialisierung löste das Ruhrgebiet die Sogwirkung Hollands ab und der Trend kehrte sich um: Holländer und Münsterländer zogen mit Sack und Pack in das Ruhrgebiet.
Das Hollandgehen mutet an wie eine Völkerwanderung
Hollandgänger machten sich im Frühjahr oft in Gruppen auf den Weg und nahmen dabei feste Routen. Angehörige begleiteten sie dabei oft ein stückweit. Die Hauptwanderrouten waren den Hollandgängern gut bekannt, denn sie führten entlang oder in Korridoren durch Moorgebiete entlang der deutsch-holländischen Grenze. Aus dem Münsterland führte die Route entlang der Lippe, dann ein kurzes Stück nordwärts entlang am Rhein bis zur Einmündung der Ijssel, dieser entlang bis Hasselt und von dort westlich nach Amsterdam. Hollandgänger aus dem Oldenburger Münsterland durchquerten das Bourtanger Moor bis zur Grenze und dann nach Amsterdam bzw. in die anderen Arbeitsregionen.
An der Ems standen Fähren bereit, wo manchmal bis zu 900 Gepäckwagen ankamen, die das Gepäck der Hollandgeher transportierten. Mit Leibwäsche, Arbeitsanzügen, Stiefel und ähnlichen Dingen war das Gepäck bis zu 50 Pfund schwer. An der holländischen Grenze nahmen oft holländische Flussschiffer das Gepäck in Empfang und beförderten es weiter zu den Hafenstädten an der Zuidersee. Kampen, Amsterdam, Zwolle, Nordholland und Seeland waren ihre Ziele. Dort anzukommen brauchen die Hollandgänger etwa fünf bis sechs Tage. Die Grasmäher bevorzugten zunächst Nordholland, dann die fetten Weidegebiete Westfrieslands.
Hollandgänger wurden oft als „spekfretters“ beschimpft
Ihre Arbeit war hart. Sie mussten sechs Tage in der Woche täglich bis zu 16 Stunden arbeiten. Torfstecher standen den ganzen Tag bis zu den Knien im Wasser. Sie lebten und schliefen oft in Erdhöhlen und Scheunen, auf Strohlagern, auf Heuböden. Zum Zudecken hatte sie meist nur eine Decke. Auch am Essen wurde gespart, denn sie wollten möglichst wenig für Lebensmittel ausgeben. Als Westfalen ernährten sie sich hauptsächlich von Speck. Daher wurden sie von den Holländern als „spekfretters“ beschimpft. Die Hollandgänger wurden zwar gebraucht, waren aber nicht überall gut gelitten.
Den Kontakt mit der Heimatdörfern und Städten hielten die Hollandgänger während ihrer Abwesenheit mit eigens angestellten und bezahlten „Postboten“, die „Hollandboten“ hießen. Durch die Zigtausende von Hollandgängern war das Arbeiten im Ausland und bei einer sehr hohen Gesamtfinanzmasse, die dadurch bewegt wurde, ein staatsfiskalisches Problem. Zum Beispiel wollte Preußen, zu dem nach 1816 Westfalen gehörte, ein Gesetz gegen das Außerlandgehen von Arbeitskräften erlassen, da sie im eigenen Land fehlten. Doch die Städte protestierten dagegen. Denn sie hätten durch dieses Gesetz zahlungskräftige Kunden, nämlich die zurückgekehrten Hollandgänger, verloren.
Machten sich nach Saisonende und Lohnauszahlung die Hollandgänger mit voller Geldkatze auf den Rückweg, wurden sie von ihren Angehörigen in den Dörfern festlich empfangen. Das war ein Ereignis „ersten Ranges“. Die Zurückgekehrten mussten über ihre Erlebnisse erzählen und der Begriff „Hollandgänger-Latein“ entstand.
Aus holländischen Kirchenbüchern ist ersichtlich, dass unverheiratete Hollandgänger nicht selten in Holland festen Wohnsitz nahmen, heirateten und dort blieben. Darunter sind bekannte Namen und Familien wie Brenninkmeyer, Brinkmann, Brüggemann, Cloppenburg, Dreesmann, Goldschmeding, Hunkemöller, Lampe, Meyer und Sinkel. Noch heute sind etliche davon als große Textilunternehmen bekannt. Es gibt auch mundartlich angepasste Familiennamen der in die Niederlande Eingewanderten, wie Beentjes, Breen, Dresselhuis, Kramer, Mijer, Mulder, Muller, Lievegoed, Snijder, Visser, Voortman und Waterhout. Diese Namen sind heute in den Niederlanden als „urholländische“ Familien mit deutscher Abstammung ein Begriff.
Auswanderungen:
Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot
Neben dem Hollandgehen entwickelte sich parallel dazu mit Überlappungen im 19. Jahrhundert die Auswanderung nach Holland und später in die Vereinigten Staaten und Südamerika. Zuvor gab es noch die Auswanderung innerhalb Deutschlands. Nach Holland wanderten viele vestische Bauern und Händler bereits im 17. Jahrhundert aus, als Holland durch seinen überseeischen Reichtum zu großem Wohlstand gelangte. Etliche Bauernsöhne verdingten sich als Soldaten nach Holland oder schlossen sich den im Vest operierenden holländischen Truppen direkt an. Leider gibt es keine holländischen Erhebungen über die Einwanderung aus dem Vest. Doch müssen die Zahlen erheblich gewesen sein. Als Dorsten und das Vest Anfang des 19. Jahrhunderts arenbergisch wurde, wird in einer Denkschrift die Abwanderung nach Holland als das „Gebrechen des Landes“ genannt, da es keine Familie gäbe, aus der sich nicht jemand in Holland niedergelassen habe. Neben Holland hat auch das bergische Land viele Zuwanderer aus dem Vest gehabt, die sich an der Wupper, dem ältesten Industriegebiet Deutschlands, niedergelassen haben. Elberfeld wurde bereits 1771 „kleines Amsterdam“ genannt.
Repressalien und schlechte Ernten trieben zur Auswanderung in die USA
Die stärkste Auswanderungswelle von Dorstenern und Bewohnern der Herrlichkeit in die Vereinigten Staaten fand Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Vor allen Dingen war es die durch die Industrialisierung und schlechte Ernten entstandene wirtschaftliche Not der 1840-er Jahre, die viele ins Ausland trieb, aber auch die Enttäuschung über die missglückte bürgerliche Revolution von 1848 und die danach einsetzenden Repressalien der Herrschenden. Ein Sprichwort der damaligen Zeit über die Auswanderer nach Amerika lautete: „Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot.“
Zwischen 1842 und 1849 suchten allein aus Dorsten und der Herrlichkeit Lembeck über 200 Personen ihr Glück durch Auswanderung. Es waren vornehmlich Handwerker, Bauern, Kötter, Tagelöhner. Sie versuchten der großen Not zu entkommen und im fernen Amerika eine neue Existenz zu gründen. Die meisten schafften es, etliche nicht. Darüber gibt es keine Zahlen. Die Auswanderung hielt im minderen Maß bis zur Jahrhundertwende 1900 an. Wer auswandern wollte, musste den Antrag stellen, aus dem preußischen Staatsverband entlassen zu werden. Die in Dresden erschienene Zeitschrift „Auswanderer“ informierte über Formalitäten, billige Reiserouten, Heiratsgesuche wohlhabender Amerikaner und hatte eine Suchspalte und Auskunftei über angeblich Verschollene. Der Verlag inserierte in den 1880er- Jahren mehrmals im „Dorstener Wochenblatt“, offerierte den Dorstenern offene Stellen in Amerika und England.
Samuel Rosenheim wurde Amerikaner, kam zurück und wurde wieder Preuße
Es gab auch Fälle, wie den des jüdischen Bürgers Samuel Lucas Rosenheim aus Dorsten, der 1883 die preußische Staatsbürgerschaft ablegte, nach Amerika auswanderte, nach einem Jahr zurückkam und die preußische Staatsbürgerschaft wieder annahm. Ein anderer, Jakob Julius Schlickum, ein glühender Freiheitskämpfer von 1848, wanderte 1849 nach Amerika aus, wurde in Texas Distrikt-Friedensrichter und verweigerte 1861 den Kriegsdienst in der Südstaatenarmee. Nach seiner Festnahme durch Texasranger und kurz vor seiner Hinrichtung entkam er nach Mexiko, wo er an Gelbfieber starb. Sein in Texas geborener Sohn kehrte nach Dorsten zurück. Bis 1888 wanderte die gesamte Familie Eisendrath nach Chicago aus. Die in Dorsten als Gerber tätig gewesenen Eisendraths gründeten dort ein Lederwaren-Imperium. 1933 hatte der „Eisendrath-Cousins-Club“ in Chicago rund 3.000 Mitglieder, deren Vorsitzender einen Brief an Reichspräsident Hindenburg schrieb, in dem er vor dem Antisemitismus des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler warnte.
Auswanderer der Jahre 1842 bis 1849 aus Dorsten und den Dörfern
Der Älteste war mit 65 Jahren der Lembecker Weber Ortwin Schmitzlinneweber gt. Maas. Abgesehen von den mitgeführten Kindern war mit 23 Jahren der Weber Albert Schäper aus Lembeck der jüngste Auswanderer. Die wenigen alleinstehenden Frauen, die auswanderten, waren Dienstmägde zwischen 20 und 30 Jahren. In dieser Auswanderungswelle aus dem Vest war der älteste Auswanderer mit 80 Jahren ein Kötter aus Suderwich. Die Liste ist nicht vollständig. Es gab noch Auswanderer, die entweder heimlich auswanderten oder von einem anderen Ort aus die Reise antraten.
Dorsten: Laurenz Risse (1844, 4 Personen), Theodor van Halle (1844, 3 Personen), Wilhelm Schwane (1844, 3 Personen), Caroline Schneider (1844, 1 Person), Heinrich Wehmhoff (1845, 7 Personen), Joseph Schwaff (1845, 4 Personen), Johann Püttmann (3 Personen), Johann Fölting (1847, 4 Personen), Johann Heinrich Joseph Overbeck (1847, 1 Person), Bernhard Wilhelm Huthmacher (1847, 1 Person), Johann Melchior Ossenkamp (1849, 1 Person).
Lembeck: Schreiner Heinrich Kerkmann (1842, 1 Person), Tagelöhner Bernhard Münken gt. Pasing (1842, 2 Personen), Färbergeselle Bernard Kleine-Onnebrinck (1843, 1 Person), Tagelöhner Albert Böhmer (1844, 7 Personen), Zimmermann Adolf Kleine-Horstick (1844, 4 Personen), Zimmermann Johann Wolter (1844, 3 Personen), Tagelöhner Gerhard Brinkmann (1844, 4 Personen), Zimmermann Wilhelm Hellenkamp (1844, 5 Personen), Korbmacher Bernhard Lansmann (1844, 10 Personen), Schuster Johann Tiehoff (1844, 6 Personen), Schenkwirt Bernhard Bußmann (1844, 7 Personen), Weber Ortwin Schmitzlinneweber gt. Maas (1844, 3 Personen), Kolon Johann Bernhard Risthaus (1844, 4 Personen), Zimmermann Johann Bernard Balster (1844, 5 Personen), Dienstmagd Anna Maria Kleine Sender (1844, 1 Person), Dienstmagd Kleine-Arndt (1844, 1 Person), Witwe Maria Cath. Thesing (1845, 7 Personen), Schneider Albert Krampe (1846, 1 Person), Zimmermann Albert Brüggemann (1846, 1 Person), Ackerknecht Johann Bernh. Schnetjan (1847, 2 Personen), Kötter Johann Bernhard Bernemann (1847, 8 Personen), Zeller Johann Heinrich Kremer gt. Pieper (1847, 10 Personen), Magd Elisabeth Alef (1847, 1 Person), Magd Catharine Elisabeth Alef (1847, 1 Person), Weber Albert Schäper (1847, 1 Person), Weber Bernhard Schäper (1847, 1 Person), Kötter Johann Bernhard Kleine-Bernemann (1847, 3 Personen), Zeller Heinrich Holtkamp (1847, 4 Personen), Heinrich Berns (1847, 4 Personen), Ackersmann Johann Heinrich Linnemann (1847, 2 Personen), Schmied Heinrich Schulte (1849, 1 Person).
Rhade: Bernhard Noendorf (1844, 3 Personen), Heinrich Noendorf (1844,7 Personen), Bernhard Overwien (1844, 4 Personen), Margarete Horstick (1844, 1 Person), Bernhard Bruns gt. Kortendick (1847, 4 Personen), Bernhard Bramert (18147, 1 Person), Franz Bramert (1847, 2 Personen), Wilhelm Thie (1847, 1 Person), Johann Theodor Elskamp (1849, 6 Personen).
Wulfen: Hermann Helming (1847, 1 Person), Wilhelm Wencke (1847, 1 Person), Theodor Wencke (1847, 8 Personen).
Holsterhausen: Bernhard Soppe (1844, 6 Personen), Heinrich Fuestmann gt. Kresken (1847, 10 Personen), Heinrich Schulte (1849, 1 Person).
Altschermbeck: Johann Theodor Hünerschulte (1844, 4 Personen), Adolf Holtkamp (1844, 2 Personen), Johann Lüning (1844, 1 Person), Schattmann gt. Underberg (1844, 1 Person), Joseph Hoffmann (1844, 1 Person), Bernhard Huckels (1844, 7 Personen), Johann Leineweber gt. Kuhlmann (1844, 7 Personen), Franz Schulte-Huckels (1844, 1 Person), Johann Heinrich Rüter (1848, 1 Person), Heinrich Joseph Hemsteger (1848, 1 Person), Johann Schlickmann (1848, 4 Personen).
Erle: Johann Heinrich Nienpöter (1847, 1 Person), Johann Heinrich Pötter (1847, 3 Personen), Albert David (1847, 3 Personen), Joseph David (1847 5 Personen).
Siehe themenähnliche Einträge in www.dorsten-lexikon.de:
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Joan Theodor Hütter, Handwerker, ausgewandert nach Amerika, Spokane, Washington State; Ehefrau: Ana Kruse; Kinder: Maria Elisabeth Hütter, Maria Christina Hütter, Johan Theodore Hütter, Johann Heinrich Hütter;
Wilhelm Schröer, Landwirt, 16. Februar 1924, Brasilien, Rio Grande do Sul
Franz Schröer, Landwirt, 16. Februar 1924, Brasilien, Rio Grande do Sul
Johannes Schröer, Landwirt, 16. Februar 1924, Brasilien, Rio Grande do Sul
Wilhelm Friderich Hütter, Handwerker, ausgewandert nach Amerika, Lansing, Ingham, Michigan
Dieser Artikel kommt gerade zur rechten Zeit. Satt und sicher, so wie nun die meisten Menschen hier leben, war es nun mal nicht zu allen Zeiten, wie Herr Stegemann in dem von ihm gewohnt unaufgeregt eindringlich präzisen Schreibstil aufzeigt. Auch meine Urur-Großtante hatte sich einst als junge Frau bei Nacht und Nebel auf den Weg gemacht, um ihr Glück in einem anderen besseren Land zu finden. Man hat nie wieder von ihr gehört.
Ein sehr gut geschriebener Beitrag der mich berührt hat.
Lg Lisa
Dieser Bericht hat mich zutiefst berührt, zeigt er doch auf angenehm unaufgeregte Weise auf, wie es uns Deutschen vor gar nicht so langer Zeit erging. Nicht anders als den sogenannten Gastarbeitern heute bei uns, im mittlerweile reichen Deutschland. Da sehe ich keinen Unterschied zwischen Spekfretters, Kümmeltürken und Spaghettifressern.