Zurückgeblättert: Die Stadt wollte 1830 Residenzstadt in einem „Landräthlichen Kreis Dorsten“ mit den zwei Städten und 28 Landgemeinden werden – Absage

Das idyllisch gelegene Dorsten 1823 mit Blick auf die Nordseite der Stadt

Von Wolf Stegemann

Im Zuge der Neuordnung Europas nach den napoleonischen Kriegen entstanden im preußischen Regierungsbezirk Münster 1816 zehn landrätliche Kreise, darunter der Kreis Recklinghausen, der im damaligen Preußen mit 38.000 Einwohnern und 781 Quadratkilometern größter Kreis war und von dem Landräthlichen Commissair Graf Wilhelm von Westerholt geleitet wurde. Das Territorium umfasste das gesamte Vest mit den Städten Recklinghausen und Dorsten sowie 28 Landgemeinden, die von Bürgermeistereien (Fortbestand der vormaligen „Mairien“) verwaltet wurden. Auch die bis dahin fürstbischöflich-münstersche Herrlichkeit Lembeck – bis dato zum Amt Ahaus gehörig – mit den Gemeinden Lembeck, Rhade, Erle, Wulfen und Altschermbeck wurde 1816 mit dem Kreis vereinigt. Der Name Vest Recklinghausen hat sich bis heute erhalten und deckt den größten Teil des Kreises Recklinghausen ab. Die Festlegung der Kreisgrenzen zog sich bis 1830 hin.

Im „Argus“ stand: Dorsten könnte Residenzstadt werden

Eine Argus-Ausgabe aus dem Jahr 1806

In dieser Zeit bemühte sich die Stadt Dorsten darum, Kreissitz des Kreises Recklinghausen zu werden. Bereits 1804 warb der Dorstener Verleger Carl August Schüerholz in seiner Zeitung „Der Argus“ dafür, dass die Inhaber des Vests Recklinghausen, die Herzöge von Arenberg, Dorsten als Residenzstadt erwählen könnten. Dieses Thema griff der Rat der Stadt am 4. Juni 1830 erneut auf, indem er dem Grafen von Merveldt einen Brief schrieb, der im Gräflich Merveldtschen Archiv in Lembeck vorhanden ist:

„Hochgeborener Graf, Hochzuverehrender Herr Geheimer Rath, Gnädiger Herr!
Ew. Exzellenz erlauben wir uns unterthänigst vorzutragen, dass wir nach der erfolgten definitiven Organisation der hiesigen Kreisbehörde uns an die Königliche Regierung mit dem Antrage um Erhebung der Stadt Dorsten zur Kreis-Stadt des hiesigen Kreises gewendet hatten. […] Die Lage unserer Stadt an der schiffbaren Lippe wodurch sie für den hiesigen Kreis der Hauptort zum Ankaufe der Bedürfnisse sowohl als für den Absatz der Producte wird; der wöchentliche hiesige Korn-Markt, welcher durch den Handel nach dem Bergischen und nach Holland eine fortwährende Quelle zum Absatze öffnet, und endlich der Handelsverkehr der Stadt selbst führen schon eine ununterbrochene Verbindung der Eingesessenen des Kreises mit der Stadt herbei, während Recklinghausen von aller Handels-Kommunikation entblößt selbst seine Waaren hier einkäuft und dagegen sein Korn hier absetzt. […] Dass die hiesige Poststraße zu jeder Zeit die Verbindung mit der hiesigen Stadt außerordentlich erleichtert, dass Dorsten selbst in geographischer Hinsicht mehr in den Mittelpunkt des Kreises und den verehrlichen Kreisständen näher belegen ist als die Stadt Recklinghausen, und dass endlich Dorsten, in den Zeiten des Krieges allen Drangsalen Preis gegeben, den billigen Anspruch auf größere Berücksichtigung im Frieden vor der Stadt Recklinghausen begründet hat. […] Die Bürgerschaft der Stadt Dorsten.“

Abfuhr durch den Grafen von Merveldt

Die Stadt brauchte auf die Abfuhr des Grafen nicht lange zu warten. Er antwortete am 5. Juli 1830 u. a.:

„Nach Lage der Sachen und Verhältnisse möchte über die in dem geehrten Schreiben berührte wichtige Angelegenheit am 7ten noch kein definitives Gutachten zu Stande kommen, weil solche wenig besprochen und erwogen, und man die Stadt Recklinghausen nicht gern aus ihrem Besitz setzen wird. Ich verharre mit vollkommener Hochachtung Eurer Hochgeehrten Bürgerschaft dienstergebener
von Merveldt.“

Ob es noch zu weiteren Verhandlungen um das Anliegen Dorstens, Kreisstadt zu werden, gekommen ist, ist nicht bekannt. Es ist anzunehmen, dass die Erbauer (oder Gründer?) des Kreises, Freiherr vom und zum Stein, Graf von Merveldt und mit ihnen Landrat Devens gegen die Verlagerung nach Dorsten waren. Recklinghausen blieb Kreisstadt und Kreissitz. Landrat Devens verwaltete als erster Landrat den Kreis bis zu seinem Tod in Jahre 1849.

Übergewicht der Grundbesitzer im Kreistag beseitigt

Früheres Kreishaus in Recklinghausen

Die in Westfalen noch gültig gewesenen zehn verschiedenen Grundsteuerverfassungen wurden 1838 vereinheitlicht und anstelle der aus französischer Zeit stammenden Gemeindeverfassungen kam 1841 die westfälische Landgemeindeordnung, die 1851 wiederum von der westfälischen Städteordnung ersetzt wurde. Sie überließ den Städten die Wahl zwischen der monokratischen Bürgermeisterverfassung und der kollegialen Magistratsverfassung. 1849 wurde Recklinghausen Sitz des Landrats. Die Provinzialstände entwickelten sich zum Provinzialverband und bekamen 1871 Teile der Verwaltung übertragen. 1887 wurde im Kreistag das Übergewicht der Großgrundbesitzer beseitigt und der Kreistag in eine Repräsentationsversammlung der Abgeordneten der drei Wahlverbände (Grundbesitzer, Ämter, Städte) umgewandelt. 1913 wurden aus den acht Ämtern im Kreis 13 gemacht, zu denen das Amt Lembeck (mit den Gemeinden Lembeck, Wulfen, Hervest) und das Amt Altschermbeck (mit den Gemeinden Altschermbeck, Erle, Rhade, Holsterhausen) gehörten. 1919 wurden alle bestehenden Kreistage aufgelöst und Neuwahlen erstmals als Volkswahlen ausgeschrieben. Nicht mehr die kreisangehörigen Gemeinden sondern die Parteien dominierten den Kreistag. Mehrere Entlassungen und Zugewinne von Gemeinden veränderten den Kreis im darauffolgenden Jahrzehnt. Nach 1945 vollzog sich als Gegenschlag zu staatlicher Dominanz des Kreises eine überbetonte Kommunalisierung der Kreisverwaltung durch die Besatzungsmacht. 1999 wurde die seit 150 Jahren bestehende Doppelspitze Landrat/Oberkreisdirektor abgeschafft; seither ist der Landrat zugleich Verwaltungschef.

 

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Ein Kommentar zu Zurückgeblättert: Die Stadt wollte 1830 Residenzstadt in einem „Landräthlichen Kreis Dorsten“ mit den zwei Städten und 28 Landgemeinden werden – Absage

  1. Wilhelm Schürholz sagt:

    Ein wirklich lesenswerter Artikel! Es war sicher mutig und selbstbewusst von der damaligen Bürgerschaft (und meines Ahnen Carl August Schürholz bereits 26 Jahre vor dem Verfassen dieses Briefes), diesen Anspruch anzumelden. Meine Anregung an Herrn Stegemann für eine Fortsetzung des Artikels: Welches wirtschaftliche und politische Gewicht hat die Stadt Dorsten heute im Kreis, was zeichnet die Stadt heute aus? Gerne auch mit einer bewertenden Analyse.
    Anmerkung der Redaktion Danke! Ihr Kommentar, Herr Schürholz, ist der 500., der auf die bislang 252 Artikel veröffentlicht wurde! Danke auch für die Anregung! W. St.

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