Von Wolf Stegemann
Eine Vorbemerkung: Der Marktplatz – oft auch die gute Stube der Stadt genannt – stand und steht immer in der Betrachtung der Bürger. Denn er ist auch der Platz, auf dem die Bürger ihrer Obrigkeit die Meinung sagen konnten, ohne Nachteile von der Obrigkeit dafür in Kauf nehmen zu müssen. Zumindest sollte es so sein. Wenn es in der Gegenwart Anlässe gibt, dies in Frage zu stellen, dann sollte man solchen Anlässen entgegentreten, was auch geschah und geschieht. Ein Streit eskalierte unlängst, bei dem es – vereinfacht gesagt – um den Verkauf von Getränken auf dem Marktplatz ging. Der Streit war so widerlich und unnötig, wenn die Dorstener Obrigkeit mehr Gefühl für die Tradition des Marktplatzes als Platz der freien Bürger gehabt und nicht zu sehr das Kommerzielle das Handeln bestimmt hätte.
Auf dem Marktplatz als Mittelpunkt der Stadt fanden schon immer zu bestimmten Zeiten Märkte statt, bei denen Kaufleute, Warenproduzenten und Verbraucher ihre Geschäfte abschließen konnten. Wegen der großen Ansammlung von Menschen und der Anhäufung von Waren hatten diese Märkte eine besondere Friedensgarantie („Pax forensis“) und die Besucher standen unter königlichem Schutz (Friedensbann). Die in größeren Zeitabständen abgehaltenen Jahrmärkte (Katharinen- und Nikolauskirmes u. a.) dienten der Versorgung einer kleineren Gruppe von kirchlich und weltlich Höherstehenden mit Waren des gehobenen Bedarfs. Die Stadt als Marktherr konnte Abgaben erheben (Marktzölle), durch Festlegung bestimmter Straßen und Wege (Wegezwang) das Marktgeschehen bis heute beeinflussen. Viele Orte mit Marktveranstaltungen entwickelten sich zu Städten, viele wuchsen aber über den Charakter einer „villa fori“ (Marktort) nicht hinaus. Wie in Dorsten, so blieb meist die wirtschaftliche Funktion auf den kommerziellen Umsatz im Nahbereich beschränkt.
Bürgermeister legten auf dem Marktplatz Rechenschaft ab
Die Bedeutung des Marktes kommt in der prominenten Stellung des Marktplatzes im mittelalterlichen Stadtbild zum Ausdruck. Schnell entwickelte sich der Verkaufsplatz in einen umbauten Platz, an dem wegen der hervorgehobenen Lage das Rathaus und die Wohnhäuser der Oberschicht entstanden waren, die dem Marktplatz durch ihre besonders verzierten Häuser ein prominentes Gepräge gaben. Der so herausgebildete Mittelpunkt der Stadt wurde auch Austragungsort für politische, rechtsanhängige, verwaltungstechnische, kulturelle und soziale Belange der Bürger. Es fanden Aufmärsche der Schützen und Stadtsoldaten, Paraden und Biwaks der Sieger auf dem Marktplatz statt. Der Pranger als Instrument der Rechtspflege stand auf dem Markt. Auch fanden dort solche Hinrichtungen statt, mit denen die Obrigkeit die Bevölkerung einschüchtern und disziplinieren wollte. Am Tage St. Johannes (27. Dezember) kamen nach der Messe die Bürger auf dem Marktplatz zusammen, um den Rechenschaftsbericht der Bürgermeister und der Rentmeister zu hören sowie Vorschläge für das kommende Jahr zu machen. Anschließend wählten die Gilden auf dem Marktplatz ihre Gildemeister.
1588 ließ der Vestische Statthalter und Dorstener Stadtrichter Vinzenz Rensing Todesurteile gegen Frauen vollstrecken, die der „Hexerei“ schuldig gesprochen waren. Eine von ihnen, die Witwe des Dorstener Bürgermeisters Burich, starb zuvor auf der Folterbank des Stadtrichters, was ein Fehler des Richters war. Um sein fehlerhaftes Verhör zu vertuschen, ließ Rensing der Frauenleiche das Genick brechen und sie mit der Begründung auf den Marktplatz bringen, der Teufel habe ihr das Genick gebrochen, um sie von der Folter zu erlösen. Vorher soll auf dem Marktplatz ein Mensch gevierteilt worden sein, der als Evangelischer ertappt wurde und deshalb als Verräter galt.
Gefangene auf dem Marktplatz erschossen
1919 und 1920 erschossen Angehörige der beiden Freikorps Lichtschlag und Loewenfeld auf dem Marktplatz gefangen genommene Spartakisten und Rotgardisten. 1925 bejubelte die Bevölkerung auf dem Marktplatz den Abzug der Belgier, 1935 begrüßten die Dorstener den SA-Chef Viktor Lutze, im selben Jahr wurde erstmals das Winzerfest gefeiert und 1937 fand die Abschlusskundgebung des NSDAP-Kreisparteitags auf dem Dorstener Marktplatz statt. 1938 missbrauchten die Nationalsozialisten den Marktplatz, um hier im November Sakralgegenstände der geschändeten Synagoge zu verbrennen. Als Dorsten Militär-Standort wurde, marschierten am 22. März 1939 Soldaten der Wehrmacht auf und auf den Tag genau sechs Jahre später legten alliierte Bomber den Marktplatz und die gesamte Innenstadt in Schutt und Asche.
1951 wollten Dorstener Kaufleute mit dem Abriss der Alten Stadtwaage den Marktplatz erweitern. Im selben Jahre jubelten mehr als 10.000 Dorstener dem Vizeeuropameister im Mittelgewicht, Günther Sladky, zu, wie in den 1990er-Jahren mehrmals den Olympiasiegern und Meistertitelträgern im Rudern, Thomas Streppelhoff und Dirk Balster. 1978 wurde der Marktplatz in die Fußgängerzone einbezogen und seit 1979 wird das Altstadtfest auf dem Marktplatz gefeiert. Hin und wieder lud Dorstens Bürgermeister die Rekruten der 4. Batterie des Flugabwehrbataillons 7 Borken, mit dem Dorsten eine Patenschaft verband, zu öffentlichen feierlichen Gelöbnissen auf den Marktplatz ein, so 1974, 1979, 1983. Im Jahre 1990 fand die große Wiedervereinigungsfeier statt und 1999 auf 2000 die Millenniums-Silvesterfeier. Seit etlichen Jahren ist der Marktplatz zur Weihnachtszeit Anziehungspunkt für Schlittschuhläufer, wenn aus einem Teil des Marktes eine künstliche Eisfläche entsteht.
Fehlende Gestaltungssatzung
Wenn der Marktplatz beim Wiederaufbau nach der Zerstörung 1945 auch seine historischen Dimensionen behalten hat, so sind die Hausfassaden – von wenigen Ausnahmen abgesehen, darunter das Kohle-Haus, nicht nur gesichtslos, sondern auch mit überdimensionalen Reklametafeln versehen worden, die oft die gesamte Hausbreite, zum Teil auch die Breite mehrerer Häuser einnehmen bzw. einnahmen. Auch die Hauptstraßen (Essener-, Recklinghäuser und Lippestraße) geben wegen des Schilder-Chaos’ nach Meinung von Stadtplanern ein Bild ab, über das seit Anfang der 1980er-Jahre ohne sichtbaren Erfolg öffentlich diskutiert wurde. Eine Gestaltungssatzung, mit der auch der Wildwuchs von Reklameschildern zum Wohl des Stadtbildes eingeschränkt werden könnte, scheiterte jedes Mal an der notwendigen Mehrheit im Rat und an der letztendlichen Ablehnung der meisten Kaufleute.
Bis 1997 ging die Stadt bei der denkmalwidrigen Farbgebung des Alten Rathauses mit negativem Beispiel selbst voran. Obgleich diese Farbgebung von einheimischen und auswärtigen Fachleuten seit 1980 öffentlich als „völlig deplatziert“ diskutiert wurde, beharrte der Rat mehrheitlich bis 1997 auf dem kräftigen Blau. Genau so lange wurde und wird eine Bepflanzung des Marktes mit Bäumen kontrovers diskutiert. Die Befürworter wollen dem leeren Platz eine Verweilatmosphäre geben, die Gegner wollen ihn freihalten, um ihn u. a. als traditionellen Aufmarschplatz für den Altstadtschützenverein zu erhalten. Die Anwohner argumentierten mit Licht- und Sichtbehinderungen vor ihren Fenstern. 1997 stellten Schüler und Schülerinnen der Umwelt AG des Gymnasiums St. Ursula den Antrag an die Stadt, einen großen Baum, eventuell eine Linde, oder eine Baumgruppe aus drei oder vier Platanen zu pflanzen. 350 Bürgerinnen und Bürger der Stadt unterstützten den Antrag. Auch direkte Anwohner hätten eine solche Bepflanzung befürwortet. Doch der Umweltausschuss der Stadt lehnte den Schülerantrag mit den Stimmen von CDU und SPD ab. Die Grünen stimmten zu. Der Planungsdezernent begründete die Ablehnung der Verwaltung damit, dass der Marktplatz über 700 Jahre keinen einzigen Baum gesehen habe. Zudem: „Einen Baum in die Mitte des Platzes zu setzen, geht eigentlich nicht. Der Marktplatz hat nämlich keine Mitte.“
Marktplatz mit neuem gastronomischen Gesicht
2008 und 2009 haben am Markt mehrere neue Cafés und gastronomische Betriebe eröffnet, die peu à peu fast den gesamten Markt mit Stühlen eingenommen haben. Einerseits belebt dies wünschenswert die Innenstadt, andererseits wurden bereits kritische Stimmen laut, dass dies mittlerweile zu „viel des Guten“ sei und die Atmosphäre des Marktes beeinträchtige. Seit Herbst 2010 ist in den drei Schürholz-Häusern auf der Südseite des Marktes das dort ansässige Bekleidungshaus Mensing verschwunden. Stattdessen sind eine Niederlassung der Buchhandlungskette „Thalia“ sowie zwei Bekleidungsgeschäfte in die Häuser eingezogen.
Seit einigen Jahren wird der Marktplatz bei Festveranstaltungen abgeriegelt, damit kein Bürger den Platz ohne Bezahlung betreten kann. Darüber bildet sich in der Bevölkerung Unmut mit dem Hinweis, dass der Marktplatz ein authentischer und originärer Ort der Bürger sei, denen man den Zutritt zu ihrem Marktplatz traditionell nicht verwehren dürfe – schon gar nicht, um Eintrittsgeld zu kassieren, wenn private Unternehmen den Marktplatz in Beschlag nähmen.
An mehreren Tagen in der Woche findet auf dem Markt und teilweise in den anliegenden Straßen der so genannte Wochenmarkt statt. Angeboten werden Obst, Käse, Fisch, Haushaltswaren, Fleisch, Wurst und anderes mehr. Im April 2012 erstattete ein Gutachter (CIMA-Team Michael Karutz) dem Wirtschaftsausschuss des Rates Bericht darüber, wie er die Qualität des Dorstener Wochenmarktes auf dem Marktplatz einschätze. Beauftragt hatte ihn die städtische Wirtschaftsförderungsgesellschaft Windor. Er gab dem Wochenmarkt in Dorsten „Bestnoten“. Die DZ schrieb folglich: „Dorstens Markt ist eine Attraktion, die keinen Vergleich zu scheuen braucht.“ Das Gutachterteam befragte Markthändler, Beschicker, Kunden. Das Ergebnis des Gutachtens mag all jene überrascht haben, die seit Jahren einerseits eine zunehmende Verödung des Wochenmarkts und andererseits eine Belebung durch das Fehlen von Lebensmittelgeschäften in der Innenstadt feststellen.
Eine interessante Tour D’Horizon zur Dorstens “guter Stube” von Wolf Stegemann!
Es zeigt sich, dass der Marktplatz, so wie er sich heute den Besuchern präsentiert, seine dominierende Bedeutung in und für die Dorstener Altstadt hat. Der Mix aus Gastronomie und Einzelhandel spricht unterschiedliche Generationen und Käuferschichten an. Vielfältige kulturelle Veranstaltungen locken auch am Abend oder an Wochenenden Besucher in die Stadt. Und vor allem der Wochenmarkt! Fazit: Der Marktplatz zeigt sich heute so attraktv, wie schon seit Jahren nicht mehr.
Damit dieser Zustand erhalten bleibt, ist Sensibilität gefordert, denn: Ein guter Ruf ist schnell beschädigt. Das heisst: Pächter bzw. Mieter, Eigentümer und Nutzer sowie die Verwaltung der Stadt tragen gemeinsam Verantwortung, dass das Miteinander funktioniert. Hier ist die Bereitschaft und Kompromissfähigkeit aller Beteiligten gefordert, Unstimmigkeiten diskret beizulegen und nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen – und zwar in eigenem Interesse. Damit “gegenwärtige Unstimmigkeiten” nicht nur Randnotizen bleiben, sondern gänzlich vergessen werden.
Was darf man erwarten von den Leuten, die diese Stadt regieren, dominieren, ins Abseits katapultieren?