Von Wolf Stegemann
Dass Berlin eine Reise (und weitere Reisen) wert ist, mag wohl keiner mehr bezweifeln, der Mitte Oktober bei der viertägigen politischen Bildungsfahrt dabei war, zu der Michael Gerdes, SPD-Mitglied des Bundestags, rund 50 Bürger und Bürgerinnen aus seinem Dorsten-Bottrop-Gladbecker Wahlkreis eingeladen hatte. Für die Organisation war weitgehend das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung zuständig. Diese Bildungsaufenthalte in der Bundeshauptstadt sind die Fortsetzung der Reisen in das bis 1990 geteilte Berlin, als noch die Mauer stand und die Politiker wollten, dass Bundesbürger die Teilung erleben und die Enklave Berlin nicht vergessen wird. Damals wurde wegen der DDR-Grenze noch geflogen, heute geht es mit dem Intercity auf reservierten Plätzen schnell voran.
Erschreckend – die frühere Durchgangsstelle: „Palast der Tränen“
Unsere Polit-Reisegruppe traf sich am Essener Hauptbahnhof. Senioren, darunter ergraute Altsozialisten und Gewerkschafter, stellten mit ihren Frauen die Mehrheit, zwei jüngere Männer, einer davon ein Jungsozialist aus Lembeck, und eine junge Frau waren daher auffallend und drückten den Altersdurchschnitt zumindest ein wenig nach unten. Am neuen Hauptbahnhof angekommen, übrigens der erste Berliner Bahnhof mit dieser Bezeichnung überhaupt, sollten wir sofort merken, was es bedeutet, auf dem Papier voll bepackte Tagesprogramme bei voll gestopften Straßen zu erleben. Der stets freundliche und nervenstarke Busfahrer Alex brachte uns gut durch den Verkehr und millimetergenau durch die Baustellen. Noch bevor wir im Hotel eingecheckt hatten, gingen wir den ersten Spuren der einstigen Teilung am Bahnhof Friedrichstraße nach. Es war der Übergang in den Ostsektor der Stadt. Weil bei den Abschieden der Westberliner von Verwandten und Freunden in Ostberlin abends unweigerlich wieder die schmerzliche Trennung am Bahnhof kam, nannten die Berliner diese streng bewachte Durchgangsstelle „Palast der Tränen“. Die sachkundige Führung durch die tief gelegten Gänge mit ihren Drangsalen, durch die ich früher mit Schauder mehrmals ging, machte das Bestürzende dieses authentischen Ortes sichtbar.
Ausgezeichnete Stadtbegleiterin
Das Bundespresse- und Informationsamt stellte uns für diese vier Tage eine Reisebegleiterin. Dagmar Schwind erläuterte und beschrieb mit fundiertem Wissen und wohltuender Intellektualität die oft holprige Geschichtsträchtigkeit der Plätze, Gebäude, Straßen, Kanäle und Bezirke, wobei sie auch interessante Details nicht ausließ.
Das Lichtkreuz: Die „Rache des Papstes“
Das 16-stöckige Hotel lag etwas abseits von Berlin-Mitte im Ostbezirk Lichtenberg. Wer in den oberen Etagen das Zimmer hatte, konnte bis zum beleuchteten Fernsehturm am Alexanderplatz schauen. Die Silhouette war eindrucksvoll. Kirchtürme und moderne Wolkenkreuzer wechselten sich mit fast unendlich lang wirkenden Plattenbauten ab. Die meisten farbig renoviert, andere grau belassen. Das alles war auch beeindruckend sichtbar, als wir auf Deutschlands höchstes Bauwerk, den 365 Meter hohen Funkturm am Alexanderplatz fuhren. Mit einer Geschwindigkeit von sechs Metern in der Sekunde, so dass wir in 40 Sekunden das 207 Meter hoch liegende Telecafé erreichten. Die 986 Stufen wären eine Alternative gewesen, doch die Bundeskanzlerin spricht ja immer davon, dass es keine Alternativen gäbe, so verzichteten wir erleichtert auf die Treppe. Beim Mittagessen konnten wir die Panorama-Aussicht in alle Richtungen genießen. Während des Essens hatte sich das Restaurant bereits dreimal gedreht. Der Fernsehturm wurde von der DDR 1969 für 200 Millionen Mark gebaut. Zu spät bemerkten die DDR-Behörden, dass auf den Verkleidungsplatten der Turmkugel sich das Sonnenlicht so bricht, dass ein lichtes Kreuz entsteht. Änderungsversuche der aufgebrachten DDR-Organe hatten keinen Erfolg. Daher sprach alle Welt, auch der amerikanische Präsident Reagan, über dieses Sonnenlichtkreuz von der „Rache des Papstes“.
Aus dem Bett gefallen
Das Hotel war wohl schon zu Zeiten der DDR ein Hotel oder etwas Ähnliches, denn die Warmwasserversorgungsleitungen waren im Badezimmer noch über den Putz gelegt, wie es DDR-üblich war, was aber nicht störte, sondern nur Einblick gab in die funktionale DDR-Architektur. Die Betten waren ungewohnt schmal. Gewohnt, mich nachts mehrmals umzudrehen, rollte ich einmal aus dem Bett, weil ich nicht beachtete, dass ich mich nur auf der Stelle zu drehen hatte. Daher rollte ich von der hohen Matratze, die in keinem Bettrahmen lag, runter auf den weichen Teppichboden.
Keine Fotos von den Piepstoren
Im Bundesfinanzministerium – in nationalsozialistischer Zeit war es Görings Luftfahrtministerium, in der DDR das „Haus der Ministerien“ – erläuterte ein Referent die unterschiedliche Nutzung des Hauses in der Geschichte und ein anderer die Finanzpolitik (sprich Schulden) der Bundesregierung, was unter den anwesenden Alt-Gewerkschaftern und Altsozis natürlich fast nicht enden wollende Statements hervorrief. Alles in ungefährlicher Atmosphäre, denn jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin wurde vorher auf eventuell mitgeführte Messer und Bomben elektronisch überprüft. Auch wurden wir darauf hingewiesen, dass der Fotoapparat beschlagnahmt oder die Bilder gelöscht werden müssten, falls die Sicherheitsanlagen, die wir durchlaufen hatten, fotografiert werden würden. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie zu fotografieren. Doch wer hätte Interesse an solchen Aufnahmen? Natürlich Geheimdienste jeder Art, vielleicht die Chinesen und andere Eindringlinge, die über solche Sicherheitsausstattungen der Ministerien sowieso schon alles wissen. Unsere Senioren aus Bottrop-Boy, Gladbeck-Zweckel und Dorsten-Altendorf dürften an solchen Aufnahmen kaum Interesse haben. Daher wurde auch kein Fotoapparat beschlagnahmt.
Doch so sicher scheinen sich darüber die Bundesbehörden in Berlin dann doch nicht zu sein. Obwohl bereits 14 Tage vor der Reise alle Namen mit Geburtsdaten und Geburtsorten zur Sicherheitsüberprüfung nach Berlin geschickt wurden, reichte diese Gründlichkeit nicht aus. Wir wurden zusätzlich geprüft und überprüft und überall da, wo wir waren, mit Plaketten behängt. Wir kennen ja zu Genüge die deutsche Gründlichkeit, die uns Deutsche mitunter so stolz macht.
Ganz Berlin scheint aus Kontrolleuren und Kontrollierten zu bestehen
So bewegte ich mich auf dieser politischen Bildungsreise, als ob ich erfahren sollte, dass die Teilnahme immer was mit den beängstigenden Eindrücken zu tun hat, die auch bei Grenzüberschreitungen in ein Feindesland hervorgerufen werden. Irgendwie hat man dann am Tagesende das Gefühl, ganz Berlin besteht nur aus Kontrolleuren und Kontrollierten. Das provoziert nicht nur Kritik, sondern macht auch nachdenklich, wie weit unsere Freiheit mittlerweile eingeschränkt ist, um eben diese Freiheit zu erhalten, die es doch gar nicht mehr gibt. Und wie weit Politik und Administration in diesem Prozess noch gehen können. Wir müssen wachsam sein.
Vor allem beim Besuch des Bundestags im Reichstag war diese Einschränkung um der Freiheit willen unangenehm zu bemerken. Böse machte mich der harsche Ton, den die vom Bundestag angestellten Sicherheitskräfte und Polizeibeamten den Bürgern gegenüber anschlugen. Der Bürger ist der Souverän dieses Hauses. Den Abgeordneten übereignen wir für fünf Jahre diese Souveränität, dass sie in unserem Namen regieren und debattieren dürfen. Im Namen des Volkes. Diejenigen, denen wir diese Souveränität überlassen, sollten sich einmal darüber Gedanken machen, wie die Bundestagsverwaltung mittlerweile mit ihrem Souverän – den Besuchern – umgeht.
Bei der Security geht Sicherheit offensichtlich vor Menschenwürde
Vor Jahren besuchte ich den Bundestag im Reichstagsgebäude. Da ging ich ohne Anmeldung die Treppe hoch, wurde dort von Sicherheitsleuten höflich nach dem Ausweis gefragt, musste eine mitgeführte Tasche in ein Schließfach geben und durfte dann ohne Sicherheitsbegleitung auf die Besucherempore. Jetzt war das anders. In Kolonnen wurde unsere Gruppe und wurden andere Besuchergruppen wie Schafe durch eine vor dem Reichstag aufgebaute Baracke geführt, die mit Polizisten und Sicherheitselektronik bestückt war.
Die erste Außenkontrolle fand vor der Baracke durch drei Sicherheitskräfte statt, die mit einer Liste checkten, wer zu welcher Gruppe gehörte. Dann durfte man die Baracke betreten. Einem an einem Tisch sitzenden Uniformierten musste ich meinen Personalausweis aushändigen. Der Mann verglich Namen und Geburtsdatum mit denen auf einer ihm vorliegenden Liste und hakte dann meinen Namen ab. Sodann wurde ich zum Röntgengerät gedrängt, wo Jacken, Taschen und dergleichen durchleuchtet wurden. Da ich solche Dinge vorausschauend im Bus gelassen hatte, hatte ich nichts, was ich auf das Band legen konnte und ging daran vorbei durch ein elektronisches Piepstor. Es piepste nicht. Eine Frauenstimme aus dem Hintergrund schon: „Hallo, hallo, zurückkommen!“ Ich drehte mich um, ob ich gemeint sei. Ich war es. Also ging ich wieder durch das Piepstor zurück und fragte, was denn los wäre. „Sie müssen ihre Sachen hier zum Durchleuchten ablegen!“ Ich sah an mir herunter, stand im Hemd, Pullover und Hose da, und meinte: „Welche Sachen denn, ich habe keine!“ „Ach so“, war die Antwort, „dann können sie durchgehen!“ Ich ging also ein drittes Mal durch das Piepstor und erweckte das Misstrauen einer Sicherheitsfrau jenseits des Piepstors, die mit einem Kollegen dastand und alle Besucher fest in die Augen sah. Unwillkürlich kam mir in den Sinn, sie überprüft die Unsicherheit und Nervosität von Attentätern und Bombenlegern. Oder habe ich zu viele James-Bond-Filme gesehen? Die Polizistin sah mich misstrauisch an. Vielleicht deshalb, weil ich nichts dabei hatte. Unentwegt schaute sie auf meine ausgebeulte Hosentasche, in der ich, da ich ohne Jacke war, nun verschiedene Sachen verstaut hatte. Ich schwöre: keine Bombe! Nur Schreibblock und Kugelschreiber. Diese Beule war der Frau offensichtlich nicht geheuer. Sie verfolgte mich mit ihren Blicken, die immer noch auf meine Hosentasche gerichtet waren. Ich ging an ihr vorbei, um endlich durch die Hintertür die Baracke zu verlassen. Diese Tür war zu. Ich musste die andere benutzen und noch einmal an der Frau mit dem misstrauischen Blick vorbeigehen. Inzwischen hatte sie ihrem Kollegen etwas zugeflüstert, der nun ebenfalls auf meine ausgebeulte Hosentasche sah. Jetzt hatte ich von diesen durchdringenden Blicken genug. Bevor sie mich womöglich aufforderten, den Tascheninhalt zu leeren, ging ich schnell zum Ausgang. Ich drehte mich noch einmal um und sah, wie sie mir nachblickten. Dann entschwand ich durch die Tür und hatte die Polizei-Grenz-Kontrolle zwischen dem Rasen vor der Sicherheitsbaracke und dem Rasen hinter der Sicherheitsbaracke geschafft. Erleichterung? Keineswegs.
„Recht, rechts, rechts, los rechts!“
Jetzt standen Sicherheitskräfte auf der schmalen Auffahrt zu der Freitreppe, die in das Reichstagsgebäude führt. Allerdings fährt da kein Auto mehr, denn die Abgeordneten haben einen anderen Eingang. Außerdem war auch alles mit Polizeigittern versperrt. Kaum hatte ich drei Schritte auf diesem Weg zurückgelegt, wurden ich und andere vier Personen harsch aufgefordert: „Rechts, rechts, rechts, los, rechts!“. Und das auf einer freien und engen Straße. Eine Handbewegung des Polizisten verstärkte die Aufforderung unmissverständlich. Ich drehte mich um, ob vielleicht doch ein Auto käme, doch keines kam. Als ich weiterlief, weil ich nicht einsah, warum ich nun einen Meter weiter rechts laufen sollte, gab ich nach einer weiteren barschen Aufforderung, bei der der Polizist auf mich zukam und mir drohend entgegen rief, ob ich das Gelände gleich verlassen wolle, meinen „Starrsinn“ doch auf und ging etwa einen Meter weiter rechts. Doch nur etwa acht Schritte. Dann mussten wir „rechts“ wieder verlassen, um auf die linke Seite zu kommen, von der aus wir das Gebäude über eine Treppe betreten konnten.
Im Haus übernahmen andere das Kommando – im wahrsten Sinn des Wortes: „Rechts, bleiben sie rechts! Gehen sie weiter nach hinten, gehen sie links, noch weiter links, weiter, weiter!“ Die Sicherheitskräfte drängten uns so zusammen, dass wir dann mit anderen Gruppen die Besucher-Empore erreichen konnten, nicht ohne vorher ein Schild umgehängt zu bekommen, auf dem „Besucher-Empore“ stand. Warum? Wir konnten uns nur auf der Besucher-Empore aufhalten. Zwei Personen des Personals waren für diese Schilder zuständig.
Immer diese Kommandos
Wir warteten auf den Einlass: „Gehen Sie links, links, und ruhig, verlassen Sie nach 50 Minuten freiwillig wieder die Empore!“, wurde uns mit auf den kurzen Weg zu den Sitzen mitgegeben. Endlich saß ich auf einem Platz und konnte dem parlamentarischen Treiben unten im Plenum zusehen und zuhören.
Von wegen Treiben. Langweilige Reden, gelangweilte Kameramänner der Fernsehanstalten links und rechts auf der Empore, herumwieselnde Saaldiener im Frack, die Wasser zu den Rednern und den Abgeordneten brachten, sich räkelnde Abgeordnete in Jeans oder im Anzug, die keine zwei Reihen des Parlaments füllten. Und davor der Redner am Pult. Dem Zuschauer auf der Empore war nicht klar, zu wem er eigentlich redete, denn kaum einer hörte aufmerksam zu. Die Abgeordneten standen auf, lasen in Zeitungen, liefen herum, sprachen miteinander, begrüßten sich, gingen hinaus, kamen wieder herein. Währenddessen strampelte sich der Redner verbal und auch gestikulierend ab. Wenn mir nur noch einfallen würde, über was die Redner sprachen!
Nach 50 Minuten verließen wir die Empore, damit andere Gruppen, die schon warteten, sich diesem hochpolitischen Genuss hingeben könnten. Und die Erkenntnis? Da ich wegen meiner Parteilosigkeit und meines Alters kaum noch durch die Abgeordnetentür das Gebäude betreten werde, werde ich sicherlich den Bundestag nicht wieder besuchen! Es war also ein Abschiedsbesuch. Aber kein trauriger.
Bei der Rückbesinnung wurde mir so richtig klar, was sich Besucher des Bundestages alles gefallen lassen müssen, dass sie wie Schafe behandelt werden, nicht aber wie mündige Bürger. Mehr noch, mir kam es vor, als hätte ich eine feindliche Grenze überschritten. Und der Feind war ich. Wer sonst! Die Kontrollen richteten sich eindeutig gegen mich! Und da kamen mir unwillkürlich wieder meine Grenzübertritte in die DDR in den Sinn. Warum nur? Die DDR gibt es doch nicht mehr!
Was kann ich jetzt tun? Ich werde meine Eindrücke über diesen Bundestagsbesuch meinem Abgeordneten übermitteln. Hat das Sinn? Vielleicht würde die Atmosphäre bei zugegeben notwendigen Kontrollen dann entspannter und der Ton des offensichtlich überforderten Sicherheitspersonals angemessener sein, wenn der Massen-Besuchs-Tourismus im Reichstagsgebäude etwas einschränkt werden würde? Das täte allen gut, vor allem der Würde des Hauses und der Besucher!
Nach der Plenarsitzung ging es zur Kuppel. Und wieder dieser scheuchende Ton des Personals vor und in den Aufzügen, in denen rund 20 Personen Platz haben, wenn sie Körper an Körper stehen. Warum denke ich hier wieder an Schafe? Drei Besucher standen noch vor der offenen Aufzugstür und hatten keinen Platz mehr im Aufzug. „Alle rein, weiter rücken, nach hinten, nehmen sie ihre Rucksäcke von der Schulter, dann passt es schon!“ Und mit etwas Nachhilfe beim Drücken, Pressen und Schieben passte es tatsächlich. Der Blick über das weite Berlin bei herrlichstem Sonnenschein ließ die Enge des Fahrstuhls schnell vergessen.
Besuch in der SPD-Zentrale
Da war der Besuch in der SPD-Parteizentrale doch freier und freundlich. Ein junger Referent erläuterte sozialdemokratische Politik und Tradition. Da hatten die meisten Besucher ein Heimspiel, was mit Kugelschreibern, Kaffee und Apfelsaft und einen Gruppenfoto vor dem Willy Brandt-Statue im Foyer belohnt wurde. Man kennt diesen metallenen Willy Brand vom Fernsehen, wenn die SPD-Bosse eine Pressekonferenz vor oder neben der Statue geben. Mich graust es immer, wenn ich sie sehe. Ich meine die Statue. Willy Brandt, durch dessen Politik mir die SPD erst sympathisch wurde, so „metallen ungehobelt“ zu sehen, ärgert mich, weil er so aussieht, als sei er gerade als Monster einem Sumpf entstiegen. Diese Figur ist nicht Willy Brandt – und mein Willy Brand schon gar nicht.
Auch wenn die SPD nun endlich ihren Kanzler-Kandidaten gekürt hat und nicht weiter mit einer Troika ihre Sympathisanten vergrätzt, so scheinen die Sozialdemokraten ihre Geschäfte noch nicht erledigt zu haben, denn Willy Brand weist postum und mit seinen ausgestreckten Fingern auf ein Spruchband, auf dem wie ein Vermächtnis steht „Nichts ist erledigt“.
NS-Terror und Stasi-Terror
Der Besuch von zwei Gedenkstätten stand noch auf dem Programm der Bildungsreise. Das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ befindet auf dem Gelände an der früheren Prinz-Albrecht-Straße, wo der Terror durch Gestapo, SS und Sicherheitsdienst (SD) seinen Sitz hatte. Eine Ausstellung mit Fotos und Texten führte in die Geschichte des Nationalsozialismus und in die verlorene Menschlichkeit des deutschen Staates. Damals waren Willkür, Konzentrationslager, Staatsmorde und industriell durchgeführtes Massentöten Andersdenkender, Andersgläubiger und „Andersrassiger“ in Deutschland und im besetzten Europa Politik.
Der Besuch des ehemaligen Stasi-Untersuchungsgefängnisses in Hohenschönhausen, das mit den Folterzellen und Folterinstrumenten nun Gedenkstätte ist, konfrontierte uns authentisch mit der Unmenschlichkeit des DDR-Systems, das nach der NS-Zeit noch 45 Jahre lang andauerte. Es zeigte mir, dass der Mensch nichts aus der Geschichte lernt und auch nicht lernen wird. Das bestätigte auch eine kurze Unterhaltung mit einem Reiseteilnehmer. Die Authentizität des Ortes wirkte sich wohl unterschiedlich auf die Teilnehmer aus. Nachdem alle ziemlich verstört das Gebäude verlassen hatten, meint doch einer, dass wir alle unsere Kriminellen hierher schicken und so behandeln sollten, wie es die Stasi machte. Ich antwortete ihm, dass erstens hier keine Kriminellen einsaßen, sondern politisch Andersdenkende und somit Unschuldige, und zweitens wir nicht die DDR seien, sondern ein Rechtsstaat, der Gefangene nicht foltert. Das Argument schien nicht verfangen zu haben, denn die Antwort war: „Doch nur die Kriminellen herschicken, denn sie wohnen in unseren Gefängnissen wie in Luxus-Hotels“, meinte der ältere Herr auf politischer Bildungsreise. Bildungsreise?
Der vierte Tag in der Bundeshauptstadt endete am Hauptbahnhof Berlin, wo sie Tage zuvor begann. Abends waren wieder alle zuhause – beglückt und begeistert und gebildet von dem Gesehenen und Gehörten und Erlebten.