Von Wolf Stegemann
Kein glückliches Händchen hatte und hat die Stadt mit den stillen Örtchen. Wer in der Innenstadt einem menschlichen Bedürfnis nachgeben musste, stieg neben dem Heimatmuseum in einen unterirdischen, fensterlosen und übel riechenden Ort hinab. Jahrelang zog sich der Streit über öffentliche Toiletten ohne Ergebnis durch Rat und Verwaltung. Immer gab es irgendeinen Grund, warum eine notwendige, saubere und öffentliche Toilette in der Stadt nicht eingerichtet wurde. Doch zum 750. Stadtjubiläum 2001 wurde das stille Örtchen in Gestalt einer behindertenfreundlichen WC-Fertigkabine mit Behinderten-Toilette und Wickeltisch an der Ecke Klosterstraße/Westgraben für 250.000 DM etabliert und die unterirdische Toilette am Marktplatz zugeschüttet.
Als diese Planung Mitte 2000 bekannt wurde, protestierte die benachbarte Caritas, die im früheren Schulgebäude der Franziskaner untergebracht ist, und meinte:
„Die Stadtväter, die vor 359 Jahren den Entschluss fassten, dieses Gebäude (gemeint ist das Schulgebäude) zu errichten, hatten im Traum nicht daran gedacht, dass zur Jubiläumsfeier unserer Stadt im Jahr 2001 dieses historische Gebäude durch eine öffentliche Bedürfnisanstalt in den Hintergrund gedrängt werden kann.“
Der skurrile Protest blieb erfolglos. Bürgermeister Lambert Lütkenhorst hielt am WC-Standort fest. Das aktuelle rein menschliche Bedürfnis hatte sich gegenüber der historischen Betrachtung der Caritas von vor 359 Jahren durchgesetzt. Irgendwie erinnert diese Toiletten-Auseinandersetzung auf höchster Kommunalebene – muss der Bürgermeister so etwas regeln? – an die 1934 erschienene Novelle “Clochemerle” des französischen Autors Gabriel Chevalier. In dem fiktiven Städtchen Clochemerle, gelegen im Beaujolais, beschließen der um seine Wiederwahl besorgte Bürgermeister Barthelemy Piechut und die Honoratioren des Ortes, eine öffentliche Bedürfnisanstalt zu bauen – direkt vis-à-vis der Kirche. Der Protest sittenstrenger Bürgerfrauen, angeführt von der alten Jungfer Justine Putet, der zwischen öffentlicher Moral und praktischer Vernunft hin- und hergerissene katholische Priester Ponosse und die unklare Gemengelage in und zwischen den Familien lassen den Bau der Bedürfnisanstalt zu einem Skandal werden, so dass zu guter Letzt das Militär einschreiten muss, um die erhitzten Gemüter zu beruhigen. So weit ist es in Dorsten nicht gekommen – und wird es voraussichtlich auch nicht kommen, wenngleich der Streit um öffentliche Bedürfnisse seinen Höhepunkt sicherlich noch nicht erreicht haben dürfte, wie aus dem Rathaus zu erfahren war.
„Nette Toilette“ – na ja!
Nur eine öffentliche Toilette für eine ganze Stadt war und blieb blamabel. Daher wurde in Dorsten nach weiteren Lösungen gesucht. Die Suche dauerte neun Jahre. Unter dem Stichwort „Nette Toilette“ haben im Jahre 2010 vornehmlich Gastronomen der Innenstadt ihre Toiletten auch für Gäste geöffnet, die nichts verzehren. Damit die Passanten das auch wissen, prangte bei diesen Geschäften das Logo „Nette Toilette“ an der Tür. Die Gastronomen und ein Einkaufszentrum, die sich diesem Konzept angeschlossen hatten, erhielten von der Stadt einen monatlichen Reinigungszuschuss. Die Konzeption „Nette Toilette“ selbst ist natürlich auch nicht umsonst. Sie kostet eine einmalige Lizenz-Gebühr von über 1.100 Euro, die die Stadt übernahm – aber nur bis Ende Mai 2012. Denn diese Aktion, von der Stadt Dorsten bei der Einrichtung „Nette Toilette“ als Erfolgsmodell angekündigt, wird nun aus Kostengründen wieder zurückgenommen, obgleich die Resonanz gut war. Fünf gekennzeichnete Lokalitäten in der Innenstadt hatten ihre Toiletten für Notdürftige kostenlos zur Verfügung gestellt und bekamen für Reinigung und Hygienematerial von der Stadt jährlich insgesamt 3.500 Euro. Diesen Betrag spart die Stadt nun ein. In Anbetracht eines Haushaltslochs von 25 Millionen Euro, das in den nächsten Jahren geschlossen werden muss, ein Betrag, über den sich streiten lässt – wie über die Situation der öffentlichen Toilette auch gestritten wird! Doch die Frage, wo Besucher der Innenstadt, vor allem an Markttagen, ein „stilles Örtchen“ finden können, bleibt von den Politikern, die dem zustimmten, wieder mal unbeantwortet. Vor Jahren klagten Innenstadt-Besucher, so die “Dorstener Zeitung”, mit drastischen Worten: „Dass es am Markt und in der Fußgängerzone keine öffentlichen Toiletten gibt, ist total beschissen!“ – Es bleibt abzuwarten, ob in den nächsten neun Jahren eine neue Lösung gefunden wird.
Übrigens wurde bereits 1965 am Busbahnhof (damals an der Vestischen Allee) ein öffentliches transportables Toilettenhäuschen aufgebaut, um den dringenden Bedürfnissen und den Anfragen der Bürger nachzukommen. Es war ausgestattet mit allem damals zur Verfügung stehenden Komfort: Licht, Heizung und Handwaschbecken. 1984 wurde zwar ein moderner Busbahnhof vor dem Zug-Bahnhof gebaut – mit Warte-Unterständen, Kiosk u. a. – aber ohne Toilette.
Ja, und der Bahnhof der Bundesbahn ist ja auch schon lange toilettenfreie Zone. Wenn wir die Zeit um 150 Jahre zurückdrehen könnten, wäre alles kein Problem. Da spielten sich derartige Vorgänge der körperlichen Erleichterung im freien Umfeld ab. Hausecken, Nischen, Einfahrten – überall da, wo der Fluss der Fußgänger nicht gestört wurde, konnte einem dringenden Bedürfnis abgeholfen werden. Es gab sogar einmal den Berufsstand der Toilettenfrauen, welche einen Eimer und einen leichten tragbaren Paravent mit sich führten, um Passanten gegen eine kleine Gebühr sogar eine gewisse Abgeschiedenheit während der Verrichtung boten. Das geht heutzutage nicht mehr, weil unsere Denkweise sich insgesamt geändert hat. Deshalb waren die netten Toiletten ja eine gute Angelegenheit, um auch mal länger in den nur noch teilweise vorhandenen Mauern unserer Stadt zu verweilen. Was passiert denn nun zukünftig bei Stadtfesten, wenn nunmehr nichts mehr geht? Offene Getränke dürfen doch nur ausgeschenkt werden, wenn auch für den zweiten Teil des oben hinein gekippten Getränks gesorgt wird. Hat die Stadt deshalb in weiser Voraussicht schon vor Jahrzehnten auf einen Baumbestand auf dem Markt verzichtet? Denn wo ein Baum …!
Sollten wir unsere Vorgänger-Stadtväter heute deshalb rühmen, wenigstens einmal vorausschauend sich Gedanken gemacht zu haben und die Bäume wegließen? Ich glaube, dass ihnen ein hohes Ansehen im Nachhinein schon gebührt. Aber so hoch nun auch wieder nicht. Deshalb werden wir zukünftig ein Problem haben – ach was: ganz viele Einzelprobleme werden auftauchen. Lieselotte von der Pfalz hatte in ihrer Zeit in Versailles deshalb unter ihrem Reifrock eine leere Flasche getragen. Vielleicht sollte man alte Ideen mal wieder hervor kramen. Denn Versailles und Dorsten haben eine Gemeinsamkeit: In Versailles gab und in Dorsten gibt es keine Toiletten.