Von Helmut Frenzel
9. Oktober 2015. – Der Strom der Flüchtlinge aus Krisenländern nach Deutschland ist in diesen Tagen allgegenwärtig. Die Zuwanderungswelle wird unser Land verändern, heißt es. Wer auf die neuesten Daten zur Bevölkerungsentwicklung unserer Stadt blickt, der könnte solche Voraussagen bestätigt sehen. Denn es fällt sofort auf, dass 2014 für Dorsten kein Jahr wie jedes andere war. Um 108 ist die Zahl der Einwohner von Dorsten gesunken – wohlgemerkt: nur um 108. Es ist der geringste Rückgang in einem einzelnen Jahr seit dem Umschwung in der Bevölkerungsentwicklung 2001, ausgelöst durch die Schließung der Zeche Fürst Leopold. Seither verlor die Stadt jährlich etwa 500 Einwohner. Und nun das: 2014 verminderte sich der Rückgang um rund 400 auf nur noch gut 100. Zum Jahresende betrug die Zahl der Einwohner 75.439.
Es liegt nahe, die jüngste Entwicklung mit dem Zustrom von Flüchtlingen in Verbindung zu bringen. 2014 wurden der Stadt 290 Personen zugewiesen. Sie werden in der Statistik als Zuwanderer erfasst und als Einwohner mitgezählt. Der Zustrom scheint den gebremsten Rückgang der Einwohnerzahl größtenteils zu erklären. Aber die Daten des Statistischen Landesamtes sagen etwas anderes. Es sind mehrere Faktoren, die zusammenwirken. Welche das sind zeigt die nachstehende Übersicht.
Abwanderung bei Deutschen rückläufig
Tatsächlich hat der Wanderungssaldo insgesamt (Zugezogene minus Fortgezogene) 2014 das Vorzeichen gewechselt: aus einer Netto-Abwanderung ist eine Netto-Zuwanderung geworden, aus einem Wanderungsverlust von 191 Einwohnern ein Zugewinn von 95 Personen. Den größten Anteil an dieser „Wende“ können allerdings die deutschen Einwohner beanspruchen. Der Wanderungsverlust in dieser Gruppe hat sich 2014 gegenüber den Vorjahren annähernd halbiert. Während die Zahl der Zugezogenen in etwa konstant blieb, verminderte sich die Zahl der fortgezogenen Einwohner um etwa 180. Diese Entwicklung ist, weil unerwartet, eine Überraschung.
Demgegenüber fällt der Beitrag der Ausländer, unter denen die Flüchtlinge erfasst sind, zu dieser „Wende“ deutlich geringer aus – auch das eine Überraschung. Der Wanderungsgewinn bei Ausländern, der schon in den Vorjahren zu verzeichnen war, hat sich 2014 lediglich um 116 Personen erhöht. Das ist darauf zurückzuführen, dass es nicht nur eine wachsende Zahl von ausländischen Zuwanderern gibt (2014: + 283 gegenüber Vorjahr) sondern auch eine wachsende Zahl von ausländischen Abwanderern (2014: + 167 gegenüber Vorjahr). Zu berücksichtigen ist dabei, dass in den Statistiken zu „Ausländern“ nicht nur Flüchtlinge, sondern alle Personen erfasst sind, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben.
Leichter Anstieg der Zahl der Geburten
Ein bescheidener Beitrag zur „Wende“ ist einem Rückgang des Geburtendefizits zuzuschreiben. Während die Zahl der Sterbefälle 2014 zwar etwas niedriger (- 36), aber immer noch im Rahmen der Schwankungsbreite der vergangenen Jahre liegt, hat die Zahl der Geburten leicht zugelegt (+ 33). Ob das schon den Beginn einer Trendwende darstellt, werden erst die nächsten Jahre erweisen.
Die Bevölkerungsentwicklung 2014 kann man so zusammenfassen: Das verhältnismäßig „stabile“ Geburtendefizit wird erstmals wieder durch einen Wanderungsgewinn teilweise kompensiert. Dazu trägt hauptsächlich eine verringerte Abwanderung der deutschen Einwohner bei, zu einem kleineren Anteil die wachsende Zahl von zuwandernden Flüchtlingen.
Auswirkungen auf Bevölkerungsentwicklung noch nicht abzuschätzen
Die Frage stellt sich, ob dieser Befund an den bisherigen Prognosen zur längerfristigen demographischen Entwicklung der Stadt etwas ändert. Dazu zunächst wieder ein Blick auf die Flüchtlingsbewegung. Von den der Stadt zugewiesenen Flüchtlingen wird ein erheblicher Anteil kein Bleiberecht erhalten. Schaut man die Liste der Herkunftsländer an, könnte der Anteil bei über 50 Prozent liegen. Wenn die Bundesregierung ernst macht mit ihrem Vorhaben, die Asylverfahren zu beschleunigen und Migranten ohne Bleiberecht zügig in ihre Heimatländer zurückzuschicken, wird der Wanderungszugewinn bei Ausländern schrumpfen und früher oder später in einen Wanderungsverlust umschlagen. Wie schnell das geschieht, hängt von der Stärke des künftigen Flüchtlingszustroms ab. Von den ausländischen Zuwanderern, die ein Bleiberecht erhalten, wird ein nicht vorhersagbarer Anteil Dorsten verlassen und in Orte ziehen, in denen sie Arbeit finden. Ein ebensowenig vorhersagbarer Anteil wird Dorsten erhalten bleiben und die demographische Entwicklung positiv beeinflussen, je länger der Zustrom andauert desto mehr.
Mindestens ebenso wichtig dürfte der Aspekt sein, ob sich die Abwanderung deutscher Einwohner dauerhaft verlangsamt. Sie stellen 95 Prozent der Gesamtbevölkerung von Dorsten. Die Gründe dafür, warum 2014 spürbar weniger Deutsche als in der Vergangenheit der Stadt den Rücken kehrten, sind unklar und man kann darüber nur spekulieren. Handelt es sich um einen einmaligen Ausreißer oder bildet sich ein neuer Trend heraus? Um dies beurteilen zu können, wird man die Zahlen nach 2014 abwarten müssen. Dasselbe gilt für die Geburten.
Aktuelle Zahlen des Statistischen Landesamts sind bislang nicht verfügbar. Nur so viel steht schon jetzt fest: bis Ende August 2015 wurden Dorsten 280 Flüchtlinge zugewiesen. Bis Ende des Jahres ist mit einem weiteren Anstieg zu rechnen. Damit ist absehbar, dass der Einfluss der Flüchtlingsbewegung auf die Bevölkerungsentwicklung der Stadt vorerst zunehmen wird.