Von Wolf Stegemann
Wer den Kopf zum Giebel des Hauses an der Nordseite des Marktplatzes Ecke Lippestraße hebt, sieht dort – hoch oben – eine Steinskulptur, die von Passanten sicherlich nicht oft wahrgenommen wird, da sie sich nicht in Augenhöhe befindet. Diese Marienfigur weist auf eine Familie hin, die ihren Ursprung in Dorsten hat. Geschaffen wurde die Figur von dem Bildhauer Ignatius Johann Stracke, der 1790 in Dorsten geboren und in St. Agatha getauft wurde. Er begründete eine Bildhauer-Dynastie, die von Dorsten aus in vielen Städten und Ländern wirkte und wirkt, vor allem am Niederrhein und in den Niederlanden.
Ignatius Stracke schuf die erhalten gebliebene Marienfigur
Ignatius Johann Stracke (geb. 1789, gest. 1864 in Arnheim) hatte mit Christian Daniel Rauch einen berühmten Bildhauer-Lehrmeister der Berliner Bildhauerschule. Nach seiner Ausbildung wurde Ignatius Johann Stracke Direktor der Kunstschule Herzogenbusch. Durch sein Wirken beeinflusste er den Kunststil seiner Zeit. Der Bildhauer heiratete 1812 die Dorstenerin Ursula Reuter, mit der er vier Söhne hatte: Gottfried (1813 in Dorsten bis 1848 in Bocholt), Johannes Theodor (1817 in Dorsten bis 1891 in Köln) und Franz (auch Frans, 1820 in Dorsten bis 1898). Im Jahre 1842 zog das Ehepaar zusammen mit den Söhnen von Rees, wo es mittlerweile wohnte, nach Arnheim.
Gottfried Stracke ging auf Bildungsreise nach Italien
1813 in Dorsten bis 1848 in Bocholt. – Er war Schüler des bedeutenden bayerischen Künstlers Ludwig Schwanthaler (1801 bis 1848) und unternahm Bildungsreisen nach Italien und Süddeutschland. Stracke war mit Schwanthaler beteiligt an der Gestaltung der Triumph-Germania am südlichen Giebel der Walhalla („Tempel deutscher Ehren“) in Donaustauf bei Regensburg. Dort lernte Gottfried Stracke auch seine Ehefrau Barbara kennen. Sie heirateten 1840 in Rees. Zwischen 1845 und 1849 zog die Familie nach Bocholt. Angeblich hatte ihn ein Liebhaber sakraler Kunst geholt, recherchierte die Historikerin Ursula Rüter aus Bocholt: „Folgt man mündlichen Überlieferungen, soll Gottfried zahlreiche Statuen für Kirchen in Münster und die fünf Figuren über den Arkaden des Rathauses geschaffen haben.“ Gottfried Stracke starb mit 37 Jahren vermutlich an einer Rauchvergiftung, als er mithalf, das brennende Haus seines Nachbarn zu löschen. Sein Sohn Theodor wurde ebenfalls Bildhauer wie sein Urenkel Gottfried Kappen (1906 bis 1989) auch, der in Gladbeck lebte.
Im zweiten Weltkrieg wurden viele Kunstwerke der Stracke-Bildhauer zerstört. Die noch vorhandenen Kunstwerke in Bocholt listete Ursula Rüter in der Zeitschrift „Unser Bocholt“ auf. In der Reeser Pfarrkirche Maria Himmelfahrt ist eine „Madonna mit der Traube“ zu finden, eine 1840 geschaffene spätklassizistische Skulptur aus Carrara-Marmor. Die herausragende künstlerische Qualität sei deutlich zu erkennen, die Ähnlichkeit des Stils mit Werken von Michelangelo könne mit dem klassizistischen Einfluss des Christian D. Rauch auf seinen Schüler Gottfried Stracke erklärt werden, zitiert Rüter aus den Chroniken. In der St. Georg-Kirche in Bocholt befinden sich die Statuen der vier Musiker Ambrosius, König David, Caecilia und Papst Gregor, die Gottfried Stracke zugeschrieben werden.
Johannes Theodor Stracke schuf Denkmale überall in Holland
1817 in Dorsten bis 1891 in Köln. – 1842 zog er mit seinen Eltern nach Arnheim, kam zur Ausbildung nach Brüssel und war Schüler von William Geefs und Charles Geerts. Nach einer Reise durch Deutschland, England und Frankreich, ließ er sich 1848 in Rotterdam nieder. Dort wurde er Professor an der Akademie für bildende und angewandte Kunst. Ab 1860 pendelte er zwischen Deutschland (Münster und Berlin) und den Niederlanden. 1865 wurde er Dozent in Amsterdam und engagierte sich für die Realisierung des „Vondel“-Monuments des Bildhauers Louis Royer. Von 1876 bis 1891 war er Direktor der „Königlichen Akademie für angewandte und schöne Künste“ in Den Bosch. Seine beiden Söhne Leonard Francis (1849 in Rotterdam bis 1919 in Haarlem) und Leo PJ Stracke (1851 bis 1923) wurden ebenfalls bedeutende Bildhauer in den Niederlanden. In Utrecht schuf Johann Theodor Stracke das Denkmal des königlichen Prinzen Johann von Nassau. Weitere öffentliche Werke gibt es neben vielen sakralen Statuen u. a. in Breda und Rotterdam. In Bocholt stehen neugotische Skulpturen im nördlichen Eingang der Kirche und im Stadtmuseum, außerdem ist ein Bildstock aus dem Jahr 1897 in Biemenhorst zu finden sowie eine 1,6 m große Madonna auf dem Markplatz in Rhede, eine ähnliche in Vardingholt. Auf dem Landsitz „De Hemmelhorst“ bei Borne/Twente in den Niederlanden steht eine Statue des heiligen Bernhard von Clairvaux aus dem Jahr 1874; in der St. Antoniuskirche in Loikum bei Bocholt stehen drei große geschnitzte Holzfiguren sowie ein Kreuzweg. Drei neogotische Standbilder, die letzte Auftragsarbeit Theodor Strackes, schmücken das Äußere der gotischen St. Josephkirche in Bocholt. In der St. Bonifatiuskirche in Lorchhausen am Rhein sind nahezu alle Altäre und Bildwerke von Theodor Stracke. Er schuf sie in Jahren 1878 bis 1884. In der Festschrift zum 450-jährigen Bestehen der Pfarrei Lorchhausen steht:
„Viele Besucher, die zum ersten Mal den Innenraum der St. Bonifatiuskirche von Lorchhausen betreten, sind überrascht von der Schönheit, Geschlossenheit und Harmonie. So wie sich die Kirche außen in einem reinen neugotischen Stil präsentiert, steht auch ihre Inneneinrichtung ganz im Einklang mit dieser Stilepoche.”
Frans Stracke war einer der bedeutendsten Bildhauer
1820 in Dorsten bis 1898. – Wie sein Bruder Johann Theodor erhielt er die erste künstlerische Ausbildung von seinem Vater. 1848 zog er mit seinen Eltern nach Arnheim, befreundete sich mit Prinz Heinrich von Oranien, der ihn als Bildhauer sehr schätzte und ihm Aufträge vermittelte. Verheiratet war er mit Geertruida Verwaijen. Von 1868 bis 1889 lehrte Frans Stracke Bildhauerei an der Akademie für Bildende Künste in Amsterdam. Als sein Meisterwerk wird die 1877 geschaffene Büste der Sarah Bernhardt gewertet, die im Rijksmuseum Amsterdam zu sehen ist. Der Sohn Francis Xavier Stracke (1850 in Arnheim bis 1888 in Utrecht) wurde auch Bildhauer. Er schuf 1880 das Denkmal für die Entdecker-Brüder Cornelis und Frederik de Houtman, deren Schiffsreisen nach Indien führten.
Die Gegenwart – Gottfried Kappen setzte in Gladbeck die Tradition fort
In Kirchhellen wohnte Anno Kappen, dessen Vater, Gottfried Kappen (1906 in Berlin bis 1981 in Kirchhellen), ebenfalls Bildhauer und Maler war. Von seinem Urgroßvater mütterlicherseits, Gottfried Stracke, hatte er den Vornamen und vom Großvater Theodor Stracke (1842 in Rees bis 1919 in Gladbeck) bekam er als Schuljunge die ersten handwerklichen Grundkenntnisse für die Bildhauerkunst vermittelt. Sein Vater Hermann Kappen, der die Tochter Theodor Strackes, Maria, heiratete, ließ sich 1909 mit seiner Familie in Gladbeck nieder.
Gottfried Kappen bewies schon als Kind und Jugendlicher zeichnerische Begabung. Auf Burg Rothenfels am Main begegnete ihm und beeindruckte ihn früh der Religionsphilosoph Romano Guardini. Auf Reisen durch Deutschland skizzierte und zeichnete Gottfried Kappen Architektur, Landschaft und Natur. Einige Wochen im Winter 1922/23 besuchte er die Bildhauerklasse an der Kunstgewerbeschule in Essen. Im Jahr 1926 ging Kappen von Kirchhellen nach Berlin, wo er heiratete. 1930 wurde sein Sohn Anno geboren. Die Familie wohnte in Falkensee-Finkenkrug. Im Zweiten Weltkrieg wurde Gottfried Kappen als Sanitäter zur Division „Großdeutschland” eingezogen, sah im Osten Soldaten sterben und erlebte das unendliche menschliche Leid, das der Krieg hervorrief. Er sah die Not von Siegern und Besiegten, ließ sich beeindrucken von der Weite der Landschaft und den russischen Menschen. Diese Zeit und die ersten Nachkriegsjahre werden gelegentlich als Kappens „russische Phase“ bezeichnet. Er malte slawische Gesichter, leidende Frauen und Kinder, einsame, verzweifelte Menschen. Die Inhalte seines künstlerischen Schaffens hatten sich verändert. Ein ausdrucksstarker reifer Künstler gab nun mit gestalterischer Kraft in Zeichnungen, Aquarellen, Holzschnitten und Skulpturen Zeugnis vom Geschehen.
Nach dem Krieg ging Kappen nach Berlin und kehrte zurück
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs kehrte Gottfried Kappen nach Berlin zurück. Wieder wurden seine Werke ausgestellt. Er wurde gebeten, eine Muttergottes für die St. Matthiaskirche zu schaffen und zögerte, den religiösen Auftrag anzunehmen. Doch mit seinem künstlerischen Schaffen gelang es ihm, seine durch Kriegserlebnisse verursachte Glaubenskrise zu überwinden. Religiöse und ethische Skulpturen mit überwältigender Aussage bestimmten fortan seine Arbeit. Seine Werke aus dieser Epoche erinnern an Vorbilder wie Käthe Kollwitz und Ernst Barlach. Gottfried Kappen fühlte sich eingeengt in der Stadt der Viermächte und Zonengrenzen. Er suchte nach Freiheit, ließ darum sein schönes Haus in Falkensee-Finkenkrug zurück, nutzte einen Interzonenpass, zog in den Westen und wagte einen ungewissen Neuanfang. Die alte Mühle von Brabeck (Kirchhellen) sollte das neue Zuhause der Familie Kappen werden.
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Quellen: Ursula Rüter „Unser Bocholt“, Zeitschrift für Kultur und Heimatpflege, 54. Jg. – Gladbeck unsere Stadt“, Heft 2004/2. – Wikipedia, Online-Enzyklopädie NL (2011).