Von Wolf Stegemann
Die Arbeitslosigkeit während der Wirtschaftskrise stieg durch Stilllegungen großer Betriebe, durch den Preisverfall in der Landwirtschaft, wobei es den Familienbetrieben im Westen besser ging, denn ihre überwiegend viehwirtschaftlichen Erzeugnisse erzielten in der Regel noch bessere Preise. Die Masseneinkommen waren rückläufig, die Steuern stiegen und die öffentlichen Ausgaben wurden drastisch gekürzt. Auf dem Verordnungsweg wurden die tariflich festgelegten Löhne heruntergeschraubt, Industrie und Handel investierten nicht mehr. So stieg die Arbeitslosenzahl während Reichskanzler Brünings Amtszeit von 2,3 auf 6 Millionen. Seine exportorientierte Beschäftigungspolitik war fehlgeschlagen. Auch seine binnenmarktorientierte Beschäftigungspolitik hatte keinen Erfolg. Die vorgesehenen Notstandsarbeiten (Wegebau, Siedlungsbau) stellten aber einen Ausgleich für gewisse unpopuläre Sparmaßnahmen (drastische Kürzung der Arbeitslosenversorgung) dar. Nicht wirtschaftliche Ankurbelung, sondern die Beschäftigung von Arbeitslosen war das Ziel des im Mai beschlossenen Programms, das lediglich zusätzliche Ausgaben von 20 Reichsmark pro Arbeitslosen vorsah und somit nichts weiter als eine leere Geste war.
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen griffen später die Nationalsozialisten auf
In den letzten beiden Monaten der Weimarer Republik verlagerte die Regierung Schleicher den Akzent der Antidepressionspolitik und stellte gerade die unmittelbare Arbeitsbeschaffung in den Vordergrund. Doch es war zu spät. Unter dem Motto „Arbeit schaffen!“ sollte das Reich Ausgaben für Befestigungsanlagen und Waffen tätigen, während die Länder und Gemeinden die ihnen zufließenden Mittel zur Reparatur und Verbesserung bestehender Anlagen, für den Straßen- und Wohnungsbau, im kommunalen Versorgungsbereich einsetzen sollten. Dabei waren bestimmte Auflagen zu beachten, wie beispielsweise möglichst geringer Einsatz von Maschinen und eine Höchstarbeitszeit von 40 Wochenstunden. Diese Bündel an arbeitsbeschaffungspolitischen Programmen zur Jahreswende 1932/33 bildeten wenig später die Grundlage für die groß angelegte Ankurbelungspolitik der Nationalsozialisten.
Sechs Millionen gemeldete Arbeitslose
Die Zahl der bei den Arbeitsämtern gemeldeten Arbeitslosen erreichte im Februar 1932 mit 6,128 Millionen ihren Höchststand (1925 waren es nur 400.000). Zusammen mit den drei Millionen Kurzarbeitern waren Zweidrittel aller arbeitsfähigen Deutschen von der Wirtschaftskrise betroffen. Die Unterstützungszahlungen waren nach der Dauer der Arbeitslosigkeit gestaffelt: Zunächst wurde aus der Arbeitslosenversicherung eine Hauptunterstützung gezahlt, die zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert wurde. Nach Auslaufen der Hauptunterstützung setzte eine Krisenunterstützung ein, die zu Vierfünftel vom Reich und zu Einfünftel von den Gemeinden aufgebracht werden musste. Nach dieser Haupt- und Krisenunterstützung erhielt der Arbeitslose nach weiteren sechs Monaten eine erheblich reduzierte Fürsorgeunterstützung von der Gemeinde. Im Februar 1931 bekamen 43 Prozent Arbeitslosenversicherung, 21 Prozent Krisenfürsorge, 23 Prozent Gemeindefürsorge und 13 Prozent erhielten überhaupt keine Unterstützung.
Große Opfer im westfälischen Industriegebiet
Im westfälischen Industriegebiet forderte die Krise besonders große Opfer. Allein im Mai 1930 lief die Sperrfrist von 100 Stilllegungsanträgen von Betrieben ab, von denen 60 allein auf die Metallindustrie fielen und 7.000 Arbeiter freigesetzt wurden. Die Belegschaft des rheinisch-westfälischen Kohlenbergbaus, zu dem auch Baldur in Holsterhausen und Fürst Leopold in Hervest-Dorsten gehörten, hatte im Lauf des Jahres 1930 eine Belegschaftsverminderung von 35.000 Mann erfahren, was neun Prozent bedeutete. Und immer noch stiegen die Kohlehalden an und der Tiefpunkt der Depression war noch nicht erreicht. Stilllegungsanträge von Betrieben nahm der Demobilmachungskommissar entgegen. Im Mai 1930 beantragten die Vereinigten Stahlwerke in Bochum die Entlassung von 600 Mitarbeitern, die Zeche Mansfeld in Langendreer von 700 Mann. Auf der Zeche Fürst Leopold in Hervest-Dorsten wurden 82 Bergarbeiter entlassen, die Ziegelei auf der Schachtanlage Hugo II wurde stillgelegt sowie die Kokerei der Zeche „Robert Müser“ in Langendreer.
Zur gleichen Zeit waren in Holsterhausen 380 Arbeitslose gemeldet; 968 Kinder waren betroffen. In Hervest-Dorsten waren es 300 mit 402 betroffenen Kindern. Insgesamt musste die Nebenstelle Hervest-Dorsten des Arbeitsamtes Gladbeck für Dorsten und den Bezirk der Herrlichkeit Lembeck 6.095 Personen mit geldlichen Mitteln unterstützten. In diesen Tagen und Wochen waren die Schlagzeilen in der „Dorstener Volkszeitung“ fast immer gleich: „Keine Erleichterung auf dem Arbeitsmarkt“, „Verschlechterung des Arbeitsmarktes“, „Weitere Verschlechterung des Arbeitsmarktes“, „Anhaltende Flaute des Arbeitsmarktes zu Ostern“. Die „Dorstener Volkszeitung“ berichtete am 17. April 1930:
„Trotz der Kündigungen auf der Zeche Fürst Leopold und Baldur trat ein Schichtenausfall von 6.500 ein. Auch die Ziegelei der Zeche Fürst Leopold verfügt noch über hohe Bestände. Die Kalksandsteinfabrik von Baldur liegt vorläufig still. Der Lagerbestand geht bis in die Millionen Steine.“
Auch andere Dorstener und Hervester Firmen hatten gleich gelagerte Probleme, die Dorstener Eisengießerei und Maschinenfabrik stellte einen Stilllegungsantrag. Dagegen konnten die Teppichfabrik Stevens & Schürholz, die Holsterhausener Bleicherei Paton, die Dorstener Drahtwerke und die Westfälischen Sand- und Tonwerke in Holsterhausen in der ersten Hälfte des April 1930 von Kündigungen noch absehen.
Arbeitslosigkeit um 250 Prozent gestiegen
Am 10. August berichtete die „Dorstener Volkszeitung“, dass die Arbeitslosigkeit in Westfalen innerhalb von 14 Tagen um 250 Prozent gestiegen sei und dass die Zahl der Arbeit suchenden Baufacharbeiter nach dem Stand vom 30. Juni 1930 um fast 350 Prozent über dem Stand des Vorjahres lag. Zur gleichen Zeit waren in der Arbeitsamtsnebenstelle Hervest-Dorsten 817 Unterstützungsempfänger und 41 Krisenfürsorgeempfänger gemeldet, darunter 405 Bergarbeiter. Eine Woche später wurden die Zahlen für Holsterhausen veröffentlicht. Hier gab es 123 Hauptunterstützungsempfänger mit 65 Frauen und 108 Kindern, in der Krisenfürsorge mit sechs Kindern, 49 Personen waren Sozial- und Kleinrentner mit 105 Angehörigen, 90 Personen mit 192 Angehörigen lebten von der allgemeinen Fürsorge, 99 Holsterhausener mit 33 Angehörigen fielen als „Ausgesteuerte“ durch das grobmaschige soziale Netz. Ingesamt unterstützte die Gemeinde Holsterhausen 1.003 Personen. Bei 6.212 Einwohnern waren die 16,14 Prozent. Zum Vergleich: Dorsten 11,52 Prozent, Lembeck 4,72 Prozent, Wulfen 9,67 Prozent, Hervest 16,57 Prozent, Altschermbeck 6,49 Prozent.
Die Stadt Dorsten allein hatte in der Krisenfürsorge die dreifache Anzahl an Personen zu betreuen wie der gesamte Amtsbezirk Hervest-Dorsten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die ausgesteuerten Bergleute nicht in die Krisenfürsorge übernommen werden durften. Daher waren die Gemeinden, die sich vorwiegend aus Bergarbeiterfamilien zusammensetzten, doppelt schwer getroffen, da sie sofort beim Ausscheiden der Bergleute aus der Arbeitslosenfürsorge mit der gemeindlich gezahlten Wohlfahrtsfürsorge eingreifen mussten.
Die beiden Bergbaugemeinden Hervest und Holsterhausen wollten vor allem die erwerbslosen Jugendlichen von der Straße bringen. Daher richteten die Jugendpflegeausschüsse der beiden Gemeinden eine gemeinsame Berufsschulerweiterung ein. In einer Sitzung im Bahnhofshotel Friesen im Dezember 1930 erklärte Amtsbürgermeister Christoph Kuckelmann, dass die Reichsregierung ihm die große Staatsplakette von Minister Hirtsiefer verliehen habe und diese durch Landrat Dr. Schlenking überreicht worden sei. Damit wurde der Bürgermeister „von höchster Stelle für die Jugendpflege in der Herrlichkeit“ geehrt. Das Lernprogramm für arbeitslose Jugendliche umfasste 16 bis 24 Stunden in der Woche. Jede Klasse sollte für 30 Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren eingerichtet werden. Zusammen mit Lehrern der Berufsschule legten die Politiker gleich den Stundenplan fest, wobei besonders Kaplan Feldmann darauf drang, eine Stunde Weltanschauungsunterricht auf religiöser Grundlage in den Stundenplan aufzunehmen.
Notjahre in der Zechengemeinde Holsterhausen – etliche Selbstmorde
1930 lebte in Holsterhausen jede sechste Person von der Wohlfahrt. Die Fürsorgevereine sammelten, die Geistlichen riefen in ihren Predigten zu Unterstützung auf und bettelten in den Landgemeinden des Münsterlandes. Die Zechenhalde „Baldur“ stieg in den ersten vier Monaten von 3,5 auf 6,5 Millionen Tonnen. Weitere Entlassungen erfolgten. Auf Baldur waren nur noch 1.213 Personen beschäftigt, 1931 waren es in der Eisenindustrie nur noch 40 Prozent. Daher benötigte sie immer weniger Kohle. Das war das Ende der Zeche Baldur in Holsterhausen. 1.000 Männer wurden auf einem Schlag entlassen. Nur 69 blieben zu Erhaltung der Anlagen beschäftigt. 116 Holsterhausener mit 203 Angehörigen erhielten Arbeitslosenunterstützung, 506 Holsterhausener mit 1.179 Angehörigen waren Krisenunterstützungsempfänger. Im Jahre 1932 gab es in Holsterhausen 6.474 Einwohner, wovon 75 Prozent erwerbslos waren. Die Fürsorgelast in der Herrlichkeit Lembeck betrug damals pro Kopf 73,60 Mark. 1924 hatte die Gemeinde Holsterhausen an Wohlfahrtsausgaben 83.040 Mark zu zahlen, 1929 waren es 214.510 Mark und 1932 schon 409.770 Mark. Joseph Kellner, Lehrer in Holsterhausen, schrieb 1945 in seinen unveröffentlichten Erinnerungen über diese Notjahre in Holsterhausen:
„Die Männer lungerten herum, spielten Karten, bei gutem Wetter an den Grasböschungen, hamsterten und bettelten bei den Bauern, schmuggelten von Holland herüber. Die Mütter, abgemagert, standen vor leeren Schränken und leerem Herd. Die Kinder, unterernährt und verwahrlost, kamen ohne Frühstück zur Schule. Dreißig Prozent fehlten durchschnittlich bei schlechtem Wetter. Sie hatten nichts unterzuziehen, nichts an den Füßen. Andere Kinder wurden von den Eltern auf Bettelei geschickt und versäumten ohne Entschuldigung die Schule. Öffentliche Fürsorge, Caritas, Innere Mission, Geistliche und Lehrpersonen überboten sich in der Hilfe. Doch lebten viele Arme hoffnungslos, und manche endigten ihr Leben mit dem Strick und im Wasser.“
Und weiter schreibt Joseph Kellner über die Weihnachtszeit 1932 in Holsterhausen:
„Wie trostlos!. Die Läden locken voll der Waren, und davor kauern hungernde Frauen und Kinder. Der Bettelsack läuft in den Landgemeinden von Tür zu Tür und wird zehn Mal, zwanzig Mal täglich neu hingehalten. Trotz allem singen wir in der Schule die seligen Weihnachtslieder und wünschen, beschämt, dass wir nicht allen helfen können, doch allen etwas vom Christkind. Dann Ferien! Des Nachmittags sehe ich einen Zug Menschen, Männer, Frauen und Kinder, an die 80 Personen, über die Borkener Straße nach Dorsten ziehen, im Chor Revolutionssprüche rufend, Droh- und Rachelieder singend gegen die Satten. Vorneweg flattert ein roter Zeugfetzen, an einer Bohnenstange befestigt, und der Fahnenträger ist mein Schüler, ein 13-jähriger, hohlwangiger, missgewachsener Junge. Wer kann Arbeit, Brot und Frieden bringen?“
Mit Schulden Arbeitslosigkeit abgebaut
Am 8. Mai 1931 titelte die „Dorstener Volkzeitung“ Positives: „240.000 Arbeitslose weniger. Entlastung der Wohlfahrtsfürsorge nur um 34.000.“ Dennoch gab es reichsweit immer noch 4,38 Millionen Arbeitslose, deren Zahl sich bis Januar 1933 auf 6,013 Millionen erhöhte. Holsterhausen stand im Mai 1931 mit 580 Erwerbslosen mit 948 Kindern an der Spitze der Gemeinden der Herrlichkeit Lembeck und des Amtes Hervest-Dorsten (Hervest: 300 Erwerbslose mit 402 Kindern). Durch die Stilllegung der Zeche Baldur in Holsterhausen stieg die Arbeitslosigkeit im November 1931 auf 792 mit 1.631 Angehörigen, zusammen also 2.423, das war rund Eindrittel der Bevölkerung Holsterhausens.
Die letzten Regierungen der Weimarer Republik hatten zwar Pläne, wie die Arbeitslosigkeit zu mindern sei, konnten diese aber nicht mehr umsetzen. Adolf Hitler griff nach seiner Wahl zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 teilweise auf diese Planungen zurück und schuf durch das „Gesetz zur Verminderung von Arbeitslosigkeit“ Möglichkeiten zur Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und bekämpfte die Arbeitslosigkeit durch gezielte Staatsausgaben. Die Zahl der Erwerbslosen von 6,013 Millionen im Januar 1933 schrumpfte auf 4,856 im Juni 1933. Die Nationalsozialisten finanzierten das „Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit“ durch Schatzanweisungen und Wechsel. Dadurch wurde der Kreditspielraum vergrößert, förderte aber die Verschuldung des Staates, was Hitler bewusst in Kauf nahm, denn er plante sowieso die kriegerische Herrschaft über Europa.
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Quelle: Entnommen www.dorsten-lexikon.de