Dorstener Hitlerjugend, SA und SS verwüsteten vor 75 Jahren die Synagoge in der Wiesenstraße

Wiesenstraße: Das helle Giebelhaus im Hintergrund war die Dorstener Synagoge

Von Wolf Stegemann

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen, jüdische Bürger wurde aus ihren Wohnungen gezerrt, geschlagen und getötet, andere in Konzentrationslager gebracht. Gesuchter Anlass war die Erschießung des deutschen Legationssekretärs Rath in Paris durch den 17-jährigen Herschel Grynszpan, einen Juden. Mit dieser Tat wollte er sich dafür rächen, dass Ende Okto­ber 17.000 in Deutschland lebende polnische Juden, darunter auch seine Eltern, über die polnische Grenze abgeschoben worden waren. Am 9. November erlag der deutsche Diplomat seinen schweren Verletzungen.  Gauleiter und Parteiführer wiesen nach einer Hetzrede von Propagandaminister Josef Goebbels ihre Dienststellen, die SA und SS sowie die Hitlerjugend an, gegen die Juden vorzugehen.

„Brennende Synagoge“, Rohrfederzeichnung von Tisa von der Schulenburg 1962

Der Wulfener Jude Josef Moises wurde festgenommen und zur Auswanderung gezwungen, seine Schwester Adele von Wulfener SA-Männern halbnackt aus Wulfen gepeitscht. Sie suchte Schutz bei der Polizei. – In dieser Nacht zum 10. November vor 75 Jahren wurden in ganz Deutschland jüdische Einrichtungen demoliert. Insgesamt fielen der „spontanen Volkswut“, wie die Propaganda die gelenkte Aktion nannte, 7.500 Geschäfte und 171 jüdische Gotteshäuser zum Opfer, 91 Menschen wurden ermordet, 26.000 in Konzentrationslager eingewiesen. Wegen des Scherbenmeers in den Städten bürgerte sich die Bezeichnung „Kristallnacht“ für die Ausschreitungen ein; der Volksmund ergänzte den Begriff im Stil der Großsprecherei der Propaganda zur „Reichskristallnacht“. Zynisch wurde den Juden auferlegt, den von den Versicherungen ersetzten Schaden an das Reich abzuführen. Außerdem mussten sie als „Buße“ eine „Kontribution“ in Höhe von 1 Milliarde Reichsmark zahlen.

„Jeder Wurf wurde mit Gejohle quittiert“

Auch die Synagoge in der Dorstener Wiesenstraße wurde zerstört. Vor allem die Dorstener Hitlerjugend und die SA waren die Täter, die zuerst mit Steinen die Fenster des Gemeindehauses einwarfen, in dessen 1. Stock der Bet-Saal untergebracht war. Friedhelm Potthoff, damals gerade neun Jahre alt, erinnerte sich noch genau an die Verwüstung der Dorstener Synagoge in der Wiesenstraße. Er und seine Schwester wohnten nämlich in dem der Synagoge ange­bauten Nachbarhaus:

„Es war am Spätnachmittag des 9. Novem­ber 1938. Draußen dunkelte es bereits. Plötzlich drang Lärm von der Straße in unsere Wohnung. Ich rannte zum Fenster und sah ungewöhnlich viele Menschen in Uniform, die in den Händen Brandfackeln hielten und vor unserem Haus an der Ecke Wiesenstraße/Nonnenstiege standen. Im Schein der Fackeln konnte ich viele bekannte Dorstener Gesichter erkennen, meist Jugendliche in HJ- oder BDM-Uniform. Angeführt wurde der Haufen von SA-und SS-Männern. Aber auch Zivilisten befanden sich dabei. Die etwa 25-köpfige Horde teilte sich. Während einige in das Haus eindrangen, standen andere am offe­nen Hof zur Nonnenstiege und sahen zu den Fenstern der Synagoge hinauf. Sie grölten, sangen und pfiffen.

Im jüdischen Gemeindehaus, in dem sich die Synagoge befand, wohnte der 74-jährige Viehhändler Josef Minkel mit seiner 22-jähri­gen Tochter Hertha und seinem 27-jährigen Sohn Emanuel. Der alte Minkel starb Monate später und die Tochter wanderte danach über Holland nach England aus.

Im jüdischen Gemeindehaus wurde alles kurz und klein geschlagen

Die Randalierer stürmten die Treppe zur Synagoge hoch. Durch den Anbau unseres Hauses konnten wir von unseren Fenstern direkt in die Synagoge sehen. Was sich dort abspielte, war schlimm. Da das Haus in die Häuserzeile der Wiesenstraße eingebaut und zudem sehr alt war, konnten die mitge­brachten Fackeln zur Brandstiftung nicht benutzt werden. So beschränkten sich die Zerstörer auf die Verwüstung der Synagoge.

Wir erschraken, als plötzlich Mauerbrocken und Fenster samt Rahmen mit großen Vor­schlaghämmern herausgeschlagen wurden. Die Uniformierten schlugen in der Synagoge alles kurz und klein und warfen die zerbro­chenen Stühle und die sakralen Gegen­stände durch die Fensterlöcher auf den Hof zur Nonnenstiege hinunter. Jeder Wurf wurde mit einem Gejohle quittiert.

Synagogeninventar auf dem Marktplatz verbrannt

Da zwei der vier Synagogenfenster über unserem mit Glas überdachten Innenhof lagen, beschädigten die hinausgeworfenen Gegenstände dieses Glasdach, unter dem sich früher die Feuerungsanlage unserer Bäckerei befand. Ich weiß noch, dass Mutter eine Menge Lauferei zum ,Braunen Haus’ hatte, um den Schaden ersetzt zu bekom­men. Nachdem sämtliches Synagogen-Inventar auf dem Hof lag, schleppten es die Täter auf den nahen Marktplatz. Direkt vor dem alten Rathaus, wo früher eine Pumpe stand, warfen sie es auf einen Haufen und zündeten ihn an. Während Gebetsbücher, Schriften, die Thorarolle und die sakralen Gewänder brannten, schlugen die Hitlerjungen auf ihre Trommeln, und es gab viel Geschrei. Aus der Gordulagasse kam eine andere Gruppe, die ebenfalls Gegenstände zum Verbrennen anschleppte. Welches Haus oder Geschäft dieser Haufen vorher geplündert hat, kann ich nicht sagen. Inzwi­schen war es völlig dunkel geworden, und man sah noch lange den Feuerschein auf dem Marktplatz leuchten.“

Soweit der Augenzeuge Friedhelm Potthoff.  Ob bei dieser Aktion jüdische Bürger ver­letzt wurden, kann Potthoff nicht bezeugen. Doch liegt die Aussage eines anderen Infor­manten vor, der angibt, dass sich der alte Jude Minkel, der im Hause wohnte, den Eindringlingen entgegengestellt haben soll, um die Thora zu verteidigen. Dabei haben ihn die Randalierer blutig geschlagen.

Gedenktafel der Forschungsgruppe

Gemeindehaus diente vor der Deportation als „Judenhaus“

Ab 1938 mussten in den unteren Räumen des Hauses Angehörige der jüdischen Familien Metzger und Ambrunn wohnen. Nach der Deportation der Juden 1942 zog der SS-Mann Wilhelm W. mit seiner großen Familie ein, der bis zur Bombardierung der Stadt dort wohnen blieb. Die Treppe am Ende des Hausganges führte zu so genannten Aufkammern, die zwischen 1938 und 1942 der Familie Metzger als Schlafräume dienten. Vor der Treppe machte der Gang einen Knick nach rechts und gleich wieder nach links und endete am hinteren Ende des Hauses, wo eine Tür in den Hinterhof hinausführte, der an die Höfe der Häuser an der Blindestraße (heute Ursu­lastraße) grenzte. Eine andere Tür ging rechts in einen Hof zur Nonnenstiege. Die Treppe führte auch hinauf in den ersten Stock. Dort befand sich der etwa 100 qm große Synagogenraum. Zudem gab es in diesem Stockwerk zwei Räume, die zur Wiesenstraße hin lagen. Auch diese Zimmer wur­den zwischen 1939 und 1942 von Familienan­gehörigen der Metzgers und Ambrunns bewohnt. Bis 1939 bewohnte die jüdische Familie Minkel das Gemeindehaus. Josef Minkel starb im Februar 1939, und seine Tochter wanderte wenig später über Holland nach England aus.

Der Synagogenraum befand sich im oberen Stockwerk

Die Synagoge hatte vier Fenster, die rechts auf den Hof zur Nonnenstiege zeigten und teilweise über dem mit einem Glas über­dachten Hof des Nachbarhauses Maas-Potthoff lagen. Von den Potthoffschen Fenstern und vom Hof konnte man direkt in die Syna­goge blicken. Der Raum war schlicht einge­richtet. Links und rechts standen Sitzbänke und Stühle, vorne, an der Ostwand, befand sich ein großer Holztisch mit dem siebenarmigen Leuchter. Hinter dem Tisch zierte ein großes Wandge­mälde die gesamte Breite des Raumes. Es zeigte in bunten Farben den Urvater Abra­ham mit geöffnetem Schoß und in den Saal blickend. Seine Stirn wies ein überdimensio­nales „Auge Gottes“ auf. Links und rechts des Bildes waren hebräische Schriftzeichen aufgemalt. In einer Vorhangnische, in einem Schrein, war die Thora verwahrt; an den Wänden hin­gen Kaftans. Hinter jeder Tür des Hauses waren kleine Metallröhrchen (Mesusa) angebracht, die die Gläu­bigen beim Verlassen des Zimmers an die Gebote erinnern sollten.

Das Synagogengrundstück war ursprünglich 243 qm groß und wurde nach dem Krieg in drei Grundstücke parzelliert. Diese Grund­stücke hat die Stadt Dorsten im Jahre 1954 zusammen mit Nachbargrundstücken an verschiedene Erwerber veräußert.

Niederlegung von Blumen an der Gedenktafel am Alten Rathaus 1985; stehend: Michael Steentjes, Hans Fabian, Dirk Hartwich, Schülerin; Foto: Holger Steffe

Gedenktafel am Marktplatz

Die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ stellte 1983 bei der Stadt Dorsten den Antrag, an dem Gebäude, wo früher die Synagoge stand, eine Gedenktafel anzubringen. Dies wurde von den privaten Eigentümern abgelehnt. Daher brachte die Forschungsgruppe eine von Tisa von der Schulenburg (Sr. Paula) gestaltete Gedenktafel am Alten Rathaus am Markt an, weil dort am 10. November das Synagogeninventar verbrannt wurde. 1997 wurde die Tafel wieder abgenommen und an der Stelle eine Geschichtstafel des Vereins für Orts- und Heimatkunde angebracht, die die Geschichte des Alten Rathauses erklärt. Nachdem die Gedenktafel für die ermordeten Juden der Stadt Dorsten jahrelang in einem Keller lag, wurde sie nach öffentlichem Druck der Dorstener Ratsfrau Petra Somberg-Romanski und von Dirk Hartwich im Jahre 2008 an einem Haus in der Wiesenstraße angebracht.

Der 9. November – häufig als Schicksalstag der Deutschen bezeichnet

Der Tag hat  für die interessierte Öffentlichkeit eine ganz besondere Bedeutung in der deutschen Geschichte. Häufig ist dann vom „Schicksalstag der Deutschen“ die Rede. Neben der oben beschriebenen Ermordung und der auch nach damaligen Gesetzen rechtswidrigen Drangsalierung jüdischer Bürger, der Zerstörung von Synagogen und der jüdischen Geschäfte 1938 weisen die Geschichtsblätter weitere Begebenheiten an einem 9. November auf.

Am 9. November 1918 verkündete Reichskanzler Prinz Max von Baden eigenmächtig die Abdankung des Kaisers. Am frühen Nachmittag proklamierte Philipp Scheidemann die demokratische Republik und Karl Liebknecht wenig später die sozialistische Republik. Die demokratische Republik setzte sich verfassungsmäßig durch. Adolf Hitler und seine rechten Mitstreiter wollten mit ihrem Marsch zur Feldherrnhalle in München am 9. November 1923 die Weimarer Republik mitsamt ihrer parlamentarischen Demokratie stürzen. Dies scheiterte jämmerlich im Kugelhagel der bayerischen Polizei.  – Am 9. November 1989 fiel ganz unverhofft in Berlin die Mauer zwischen West- und  Ostberlin, zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Somit stand der Wiedervereinigung nichts mehr im Wege.

Der 9. November war und ist kein Tag, an dem das „Schicksal“ es gut oder schlecht mit den Deutschen meint. Wie an jedem anderen Tag auch, sind die Menschen für ihr Handeln und Unterlassungen verantwortlich.

Mehr zu diesem Thema ist in der Online-Version „Dorsten unterm Hakenkreuz“ (www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de) zu lesen.

 

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