Von Wolf Stegemann
Am 30. Januar jährt sich zum 80. Mal die Machtübernahme Adolf Hitlers und seiner NSDAP, die, weil sie auf demokratischem Weg vonstatten ging, kein revolutionärer Akt war, wie die Nazis ihn aus propagandistischen Gründen bezeichnet hatten. Die Macht wurde Hitler nach demokratischen Verfahrensregeln vom Reichspräsidenten angetragen und vom Reichstag überlassen. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war also ein demokratischer Akt nach der Weimarer Verfassung, der sich wochenlang hinzog und durch freie Reichstags-, Landtags- und Kommunalwahlen im März gefestigt war. Am Ende dieser demokratisch legitimierten Machtübernahme schafften die Parteien durch die mehrheitliche Parlamentszustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ faktisch die Demokratie ab. Vorneweg stimmte die katholische Zentrumspartei für die Diktatur, die SPD dagegen.
NS-Schlagwort der „Machtergreifung“ wird auch heute noch verwendet
Die nationalsozialistische Propaganda prägte den Begriff „Machtergreifung“. Dazu der Historiker Dr. Ernst Grotenbom:
„Der Begriff ,Machtergreifung’ suggeriert das von der nationalsozialistischen Propaganda beabsichtigte kämpferische Bild einer einschneidenden plötzlichen Revolution, die ohne jede, in Teilen unfreiwillige, Hilfe anderer Machtgruppierungen ihr Ziel erreichte.“
Hitler war entschlossen, die Republik zu zerschlagen und eine Diktatur zu errichten. Das NS-Schlagwort wird bis heute verwendet. Genauere Betrachter aber unterscheiden die „Machtübernahme“ 1933 von der folgenden „Machtergreifung“ durch Ausschaltung aller Widerstände bis hin zur Vereinigung der Ämter des Regierungschefs und des Reichspräsidenten in der Hand Hitlers als Führer und Reichskanzler im August 1934.
Fernsehen gab es noch nicht und Radiogeräte waren Anfang 1933 nicht weit verbreitet. Daher informierten sich die Bürger über die aufregenden Ereignisse Anfang 1933 vor allem aus den Zeitungen. In Dorsten war es die „Dorstener Volkszeitung“, aus der die Leser erfahren konnten, welche Ergebnisse die Wahlen brachten und welche Folgen sie im Reich, in der Region und in der Stadt hatten.
Hakenkreuzfahnen auf öffentlichen Gebäuden in Dorsten
Während die Machtübernahme in Berlin am 30. Januar 1933 über 700.000 Menschen auf die Beine brachte, fand sie auf lokaler Ebene kaum Resonanz. Dies änderte sich peu à peu bis einschließlich März. Am 5. März waren die letzten freien Reichstags- und Landtagswahlen. Bei der Wahl zum Reichstag bekamen in Dorsten das katholische Zentrum 43,9 Prozent, die NSDAP 30,1 Prozent, die SPD 4,5 Prozent und die Kommunisten 7,6 Prozent. In Hervest kam das Zentrum auf 27,1 Prozent der Stimmen, die NSDAP auf 26,8 Prozent, die Kommunisten auf 24,3 Prozent und die SPD bekam 8,9 Prozent. Auch in Holsterhausen vereinigte das Zentrum mit 34,4 Prozent die meisten Stimmen auf sich, gefolgt von den Kommunisten mit 29 Prozent, der NSDAP mit 16,6 Prozent und der SPD mit 13,6 Prozent. Am 7. März berichtete die „Dorstener Volkszeitung“ dass in einer „halsbrecherischen Arbeit“ auf öffentlichen Gebäuden in der Nacht vom 3. auf den 4. März von „SA-Leuten Hitler-Flaggen“ gehisst worden seien. Dies an den Postämtern in Hervest-Dorsten, an den beiden Rathäusern in Dorsten, auf dem Bahnhofsgebäude und auf den Zechentürmen. Die Polizei holte diese zu dem Zeitpunkt noch illegal gehissten Fahnen wieder herunter, worauf ein SA-Trupp erschien und die Fahnen erneut hisste. „Sie erklärten dabei, die Flagge solle für immer hängen bleiben.“ Am 12. März fanden Kommunalwahlen statt. In der Abgeordnetenversammlung erhielten das Zentrum zehn und die NSDAP sechs Sitze.
„Dorstener Volkszeitung“ rief zum Verfassungsbruch auf
Im Berliner Reichstag schaffte sich die Demokratie durch Mehrheitsbeschluss selbst ab. Am 23. März 1933 votierte der Reichstag mit den Stimmen der NSDAP, der nationalen Parteien und des katholischen Zentrums mit dem „Ermächtigungsgesetz“ dafür, Hitler und seine NSDAP zur unumschränkten diktatorischen Macht im Staat zu machen. Dieses und schnell darauf folgende Gesetze – wie das „Gleichschaltungsgesetz“, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das Gesetz über die „Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens“ u. a. – waren die gesetzliche Grundlage für staatliche Verfolgung, Beraubung, Ausgrenzung und Mord durch Polizei, Finanzämter, Militär usw. Der reichsweite Boykott jüdischer Geschäfte fand bereits am 1. April statt, auch in Dorsten.
Die „Dorstener Volkszeitung“, seit Bestehen „Sprachrohr“ von Zentrum und Kirche, begründete am 26. März in einem Kommentar den Schwenk auf den NSDAP-Staat mit christlichen Motiven und rief zum Verfassungsbruch auf:
„Dem Ergebnis des 5. März musste auch parlamentarisch Rechnung getragen werden. Diesem Volksvotum durfte […] die Minderheit [nicht mit einem] Versteifen auf Verfassungsbestimmungen […] Widerstand leisten. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Diese Erklärung (Jesu Christi!) ist für den Christen zu seiner Einfügung in die staatliche Ordnung maßgebend geworden…“
Die von der KPD in den letzten freien Wahlen gewonnenen Mandate durfte sie „per Verordnung“ der Regierung nicht besetzen. Polizei und mit ihnen zu Hilfspolizisten erklärte SA-Männer nahmen schon vor der Wahl und gleich nach der Wahl im März mehrere kommunistische Funktionäre fest und brachten sie ins Gefängnis. Die Dorstener Volkszeitung titelte ihre Meldungen darüber u. a. mit „Hervest – Kommunist Ossa festgenommen“ (8. März). Die Gewerkschaften wurden am 2. Mai zerschlagen und die SPD am 22. Juni verboten.
Jetzt kommen sie angekrochen, die schwarzen Seelen
In die Dorstener NSDAP und ihre Gliederungen wie SA und SS fand im März ein regelrechter Wettlauf statt. 680 Mitgliedsanträge lagen der NSDAP in der Altstadt vor, 654 neuen Mitgliedern wurde im Gesellenhaus feierlich das Parteibuch überreicht, darunter an prominente Mitglieder des Zentrums wie Rechtsanwalt Nordmann und Dipl.-Kaufmann Paul Schürholz. In den Gemeinden Hervest und Holsterhausen war es nicht anders, so dass die NSDAP vorübergehend einen Aufnahmestopp verfügte. Dazu NSDAP-Ortsgruppenleiter Ernst Heine in einem Brief vom 18. April: „Bald haben wir sie klein“ und „Jetzt kommen sie angekrochen, die schwarzen Seelen!“
Die katholische Kirche arrangierte sich mit dem Regime. Pfarrer Ludwig Heming verkündete dies in seiner Neujahrspredigt am 1. Januar 1934 von der Kanzel in St. Agatha (Auszug):
„Wäre es nicht ein Jammer, wenn wir Katholiken mit verschränkten Armen am Wege stehen und nur zuschauen wollten? Nein! Zugreifen Mitarbeiten! Aufbauen helfen! Das war unsere Parole im alten Jahr, so muss es auch im neuen sein. Aufrechten Hauptes und festen Schrittes sind wir Katholiken in das neue Reich eingetreten. Wir sind bereit, ihm zu dienen…“
Der „Aufbruch in eine neue Zeit“ war auch im Rathaus vorgezeichnet. Die NSDAP zog mit Fritz Köster, bislang Dorstener NSDAP-Ortsgruppenleiter, als besoldeter Beigeordneter ins Rathaus ein. Eine von ihm eingesetzte Sonderkommission überprüfte die Dienstbereiche des Bürgermeisters und unliebsamer Kommunalbeamter, um mit „nachgewiesenen Unterschlagungen“ sie aus den Ämtern zu hebeln. Bürgermeister Lürken wurde durch den Nationalsozialisten Dr. Gronover ersetzt und das öffentliche Leben gleichgeschaltet. Lehrer wurden als Propaganda- oder Schulungsleiter in den Dienst der NSDAP genommen, dem sie auch gerne nachkamen. Bei Umzügen von SA und SS mussten die Dorstener am Straßenrand die Hand zum Hitlergruß erheben. Wer dies nicht oder nicht schnell genug tat, wurde unter Umständen mit Androhung oder auch Ausführung körperlicher Gewalt dazu gezwungen. Die „Dorstener Volkszeitung“ rief unermüdlich dazu auf, die neuen Fahnen an den Fenstern zu zeigen.
Schmerzenschreie der Geschlagenen im Dorstener Rathaus
Die Reaktion auf die am 5. März stattgefundenen Reichstagswahlen erlebte der Dominikanerpater Odilo Braun (1899 bis 1981) in Dorsten. Er war später von 1941 bis 1945 führendes Mitglied im Ausschuss für Ordensangelegenheiten der Deutschen Bischofskonferenz. Im März 1933 war er zu Besuch im Franziskanerkloster. In der Biografie über ihn heißt es:
„Der Pater stellte sich – im Unterschied zu vielen katholischen Christen – und auch vieler seiner Mitbrüder im Dominikanerorden – gegen das nationalsozialistische Regime. […] Braun benannte später wiederholt die Erlebnisse, die ihm den Unrechtscharakter des Dritten Reiches schlagartig geoffenbart hätten: am Abend des 5. März 1933, dem Tag der Reichstagswahl, übernachtete er im Franziskanerkloster in Dorsten, das gegenüber vom Polizeipräsidium lag. Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse, so Braun, ,tat sich die Hölle auf. SA-Horden schleppten ihre Opfer herbei’. Die Nacht sei erfüllt gewesen ,von dem Gejohle der Schläger, von den Schmerzensschreien der Misshandelten’.“
Was Pater Braun als „Polizeipräsidium“ bezeichnete, war das Rathaus im ehemaligen Schulgebäude des Gymnasium Petrinum an der Ecke Klosterstraße/Westgraben, also unmittelbar gegenüber dem Kloster. Im Rathaus war die Polizei untergebracht gewesen. – Zum 30. Januar 1933 meint der Historiker Ernst Grotenbom abschließend:
„So erscheint der 30. Januar 1933 keineswegs als der epochale Bruch, mit dessen Beginn sofort die gesamte Macht unkontrolliert und unausweichlich in die Hände einer vollständig außerhalb jeder geistig-politischen Kontinuitäten stehenden Machtgruppierung gelegt wurde, sondern vielmehr als der Beginn eines von mehreren Seiten gewollten Transformationsprozesses von der Demokratie in einen autoritären Staat, in dessen Verlauf sich nur die radikalste, entschlossenste und skrupelloseste Seite durchsetzen konnte.“
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Anmerkung: Der Text wurde der Online-Dokumentation „Dorsten unterm Hakenkreuz“ entnommen, die in weitergehenden Artikeln u. a. die Machtübernahme der Nationalsozialisten auf kommunaler Ebene beschreibt: www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de
Quellen: Gespräch W. Stegemann mit Odilo Braun 1978 anlässl. der Tagung „Wissenschaftler und Widerstandskämpfer auf der Suche nach historischer Wahrheit“ im Zentrum für interdisziplinäre Forschung Bielefeld. – Biografisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XVII, Sp. 171-1975, Autor: Elias H. Füllenball. – Website des Dominikanerordens, Provinz Teutonia (2011). – Wolf Stegemann (Hg): „Dorsten unterm Hakenkreuz – Der gleichgeschaltete Alltag“, 1985.
Wie bitte? Die sogenannten “Linken”, maßgeblich die KPD, waren am Niedergang der Weimarer Republik maßgeblich beteiligt. Was Sie hier suggerieren, ist billig und tendenziös! Der heutige Verfassungsschutz steht auf demokratischem Grund. Er beobachtet die Nachfolgeorganisation der SED mit demokratischer Legitimierung nicht nur durch diekonservativen Parteien. Mein Tip: Mal die ideologische Brille absetzen – dann sehen Sie klarer!
Und man sollte auch beachten, dass diejenigen, die im damaligen Reichstag sich dagegen gestemmt haben, die so genannten “linken Gruppen” waren. Also die politische Richtung, welche heute wieder vehement von konservativen Kräften bekämpft wird z. B. durch die permanente Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Damals wie heute war es zweitrangig, dass es sich um gewählte und demokratische Gruppen handelt(e).
An sämtlichen Dorstener Schulen (und darüber hinaus) sollte dieser Artikel zur unbedingten Pflichtlektüre gehören! Chapeau, Herr Stegemann, für diesen Bericht.