Dorsten hat die Schließung der Zeche bis heute nicht verkraftet – Hat die Politik die Weichen richtig gestellt?

drf. – Dorsten schrumpft.  4.000 Einwohner weniger im Jahrzehnt bis 2010, noch einmal weitere 9.000 weniger bis 2030, so die Modellrechnung des Statistischen Landesamtes. Dieser Aderlass droht die Sanierung der städtischen Finanzen zu gefährden, denn jeder, der sich aus Dorsten verabschiedet, hinterlässt der schrumpfenden Bevölkerung seinen Pro-Kopf-Anteil an der Verschuldung, und die fixen Kosten der Stadtverwaltung und ihrer Einrichtungen müssen von immer weniger Bürgern geschultert werden.

Wer nach den Ursachen sucht, wird schnell  fündig. Von 1999 bis 2003 fiel die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Dorsten um 4.900, ein Viertel aller Beschäftigten. Den größten Beitrag dazu lieferte Fürst Leopold. Mit der Schließung der Zeche 2001 gingen 3.000 Arbeitsplätze verloren, dazu weitere im Zulieferbereich. Dieser Einbruch beendete abrupt die Aufwärtsentwicklung der Einwohnerzahl und verkehrte sie ins Gegenteil. Seither geht es bergab.

Von diesem Schlag hat Dorsten sich nicht mehr erholt. Seit 2002, dem Jahr eins nach der Zechenschließung, schrumpft die Bevölkerung. Dass die Schließung kommen würde,  war schon länger bekannt. War die Stadt nicht oder nicht ausreichend vorbereitet? Verschlief sie die notwendige Strukturanpassung? In den Folgejahren gingen jedenfalls noch einmal 500 Arbeitsplätze verloren. 2006 markiert den Tiefststand mit nur noch 13.800 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, für eine Stadt von 80.000 Einwohnern beängstigend wenig. Zwar stieg die Beschäftigung bis 2010 wieder um 1.200 an. Aber achtzig Prozent der untergegangenen Arbeitsplätze blieben verloren.

Zwei Drittel der Erwerbstätigen verdienen ihr Geld außerhalb Dorstens

Damit ist das Bild noch nicht vollständig. Von den aktuell vorhandenen etwa 15.000 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen werden 7.000 von Einpendlern wahrgenommen, von Personen also, die nicht in Dorsten wohnen. Umgekehrt heißt dies, dass lediglich 8.000 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Einwohner auch ihren Arbeitsplatz in Dorsten haben. Die übrigen Erwerbstätigen verdienen ihr Geld außerhalb Dorstens. Ihre Zahl summiert sich auf 16.000 – das sind die Auspendler, die man werktags auf den Autobahnen in Richtung der großen Ruhrgebietsstädte trifft. Um es anders auszudrücken: von den Dorstenern verdient ein Drittel sein Geld in Dorsten, zwei Drittel außerhalb Dorstens. Die Stadt verzeichnet einen negativen Pendlersaldo von 9.000 Personen, das ist die Differenz zwischen 7.000 Einpendlern und 16.000 Auspendlern. All diese Zahlen klingen rekordverdächtig – im negativen Sinn.

Was hat das alles mit Kommunalpolitik zu tun? Sehr viel. Die Zechenschließung war ein Einschnitt, der die Lage Dorstens grundlegend und auf Dauer verändert hat. Die Auswirkungen des dezimierten Arbeitsplatzangebots und der sinkenden Einwohnerzahl sind deutlich sichtbar. Da sind insbesondere die Folgen für das Steueraufkommen. Vergleicht man das jahresdurchschnittliche Aufkommen der Zeiträume 2000 bis 2002 und 2010 bis 2012, so kommt man im Jahr zehn nach der Schließung der Zeche zu folgenden Ergebnissen (die Werte für 2012 sind dem Haushaltsplan entnommen): Gewerbesteuer + 7 %  (1,2 Mio. Euro), Gemeindeanteil an der Einkommensteuer  + 2 %  (0,4 Mio. Euro), Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer + 17 %  (0,3 Mio. Euro).

Geringe Wirtschaftskraft und Bevölkerungsschwund führen zu real sinkenden Steuereinnahmen

Der Anstieg bei der Gewerbesteuer dürfte alleine der Anhebung des Hebesatzes zu verdanken sein. Der Zuwachs der Umsatzsteuereinnahmen geht ausschließlich auf die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von 16 auf 19 % zurück. Rechnet man diesen Einfluss heraus, so ist das Umsatzsteueraufkommen sogar leicht gesunken.  So sehen also die wesentlichen Indikatoren für die Wirtschaftskraft Dorstens aus: Rückschritt an allen Fronten. An diesen Zahlen lässt sich ablesen, dass die Verschuldung der Stadt auch etwas mit der rückläufigen Wirtschaftskraft und dem Bevölkerungsschwund und daraus folgend zu geringen Steuereinnahmen zu tun hat.

Deutlich gestiegen sind die Einnahmen, über deren Höhe die Stadt selbst beschließen konnte: durch Mehrbelastung der Bürger. Das Grundsteueraufkommen hat um 27 % zugelegt (+ 2,3 Mio. Euro), die Abwassergebühren  um  41 % (geschätzt  + 4 Mio. Euro). Gestiegen sind auch die Schlüsselzuweisungen des Landes, nämlich um 11,2 % (+ 3,2 Mio. Euro).

Nachdem die kommunalen Verantwortungsträger nicht entschlossen gehandelt haben, um die Abwärtsspirale aufzuhalten, sondern eine Zunahme der kurzfristigen Schulden zwischen 2001 und 2011 um 146 Millionen Euro auf 183 Millionen Euro zugelassen haben, befindet sich Dorsten nun im Zangengriff zwischen zu geringem Arbeitsplatzangebot, schrumpfender Einwohnerzahl und sinkender Wirtschaftskraft einerseits und andererseits dem Zwang, den hoch defizitären Haushalt zu sanieren und die überbordende Verschuldung innerhalb kurzer Zeit zurückzuführen, wobei die dazu ergriffenen Maßnahmen die ungünstige Entwicklung noch zu verstärken drohen.

Wohin aber soll Dorsten sich orientieren? Das Arbeitsplatzangebot wird nicht wesentlich zu steigern sein, jedenfalls nicht über das bisherige bescheidene Maß hinaus. Betriebe anzusiedeln wird nicht leichter werden, nachdem sich die Bedingungen für die ansässigen wie für ansiedlungswillige Unternehmen durch die Steuererhöhungen verschlechtern. Man wird froh sein, den Stand zu halten. Die andere Option, sich als Wohnstadt weiterzuentwickeln für Menschen, die in den Ballungszentren des Ruhrgebiets arbeiten, wird zunehmend von gegenläufigen Tendenzen behindert. Dazu gehört an erster Stelle der seit Jahren anhaltende Bevölkerungsschwund, aber auch eine Renaissance des ‚Wohnen in der Stadt‘, das nun auch durch drastisch steigende Kosten der Mobilität begünstigt wird. Rat und Verwaltung setzen noch eins drauf, indem die Stadt mit der Erhöhung der Grundsteuer B auf das Doppelte des Landesdurchschnitts und weitere Abgabenerhöhungen Signale aussendet, die alles andere als einladend auf umzugswillige Familien wirken.

Totalausfall – Die im Rat vertretenen politischen Parteien bieten keine Lösungen an

Dorsten ist in einer schwierigen Lage gefangen. Niemand behauptet, dass es einfache Lösungen gibt. Beängstigend allerdings ist, dass die im Rat der Stadt Dorsten vertretenen Parteien auch nicht ansatzweise Ideen oder  Programme vorweisen, die Wege aus der Misere eröffnen könnten. Dazu fehlt es allerdings auch an den Voraussetzungen. Denn zuerst brauchte es eine schonungslose Analyse der Fehlentwicklungen in der Vergangenheit und eine Vorausschau, wie sich die Lage für Dorsten unter status quo-Bedingungen  entwickeln wird. Darauf könnten dann Überlegungen aufgebaut werden, in welche Richtung der Weg Dorstens zu lenken wäre und welche Maßnahmen bzw. Maßnahmenpakete dafür geeignet sind. Aber nichts dergleichen. Die Parteien glänzen mit der vollständigen Abwesenheit von konkreten Programmen. Sie leben in den Tag hinein und mit ihnen die Stadt Dorsten. Und so ist alles Stückwerk. Der Haushaltssanierungsplan ist wie eine Operation am offenen Herzen, ausgeführt von Personen, die die Krankheit des Patienten mitverursacht haben, und angelegt als Feldversuch in der Hoffnung, der Patient werde die Operation überleben.

Wie passt die massive Ausweitung der Einzelhandelfläche mit dem Bevölkerungsrückgang und dem Kaufkraftschwund zusammen?

Dazu noch ein aktuelles Beispiel. Soeben wurde der Bebauuungsplan für die ehemalige Zechenfläche vom Rat der Stadt Dorsten genehmigt. Er erlaubt die Ansiedlung eines Frischemarktes und eines Fachmarktes auf einer Gesamtfläche von 2300 qm sowie eines Lebensmittel-Discounters auf bis zu 800 qm, ferner kleinteiligen Einzelhandel auf einer Fläche von 600 qm. Zu dem Vorhaben gibt es eine gutachterliche Stellungnahme der CIMA Beratung + Management GmbH aus 2010. Sie rechnet vor, dass die auf dem ehemaligen Zechengelände neu entstehenden Einzelhandelsflächen ihre künftigen Umsätze aus den Stadtteilen Hervest, Holsterhausen, Altstadt, Feldmark und anderen Stadtteilen rekrutieren, soll heißen: abziehen. Lediglich zehn Prozent könnten durch zusätzlichen Kaufkraftzufluss hinzu kommen. Das bedeutet nichts anderes, als dass es  zu einer Umverteilung der Einzelhandelsumsätze innerhalb von Dorsten kommt und die bestehenden Stadtteilzentren geschwächt werden.  Abschließend heißt es im Gutachten:

„Das Projektvorhaben ist in seiner Dimensionierung und standorträumlichen Konzeption  mit dem vorliegenden Einzelhandelskonzept für die Stadt Dorsten nicht vereinbar. […] Die Realisierung des Projektvorhabens bedeutet einen Paradigmenwechsel. Er führt zur Aufgabe des traditionellen Nahversorgungsbereichs  ‚Halterner Straße / Harsewinkel‘ und zur Etablierung eines neuen multifunktionalen Stadtteilzentrums auf dem Zechenareal.“

Die demographische Entwicklung Dorstens und das Projekt am Standort des früheren Lippetor-Centers waren übrigens in die Stellungnahme nicht einbezogen. Man muss sich wundern, dass sich die Dorstener Einzelhändler von den von ihnen gewählten Ratsmitgliedern so widerstandslos zur Schlachtbank führen lassen.

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Anmerkungen: Die Zahlen zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind dem Kommunalprofil Dorsten des Statistischen Landesamts für die Jahre 2008 bis 2011 entnommen. – Die gutachterliche Stellungnahme der CIMA ist im Internet unter folgendem Link abrufbar: http://www.dorsten.de/Verwaltung/Presse/Aktuelle_Meldungen/100308_CIMA_Stellungnahme_F%FCrst_Leopold.pdf – Das CIMA-Papier ist übrigens mit der Suchfunktion auf der Homepage der Stadt nicht auffindbar.
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Ein Kommentar zu Dorsten hat die Schließung der Zeche bis heute nicht verkraftet – Hat die Politik die Weichen richtig gestellt?

  1. Bürger sagt:

    Viele Binsen führt der Autor da an, auf die der Leser mit etwas Überlegen selbst käme, liest er diesen Artikel. Ein Wort zu den Pendlern: Recherchieren Sie mal, wie viele der Entscheidungsträger der Stadt Dorsten überhaupt in Dorsten wohnen, die uns Dorstener die effektive Steuergeld vernichtende Arbeit, die sie leisten, täglich spüren lassen (Beispiele: WinDor – überflüssig wie ein Kropf, Erhöhung der Grundsteuer, marode Straßen seit Jahren, desolate Schulen usw.). Bei vielen werden Sie feststellen, dass sie sich nach getanem Tagwerk in Dorsten gern in die erholsamen schuldenfreien Regionen (z. B. des Kreises Borken) zurückziehen. Hier lässt es sich noch niveauvoll wohnen …

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