Flüchtlinge 2015: Dorsten praktiziert ein menschenwürdiges Modell. Chronologie der Not und Notwendigkeiten, der Hilfe und Hilflosigkeiten

Harte Zeiten der Flucht liegen hinter den meiste AsylbewerbernVon Wolf Stegemann

„Wenn ein Flüchtling bei Euch wohnt in eurem Land, den sollt Ihr nicht bedrücken. Er soll bei Euch wohnen wie ein Einheimischer unter Euch und Du sollst ihn lieben wie Dich selbst, denn Ihr seid auch Flüchtlinge gewesen im Ägyptenland.“ –  3. Mose 19, 33, 34

25. September 2015. – Deutsche waren oft Flüchtlinge, vertrieben aus ihrer Heimat, weil sie der „falschen“ Konfession angehörten, sie Missernten, anhaltende Not und Hunger hatten, weil ihre Heimat von Fremden besetzt wurde oder – wenn sie Juden waren – von ihren eigenen Landsleuten aus ihrer Heimat verjagt wurden. Vielen von denen, die nach 1945 aus dem Osten kamen und hier trotz aller heutigen Beschönigungen unwillkommen aufgenommen werden mussten, wurden auch beschimpft und drangsaliert. – Heute flüchten andere.

Bis Jahresende 2014 stieg die Zahl der in Dorsten aufgenommenen Flüchtlinge auf 290. Im Frühjahr 2015 waren es bereits 427, die u. a. im ehemaligen Wasser- und Schifffahrtsamt an der Crawleystraße und in den städtischen Obdachlosenunterkünften an der Luisenstraße untergebracht waren. Die Verteilung der Flüchtlinge vom Bund auf die Länder erfolgt anhand eines Schlüssels (Einwohnerzahl und Flächengröße).

Ehemaliges Hotel Berken dient Flüchtlingen als Unterkunft

Außen noch Hotel, innen Wohnheim; Foto: Frenzel

Als die Stadt mit weiteren Zuweisungen rechnen musste, pachtete sie das ehemalige Hotel Berken (An der Molkerei) auf Zeit und brachte dort im April 35 Flüchtlinge unter. Die waren zum Zeitpunkt der Anpachtung und des Umbaus allerdings noch nicht in Dorsten. – Für die Unterbringung von Flüchtlingen entwickelte die Stadt beispielhaft ein „menschenwürdiges Konzept“. Rund die Hälfte der Flüchtlinge konnten nach diesem Modell in privaten Unterkünften untergebracht werden. Die Hilfe aus der Bevölkerung stieg im Frühjahr 2015 zusehends. Anke Klapsing schrieb in der „Dorstener Zeitung“: „Die Übergangslösung ,Hotel Berken’ ist ein weiterer notwendiger Baustein, der dieses Modell trägt. Auch wenn das sicherlich nicht jedem gefallen wird.“
Der Caritas-Fachdienst für Integration, dem sich die Agentur für Ehrenamt anschloss, suchte tatkräftige und ehrenamtliche Helfer für Umzüge der Asylbewerber und Flüchtlinge, die von den Wohnheimen in eigene Wohnungen umziehen konnten. Die Nachfrage nach solchen Hilfeleistungen nahm zu und die Helfer waren auch da. So hieß es im Februar 2015:

„So sind alle Dorstener gefragt, die Zeit und Geduld und Geschick mitbringen, um die Neuankömmlinge zu unterstützen, und ihnen dabei helfen, sich in Dorsten heimisch zu fühlen.“

Nur ein Flüchtling kam im Monat März nach Dorsten

Wohnheim an der Crawleystraße; Foto: Frenzel

Einen Monat später gab die Stadt „Entwarnung“, da im März 2015 nur ein einziger Mensch als Flüchtling nach Dorsten gekommen war. In Recklinghausen wurden bereits bestehende Flüchtlingsnotunterkünfte in Schulen wieder aufgelöst. Und das renovierte ehemalige Hotel Berken stand leer. Man wollte aber nicht Flüchtlinge, die bereits woanders untergebracht waren, dort hinbringen. Allerdings kamen die für das Haus Berken vorgesehenen Flüchtlinge dann doch noch. Die 22 Erwachsenen und 13 Kinder kamen aus Ghana, Syrien, China und Albanien. Sie hatten abenteuerliche Fluchten aus ihren Heimatländern hinter sich.
Während die Flüchtlingszahlen weiter anstiegen, Menschen bei ihrer Flucht im Mittelmeer zu Tausenden ertranken, sprachen immer häufiger Politiker von Flüchtlingswalzen, Flüchtlingsschwemme und von Flüchtlingswellen, die einzudämmen seien.

Im ersten Halbjahr 2015 kamen in NRW 43.000 Menschen an. Mitte 2015 war es auch, als die Wirtschaftsverbände in Deutschland massiv vom „Potenzial der Zuflucht Suchenden“ sprachen, von Arbeitskräftemangel, der durch Flüchtlinge und Asylbewerber behoben werden könnte. Während die Bevölkerung große Hilfsbereitschaft den Flüchtlingen entgegenbrachte, wurden gleichzeitig vorgesehene Flüchtlingsunterkünfte von rechtsgerichteten Bürgern  abgebrannt. Die Hetze sowie andere Übergriffe gegen Flüchtlinge stiegen gewaltig und gewaltsam an, wozu manche Politiker verbal das Ihre dazu gaben.

Im Kreis 136 politisch motivierte Straftaten gegen Flüchtlinge

Protest (nicht Dorsten)

Das alles erinnert an 1991/93, als fast täglich in Deutschland Flüchtlinge tätlich überfallen wurden. Die Überfallenen wurden von vielen Politikern damals nicht als Opfer, sondern als Störer angesehen. Man tat so, als seien die Ausschreitungen Folge eines übergesetzlichen Notstands. Aus ihrer Sicht waren die Angriffe als eine Art Notwehrexzess zwar nicht zu rechtfertigen, aber zu entschuldigen. Und 30 Jahre später? Seit Jahren protokollieren Mitarbeiter der Berliner „Amadeu Antonio Stiftung“ Angriffe gegen Migranten und Flüchtlinge anhand von Polizeimeldungen und Nachrichten in Lokalzeitungen sowie Berichten von Flüchtlingsorganisationen. Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Im Osten kommt es besonders häufig zu Fällen von Körperverletzung gegen Asylsuchende. Auch im Süden und im Westen der Bundesrepublik verzeichnet die Polizei viele Fälle von Brandstiftungen gegen Flüchtlingsunterkünfte, wobei Bayern und Württemberg hohe Deliktzahlen aufweisen. In Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen hingegen gibt es die meisten Demonstrationen gegen die Unterbringung von Flüchtlingen. Ende August verkündete die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), dass sich Nazi-Übergriffe auf Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen verfünffacht hätten. Für den Kreis Recklinghausen gab das Polizeipräsidium die Delikte mit fremdenfeindlichem Hintergrund bekannt: 2014 gab es 163 politisch motivierte Straftaten, von denen 127 auf „rechts“ entfielen. Das Gros der Fälle waren so genannte „Propaganda-Delikte“ wie Farbschmierereien, Sachbeschädigungen durch Aufkleben und Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen. Pamphlete mit Morddrohungen hatte es in Herten gegeben und das Internet wurde auch aus den Kreisstädten für Hetze gegen Ausländer genutzt.

Internationalität: 502 Personen aus 34 Ländern in Dorsten

Die „Dorstener Tafel“, welche Lebensmittel an Bedürftige abgibt, musste im Juni zwischenzeitlich für eine kurze Zeit schließen, weil deren Kapazität – rund 1.000 Personen – erschöpft war. Bis Mitte dieses Jahres lebten 502 Asylbewerber in der Stadt, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekamen. Davon wohnten 275 Personen in städtischen Unterkünften, 227 in privatem Wohnraum. Die Menschen kamen aus 34 Ländern. Hauptherkunftsländer waren Albanien (75), Serbien und Montenegro (68), Mazedonien (64), Syrien (41), Kosovo (33), Eritrea (23) und Algerien 21).

Altes Petrinum jetzt eine Landesnotunterkunft für Erstaufnahme

Landesnotunterkunft im alten Petrum; Foto: Frenzel

Das Land finanziert bei Zuweisungen von Flüchtlingen an Kommunen so genannte Landesnotunterkünfte für die Erstaufnahme. Eine solche wurde im Gebäude des alten Petrinum an der Bochumer Straße (zuletzt Musikschule) eingerichtet. Vorerst für 200 Flüchtlinge, wenig später wurde die Zahl auf 300 erhöht. Bei Unterbringungen von zugewiesenen Flüchtlingen zahlt das Land im Normalfall 20 bis 25 Prozent der Kosten, die der Stadt entstehen. Bei Landesnotunterkünften trägt das Land alle Kosten. Während der Umbauarbeiten des alten Petrinum – wie vordem an der Molkerei (Berken) – informierte die Stadt die Anwohner in einer Versammlung über das Vorhaben und verteilte Handzettel in den umliegenden Straßen. Die Nachbarschaftshilfe, darunter auch tatkräftig der Schützenvereine Altstadt und Feldmark, war daraufhin groß. Die Notunterkunft im alten Petrinum ist eine Durchlaufstation für Flüchtlinge, die nach wenigen Tagen anderen Städten zugewiesen werden, wo sie dann bis zur Klärung ihres Status einen dauerhaften Wohnsitz erhalten. In eigene Wohnungen dürfen in Dorsten Bleibeberechtigte nach 24 Monaten einziehen.

Innenraum im Alten Petrinum; Foto: Radio Vest

Neun Landesnotunterkünfte

Im Kreis Recklinghausen gibt es insgesamt neun Landesnotunterkünfte in acht Städten: Recklinghausen (2), Gladbeck, Castrop-Rauxel, Herten, Marl Dorsten, Oer-Erkenschwick und Haltern. Die Dorstener Einrichtung an der Bochumer Straße wird vom Arbeiter-Samariter-Bund betreut. Seit Oktober steht die Jugendherberge Lembeck, Im Schöning, ebenfalls als Notunterkunft des Landes für 107 Flüchtlingen zur Verfügung. Sie wird danach wieder als Jugendherberge genutzt werden.

Schulpflicht für Flüchtlingskinder füllt die Klassenräume

Da Kinder, die in Deutschland wohnen, grundsätzlich und grundgesetzlich schulpflichtig sind – ganz gleich welchen Status sie haben – mussten sich die Schulen darauf vorbereiten. Mitte Mai gab es unter den Flüchtlingen 144 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren. Darunter waren die zweijährigen Kinder am häufigsten vertreten. 21 der 70 bis sechsjährigen Kinder besuchen einen Kindergarten. Schulpflichtige Kinder sind hauptsächlich in der Agatha-, Augusta- und Grüne Schule aufgenommen. Bei den weiterführenden Schulen hat beispielsweise zum Schuljahresbeginn die Dietrich-Bonhoeffer-Hauptschule in Holsterhausen 40 Kinder in unterschiedlichem Alter aus Ägypten, Syrien, Sri Lanka, dem Iran und verschiedenen Balkanländern aufgenommen. Sie lernen Deutsch als Fremdsprache. Beklagt wird von Lehrern, dass zusätzlich Integrationsfachlehrer fehlten. In der von-Ketteler-Schule und der Augustaschule kümmern sich seit 2011/12 Sozialarbeiterinnen um Kinder mit Migrationshintergrund. Dabei werden vor allem auch die Eltern in die Arbeit mit einbezogen, um die Bildungschancen der Kinder zu verbessern.

Deutschkurse mit 200 Unterrichtsstunden für 20 Personen

Deutsch lernen hat Vorrang; Foto: SZ

Im September wurde über die Zeitung nach Möglichkeiten der Finanzierung weiterer Sprachkurse für Flüchtlinge gesucht und die Leser um Spenden gebeten. Denn ein  Sprachkurs „Deutsch als Fremdsprache“ für 20 Lernwillige bei 200 Unterrichtsstunden kostet zwischen 4.000 und 5.000 Euro. Der Lions Club Dorsten hat bereits einen Kurs finanziert. Die Kurse finden in den Asylunterkünften an der Crawleystraße und an der Luisenstraße statt. Ebenso wurden Dorstener als so genannte „Integrationslotsen“ gesucht, die den hier wohnenden Flüchtlingen bei Behörden- und Arztgängen helfen. Nordrhein-Westfalen rechnet für dieses Jahr mit insgesamt 170.000 Menschen. Die Stadt Dorsten richtet sich also permanent auf neue Flüchtlinge ein, die sie unterzubringen haben wird. Am Holzplatz richtete die „Dorstener Arbeit“ eine Lagerhalle für die vielen abgegeben Sachspenden ein, darunter Kleidung, Schuhe, Fahrräder, Spielzeug u. a. ein. Da kamen so viele Spenden an, dass die Halle geschlossen werden musste. Die Hervest-Dorstener „Mr.-Trucker-Kinderhilfe“ richtete mit 10.000 Euro eine Fonds für besondere Maßnahmen zugunsten von Flüchtlingskindern ein. Viele andere halfen ebenfalls.

Bund finanziert jetzt mit

Der für Dorsten zuständige CDU-Bundestagsabgeordnete Sven Volmering kündigte zusätzliche Bundesmittel für medizinische Versorgung, Unterbringung und Ernährung von Flüchtlingen in Höhe von 470.000 Euro an, die am 31. Oktober fällig seien. Denn der Bund habe noch für 2015 mehr als eine Milliarde Euro für Kommunen freigestellt. Mit Stand Mitte September 2015 sind in Dorsten Asylbewerber untergebracht: Luisenstraße  (77 Menschen), Apostelstiege (35), Beckenkamp (41), Verspohlweg (15), Kleiner Ring (4), Marler Straße (5), An der Wienbecke (18), Am Wall (5), Crawleystraße (55), Idastraße (4), An der Molkerei (41). – Altes Petrinum Bochumer Straße (297).

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Quellen: „Dorstener Zeitung“ vom 13., 18.  Februar; 20. März; 27. Juni; 11., 24., 25. Juli; 31. August; 12., 15. September 2015.
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Ein Kommentar zu Flüchtlinge 2015: Dorsten praktiziert ein menschenwürdiges Modell. Chronologie der Not und Notwendigkeiten, der Hilfe und Hilflosigkeiten

  1. Köster sagt:

    Bleibt abzuwarten, wann die Stimmung kippt. Hoffen wir das Beste für alle Beteiligten.